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Erste Begegnung

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Papini, der greise und immer noch junge Feuerkopf zuerst einer Renaissance des Klassischen, dann des Christlichen, der Dichter, Denker und Prophet, der nach den Welterfolgen etwa seines Christus- und Dante-Buches erst kürzlich wieder in seinen „Briefen Innozenz’ VI. an die Menschen” mahnend seine Stimme erhoben hat, spricht hier mit der ganzen leidenschaftlichen und ungestümen Jugendlichkeit seines Temperaments von seiner ersten tieferen Begegnung mit dem Christentum.

„Die Furche”

Erlaubt mir, daß ich mit einer Erinnerung beginne. Im Jahre 1905 schrieb ich ein Buch „II crepuscolo dei filosofi” („Die Dämmerung der Philosophen”). Obgleich ich damals erst 24 Jahre zählte, nahm ich mir eine sehr einfache, doch schwierige Sache vor. Ich wollte die Welt für immer von der Philosophie befreien. Giganten des modernen Gedankens, von Kant bis Nietzsche, standen mir gegenüber. Ich Bereitete mich vor, einen nach dem andern dieser großen Denker mit meiner Polemik niederzukämpfen. So. entstand das Buch ,11 crepuscolo dei filosofi”, das von Kant ausging und bei Nietzsche endete, der leider in jenen Jahren den europäischen Geist zu beherrschen begann. Als ich die Werke Nietzsches las, war ich überrascht, beharrlich immer wieder auf die fixe Idee zu stoßen, daß das Christentum im Gegensatz zum Leben stünde. Nietzsche war besessen von dem Gedanken des üppigen Lebens, er erneuerte ihn in verschiedenen Formen; alles, was das Leben begünstigte, war schön.

Das Christentum war somit nach Nietzsche ein Gegner, ein Feind des Lebens. Ich tat nun etwas, was zu dieser Zeit nicht alle Leser Nietzsches getan haben. Ich wollte mich vergewissern und so wandte ich mich an die vier Evangelisten. Ich begann zum erstenmal vollständig das Evangelium zu lesen. So verdanke ich Nietzsche diesen ersten Schritt zu den Evangelisten.

Zu meiner großen Überraschung bemerkte ich, um so mehr als ich damals keineswegs ein glühender Christ war, daß die Behauptungen Nietzsches ohne Grundlage waren, und ich war sehr glücklich, im Kapitel, das ihm gewidmet war, einen Peitschenhieb setzen zu können, um zu beweisen, daß diese, seine verhaltene Abneigung gegen das Christentum falsch war. Damals sah man das Mirakel eines jungen Revolutionärs, der in seinen Blättern über die Philosophie Zitate aus dem Evangelium einschaltete. Wie ihr seht, behielt mich Christus seit meiner frühesten Jugend im Auge. Später, als verschiedenes über die letzten Lebensphasen Nietzsches in die Öffentlichkeit drang und auch Dokumente herausgegeben wurden, erfuhr ich zu meiner großen Verwunderung, daß eine der letzten Botschaften, die er aus Turin sandte und die er schon im Zustande geistiger Verwirrung verfaßt hatte, mit „Dionysos” unterschrieben war und eine andere, am selben Tag verfaßte, mit „Der Gekreuzigte”.

Diese Vereinigung der antiken heidnischen Gottheit, des Gottes der Freude, diese Annäherung der bacchiscben Trunkenheit an Christus, dem Nietzsche, trotz dem gegenteiligen Scheines, immer treu gewesen, weil er eine natürlich christliche Seele war, hat mich trotz allen seinen Reaktionen und allen seinen Verrücktheiten überrascht. Als ich jedoch später in den Evangelien las, merkte ich, daß im Evangelium nicht nur diese beständige Bejahung des Lebens, der Lebensfreude und des Lebensglückes, jenes Suchen nach Gesundheit und Kraft, alles das, was das Leben groß macht, enthalten ist, sondern daß in ihm auch viele Symbole erhalten sind, die es dem nähern, was die Heiden unter dem Namen Dionysos annahmen. Eines der wesentlichen Themen der vier Evangelisten ist das Thema des Festmahls und des Gastmahls. — Christus floh niemals vor den Einladungen, die man ihm machte. Er kam in das Haus von Sündern und Zöllnern und gerne unterhielt er sich bei Tisch’ mit ihnen. Außer dem Thema des Festmahls, das von der Gemeinschaft der Menschen zur Freude erzählt, gibt es ein anderes wesentliches Thema: die Weinrebe, der Wein, der Weinberg. Erinnert euch, daß das erste Wunder Christi, jenes zu Kanaa war, wo er Wasser in Wein verwandelte.

Wir haben auch andere Bilder von Christus aufgenommen. Wie er zu seinen Jüngern sagt: „Ich bin der Weinstock und ihr seid die Reben”, und wie er dem Weine das höchste Privileg gab, sich in sein Blut zu verwandeln. Dieses Thema des Weines, immerzu der Idee des Festmahls und Gastmahls eingeschoben — entgegen jenen, die im Christentum eine Religion der Folter, eine Religion der Verdunkelung, Traurigkeit und Verzweiflung sehen — ergibt eine fast dionysische Färbung. Und damit erklärt sich diese Annäherung an „Dionysos”, diese Lebensbejahung, weil der Wein des Evangeliums nicht der Wein der Sinncn- berauschtheit ist, vielmehr ist es der Wein einer Trunkenheit, einer Annäherung an die übernatürliche Freude, die das letzte Ziel des Christen sein muß.

Zu der steten Bejahung des Lebens, dieses beständigen Verlangens Christi, das Licht dem Blinden wiederzugeben, gibt es eine andere Bejahung im Evangelium des heiligen Matthäus, die sich zu einer wichtigen Betrachtung eignet.

Erinnert euch jenes jungen Mannes, der Christus zu folgen wünschte und daher sagte: „Herr, erlaube mir, daß ich vorher hingehe und meinen Vater begrabe.” Da richtete Jesus jene bekannten Worte an ihn: „Folge mir und lasse die Toten ihre Toten begraben.”

Dieses Gleichnis ist eines der sonderbarsten des Evangeliums, weil die wirklich Toten keine Handlung vollziehen, um .so weniger ihr.e Genossen begraben können. Und in der Tat, die allgemeine Auslegung ist jene, daß man darunter die im geistigen Sinne Toten versteht, das. sind jene, die noch nicht das göttliche, das höhere Leben erlangt haben.

In diesen so sonderbaren Worten steckt jedoch ein Sinn, den nach meiner Meinung wir am besten ergründen können, wenn wir den Gegensatz betrachten. Haben die Toten die Aufgabe, die Toten zu begraben, welches wird dann die Aufgabe der Lebenden sein? — Gewiß, die Aufgabe der Lebenden wird das Gegenteil der Aufgabe der Toten sein. Wenn es nun die Aufgabe der Toten ist, die Toten zu begraben, dann wird die Aufgabe der Lebenden die sein, die Toten wiederzuerwecken.

Besonders jene, welche die Gabe des Wortes und des Apostolats besitzen, haben diese Aufgabe: zu versuchen, Wieder- erwecker der Toten zu sein. Wir denken nicht nur an die Auferstehung des Fleisches, die uns von Gott für das zukünftige Leben verheißen wurde, sondern an die Auferstehung des Geistes in jenen vielen und vielen, welche die Welt durchziehen und die nur dem Scheine nach Lebende, in Wirklichkeit aber Tote sind und die wiederzuerwecken unsere Aufgabe ist. Diesem Werke der Auferstehung habe ich in diesen letzten Jahren meine Kräfte geweiht und ich verspreche euch, Freunde, daß ich in diesem meinem Versuche, die toten Brüder wiederzuerwecken, fortfahren werde, so lange Gott meinen Augen einen Schatten Licht verleiht und so lange mir Gott noch einen Tag des Lichts auf dieser Erde gibt.

(Mit Genehmigung dies Verlages übersetzt aus „La. Rocca” von Paula Topf.)

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