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„Es gibt keine Belgier!“

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Es gibt keine Belgier! Dieser alarmierende Ruf, der fast wie eine Herausforderung an den belgischen Staat und seine Regierung anmutet, wurde in diesen Tagen plötzlich laut in einer Causerie im Holländischen Rundfunk und machte dann die Runde in der gesamten holländischen und belgischen Presse.

Als eine Herausforderung kam die eigenwillige These auch der belgischen Regierung vor, die den Handschuh zwar nicht aufnahm, den kühnen Herausforderer, einen holländischen Sprachgelehrten, vielmehr kurz entschlossen des Landes verwies, nachdem dieser schon in einigen belgischen Städten seine Ansichten über die Verhältnisse im belgischen Staate verkündet hatte, und sich eben anschickte, nunmehr auch in Löwen, dem Zentrum der kulturellen flämisch-wallonischen Auseinandersetzungen und eine Hochburg des belgischen Geisteslebens, die Belgier von ihrer Nichtexistenz in Kenntnis zu setzen.

Der Knüttel im Hühnerstall

Der belgische Justizminister kam ihm mit einem Redeverbot zuvor. Damit aber erregte der Fall allgemeines Aufsehen. War eine derartige Maßnahme schon an und für sich den freiheitsliebenden Belgiern zuwider, geradezu peinlich wurde die Angelegenheit für die Regierung, als Dr. Paarde-kooper — so hieß der Übeltäter — erklärte, den anrüchigen Satz habe nicht er selbst geprägt, er sei vielmehr einem Briefe des bekannten wallonischen Staatsmannes und Exministers Jules Destree entnommen, den dieser gelegentlich dem König geschrieben habe. Wörtlich lautete es da: “Sire, il n'y a pas de Beiges, il n'y a que des Walions et des Flamands.“ Es mag sein, daß dieses Zitat auf französisch viel harmloser klingt als aus niederländischem Munde, jedenfalls hat man damals wenig Aufhebens davon gemacht. Wie dem auch sei, der Knüttel wurde unversehens in den Hühnerstall geworfen, wie der Harne zu sagen pflegt, und das leicht erregbare Hühnervolk war wieder einmal aufgescheucht worden. Die gereizten Flaminganten interpellierten im Parlament und forderten die Säuberung der Lö-wenschen Universität von franskiljoni-schen Elementen, Heißsporne forderten gar die Abschaffung der französischen Fakultäten und noch einiges mehr.

Übrigens hatte die belgische Behörde gänzlich übersehen, daß ein Redeverbot in unserer Zeit das beabsichtigte Ziel verfehlen mußte. Die Flamen brauchten ihre Rundfunkgeräte nur auf Hilversum einzuschalten, und schon hörten sie, was ihnen zu hören verpönt war. Sie fuhren in Omnibussen nach Niederländisch-Brabant, wo in Grenzortschaften Herr Dr. Paarde-kooper ihnen mit seinen Ausführungen freundlichst aufwartete. Und die Presse besorgte den Rest. Die Rede erwies sich außerdem als viel weniger sensationell und staatsgefährlich, als dem Krawall nach allgemein angenommen wurde. Der Streit scheint damit aber in voller Stärke entbrannt, die Flamen besinnen sich auf ihre bewegte Geschichte, das Schicksal der flämischen Bewegung ist heute wieder ein vieldiskutiertes Thema im belgischen öffentlichen Leben.

Das „Wirtschaftswunder“ begann 1302

Nach der ruhmreichen Schlacht der Goldenen Sporen im Jahre 1302. als seine Bürger und Bauern das französische Heer vernichtend schlugen und viertausend Sporen mitsamt den Rittern auf dem Anger bei Kortrijk verstreut lagen, begann für Handern das goldene Zeitalter. Mit dem Glanz der Sporen war gleichzeitig die Gewalt des französischen Adels über Flanderns Städte erloschen, deren Wirtschaft nunmehr mächtig aufblühte. Der Gewerbefleiß, die Tuch- und Spitzenindustrie des sagenhaften Städtebundes Gent-Brügge-Ipern erlangten Weltruf, seine Schijfe fcefuhren alle Meere, als eine Großmacht schloß der Dreierbund Verträge ab mit den Fürsten und Reichen dieser Welt. Die altflämische Malerei und Baukunst zeugt noch heute von Flanderns großer Vergangenheit.

Die mittelalterlichen Wirtschaftswunderkinder jedoch waren der Wohlfahrt und dem Reichtum nicht gewachsen. Teniers, Brouwers und andere Künstler zeigen in ihren Gemälden die Flamen als ein Volk von Fressern und Schlemmern, die üppige „Bauernkirmes“ von Pieter Breughel deutet ein kundiger Kritiker als „das berühmte Bild dieses ruhmlosen Rückzuges in Küche und Keller“. Und das „Gleichnis von den Blinden“ desselben Malers sagt den unvermeidlichen Untergang voraus.

Bereits im 15. und 16. Jahrhundert setzt im niederländischen Kulturleben ein Verfall ein, gefördert durch eine nach dem Ausland orientierte Elite und gewisse Regierungskreise. Die Nord-Niederlande können der fremden Einflüsse bald wieder Herr werden, Flandern aber, dem der Norden kulturell manches verdankte, büßte sein Eigenleben mehr und mehr ein. Die Tragödie des flämischen Volkes beginnt. Die zwanzig Jahre anhaltende französische Besatzung während der Französischen Revolution und der napoleonischen Zeit hat zuletzt von Flanderns einstigem Ruhm nur einen kümmerlichen Rest übriggelassen. Die Episode der Vereinten Niederlande (1814 bis 1830) vermochte die Bestrebungen der Aristokratie, den kulturellen Verfall und die Zentralisations-politik nur vorübergehend zu steuern. Flandern blieb ein rückständiges und verarmtes, ein verachtetes Land.

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