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Ferdinand Habel

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Es mag nun wohl mehr als fünfzig Jahre her sein, daß zu meinem Vater, der damals gerade die Wiener Universität bezogen hatte, einer seiner Freunde gesprächsweise sagte: „Weißt du, wie weit ichs bringen möchte? Zum Domkapellmeister von Sankt Stephan! Dann hätte ich' mein Lebensziel erreicht!“ Der Sprecher war ein junger Mensch, war zum Studium der Musik aus seiner sudetenländischen Heimat nach Wien ge-. kommen und hieß Ferdinand Habel.

Als ungefähr ein Vierteljahrhundert später der Wiener Domkapellmeister August Weirich starb und die Frage der Nachfolgerschaft sich stellte, war s''e auch schon gelöst: unter allen Kandidaten, so ernsthaft sie sonst wohl zu erv/ägen gewesen wären, fiel die Wahl wie von selber einem einzigen zu: der durch mustergültige kirchenmusikalische Aufführungen in der Wiener Dominikanerkirche einen hervorragenden Befähigungsnachweis für sein neues Amt erbracht und überdies sich in dem von ihm gegründeten Sängerbund „Dreizehnlinden“ einen großen gemisditen Chor von höchster Vollkommenheit herangezogen hatte.

Und heute, nach abermals fünfundzwanzig Jahren, steht der Professor der Weener Musikakademie und mit dem Titel eines Hofrats Ausgezeichnete noch immer an der Spitze der Domkapelle — jetzt freilich nicht mehr in den geheimnisvoll dämmernden Hallen des Domes seines Amtes waltend, sondern in der Kirche am Hof, bemüht, eine große Tradition hinüberzuretten in die Zeit, wo hoffentlich wieder über aufstrebenden Säulen und Gewölben das steile Domdach gegen den Himmel steigen wird.

Habel war ursprünglich Anhänger der unter dem Namen „Cäcilianismus“ bekannten Richtung der Kirchenmusik, und wenn er durchaus sich nicht allen Einwänden verschloß, die man dieser Bewegung machen zu können vermeinte, so hat er doch ihre Verdienste im Kampf gegen die eingerissene Verschlampung und seichte Verniedlichung der gottesdienstlichen Musik von Anfang an anerkannt und war ein wackerer Streiter in ihren Reihen. So zeichneten sich seine Aufführungen in der Dominikanerkirche nidit nur durch sorgfältigste Vorbereitung selbst an gewöhnlichen Sonntagen, sondern auch durch beispielhafte liturgische Korrektheit aus. Die Berufung an den Dom änderte den Rahmen und die Möglichkeiten seines Wirkens, aber nichts an den Grundsätzen. Im Dom der Stadt Mozarts, Haydns, Schuberts, Bruckners war die sorgfältige Pflege ihrer feierlichen Messen selbstverständliches Gebot und hier vor allem war durch andauerndes Beispiel zu zeigen, daß die Worte des Psalms: „Lobet den Herrn mit Posaunen und Pauken!“ ganz buchstäblich genommen werden können. Ja, Habel hat es sogar als erster gewagt, das äußerlich und inhaltlich alle Maße sprengende Riesenwerk der Missa solemnis zum Gottesdienst aufzuführen, und der Versuch gelang so gut, daß er mehrfach wiederholt wurde. Fast kein bedeutendes Werk der Meßliteratur gibt es, das nicht in diesen 25 Jahren hier erklang; nicht wenige Werke werden wohl nur im Dom aufgeführt. Wo hört man zum Beispiel sonst noch Mozarts herrliche Vespergesänge? Daneben kamen auch die alten Meister, Pale-strina vorab, zu Wort, und wo Habel unter den Zeitgenossen ein Talent ersah, fand es in ihm einen hingebungsvollen Förderer.

Seine unablässige Bemühung, die Pflege der Wiener klassischen Schule mit liturgischen Anforderungen zu vereinigen, führte ihn zu einer Aufgabe, an der schon manche vor ihm gescheitert sind: die „Bearbeitung“ und Einrichtung dieser Klassiker für den gottes-dienstlidien Gebrauch. Nur einem, der liturgisches Verständnis mit größter Einfühlungsgabe und selbstlosem Dienst am Werk vereint wie Habel, konnte solch eine schlechthin vollkommene Leistung gelingen. Es sei hier nur an das Beispiel der Schubert-Messe in C-Dur erinnert, deren Textbehandlung im Original — wie das auch bei den anderen Messen Schuberts der Fall ist — ziemliche Mängel hat: neben sinnstörenden Auslassungen stehen ganz überflüssige Textwiederholungen und dergleichen. Habels Bearbeitung schafft hier Abhilfe; aber auch der pietätvollste Schubert-Verehrer wird dabei nicht den geringsten Stilbruch finden können. Nichts fehlt und keine Note ist dazugetan, das architektonische Gleichgewicht der Sätze bis ins Kleinste gewahrt — derselbe Schubert, wie wir ihn seit je lieben, aber nunmehr textlich völlig einwandfrei.

Daneben ging ein reiches pädagogisches Wirken an der Musikakademie einher, daneben aber noch die Chormeistertätigkeit beim Sängerbund „Dreizehnlinden“, seinem eigentlichen Lieblingskind. Mit wenigen Gleichgesinnten hatte Habel vor der Jahrhundertwende einen Männerchor ins Leben gerufen, dem sich bald auch die Frauenstimmen zugesellten. In kleinsten Maßen beginnend, zog er in unablässiger Probenarbeit und mit sich nie genügender Selbstkritik einen Klangkörper heran, der von Jahr zu Jahr mehr im Getriebe des Wiener Kunst-lebens aufhorchen ließ. Hier war nicht nur technische Präzision im höchsten Ausmaß erreicht, bei allen Aufführungen des Sängerbundes „Dreizehnlinden“ war ein Unterton hörbar, den man im sonstigen, vielfadi kommerziell überdeckten Wiener Konzertbetrieb vergeblich suchte: das war kein Chor wie andere Chöre auch, eine Summe von Sängern, das war eine geistige Einheit, auf der gemeinsamen Basis christlicher Weltanschauung fußend und den großartigen Emanationen christlich-abendländischer Musikschöpfung — von der Matthäus-Passion bis zur „Schöpfung“, vom Lisztsdhen. „Christus“ bis zum Bruckner-Tedeum — unter ganz anderen Voraussetzungen zu dienen fähig. Wenn der Sängerbund auch immer mehr von zahlreichen Dirigenten internationaler Bedeutung zu Mitwirkungen herangezogen wurde, seine zentrale Kraft, sein mahnend Gewissen ist Ferdinand Habel geblieben. Als in den ersten Jahren des zwölfjährigen Reiches Bruckners Büste in der Regensburger Walhalla aufgestellt wurde und der Propagandaminister, der es wissen mußte, dabei entschuldigend erklärte, Bruckner hätte wohl „einiges Katholische“ komponiert, doch sein letztes Wort seien die Symphonien und die seien geradezu Vorahnung von NS-Geistig-keit — da führte Habel in einem prachtvollen Zyklus alle geistlichen Werke des Meisters von St. Florian auf, die Messen, die Motetten, das Tedeum: „Die einzige Antwort, die dem Kerl gebührt!“, wie er meinte.

Dann brachen mit dem Jahr 1938 die Ereignisse mit wahrhaft elementarer Gewalt in sein Leben ein. Der Sängerbund „Dreizehnlinden“, an den er seine beste Kraft gewendet hatte, fiel dem braunen Ungeist zum Opfer. Sein einziger Sohn starb qualvoll im Konzentrationslager von Mauthausen. Seine

Wohnung wurde ausgebombt, Hausrat, Noten, Instrumente zerstört. Das Dom-musikardiiv, von ihm in mustergültige Ordnung gebracht und sorgfältig katalogisiert, ging mit allen Erstdrucken und unersetzlichen Manuskripten in Flammen auf. Der Dom brannte aus. Wenn ein Leben in äußerem Erfolg sich erschöpfen, im Erreichen materieller Ziele sich genügen würde, die Katastrophe einer menschlichen Existenz könnte drastischer kaum dargetan werden. Aber der mehr als Siebzigjährige zwang sich nun noch einmal eine gewaltige Arbeitsleistung ab: mit handgeschriebenen — vielfach aus dem Gedächtnis niedergeschriebenen! — Noten, mit ausgeliehenen Instrumenten ging er daran, in der Kirche am Hof die Dommusikkapelle vorübergehend einzurichten — wir haben schon davon gesprochen.

Der Dirigentenstab mag der alten Hand manchmal schon schwer werden. Manche Wunde der letzten Jahre wird für immer tiefe Narben hinterlassen. Wir möchten aber zum 25-Jahr-Jubiläum als Domkapellmeister wünschen, daß es ihm vergönnt sei, im Dom von St. Stephan, seiner eigentlichen Wirkungsstätte, noch einmal die große Orgel brausen zu hören, noch einmal ein festliches Hochamt mitfeiern zu dürfen. Dies wäre die klingende Bestätigung dafür, daß Ferdinand Habel redlicher Verwalter und Mehrer einer großen Erbschaft ist.

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