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Fünfzig Jahre Sowjetunion

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Um gerecht zu sein, müssen wir neben der fehlenden Industrialisierung und dem fehlenden Proletariat noch einen dritten, entscheidend wichtigen Punkt erwähnen, in dem die Revolution sich im Widerspruch zur Theorie von Marx — und diesmal auch zu derjenigen von Lenin — entwickelte, was die Aufgabe der Sowjetführer zusätzlich gewaltig erschwerte: Marx und Lenin konnten sich die Revolution nur als Welt-revolution vorstellen und einer Revolution, die auf ein einziges Land beschränkt blieb, gaben sie keine Chance.

Die Weltrevolutian kam nicht. Anstatt daß Deutschland mit einer eigenen Revolution die russische unterstützte, begannen die deutschen Armeen — in offener Verletzung des mit den Sowjets abgeschlossenen Friedensvertrages von Brest-Litowsk — den gesamten Westen und Süden Rußlands, vor allem die fruchtbare Ukraine, zu besetzen. Daß sich die Bolschewismen, eine Minderheit im Lande, trotzdem zu behaupten vermochten, ist beinahe ein Wunder. Es ist letztlich nur darauf zurückzuführen, daß ihre innenpolitischen Gegner heillos zersplittert und beim Volke dank ihrer sozial-politischen Vergangenheit völlig diskreditiert waren, die Bolschewisten hingegen über einen unbedingten Glauben, einen eisernen Willen und ein Zukunftsprogramm im Dienste des Volkes verfügten.

Daß Lenin und Trotzki in diesen turbulenten Zeiten nicht daran dachten, Rosa Luxemburgs Demokratie in der Diktatur einzuführen, kann man verstehen. Aber mit der Beendigung des Bürgerkrieges im Innern und der militärischen Intervention von außen — also mit' dem Jahre 1920 — war die Revolution an einem Wendepunkt angelangt. Die Bolschewisten waren nun Herren der Lage. Nun hätten ihre Führer, wären sie wirklich von demokratischem Geiste inspiriert gewesen, versuchen können, dem Volke ein gewisses demokratisches Mitspracherecht einzuräumen und die Partei innerlich zu demokratisieren. Dies um so mehr, als ihre eigene Gefolgschaft zum Teil eine solche Demokratisierung verlangte.

Da ist der berühmte Aufstand der Matrosen von Kronstadt zu erwähnen. Im Februar 1922 verabschiedete

die Kommunistische Konferenz der Baltischen Flotte eine Resolution, in der es heißt: „Die Parteiorganisation hat sich von den Massen entfernt. Sie entspricht nicht mehr dem Willen der aktiven Mitglieder. Sie ist zu einem bürokratischen Instrument

geworden... Wir verlangen, daß die Parteiorganisation ihre Prinzipien ändert. Wir verlangen, daß sie sich grundlegend demokratisiert.“ Im März 1922 stieß die Kronstädter „Izvestija“ in die Fanfare der Dritten Revolution: „Kronstadt hat ein Beispiel gegeben. Es ist zum Schrecken der Gegenrevolution von rechts und von links geworden. Was hier begonnen hat, ist eine Revolution. Gegen die dreijährige Tyrannei und Unterdrückung der kommunistischen Autokratie, die den 300jähri-gen Despotismus des Zarentums in den Schatten gestellt hat, haben wir uns erhoben. Hier in Kronstadt wurde die Dritte Revolution begonnen. Sie wird die Befreiung der Arbeiter vollenden und einem schöpferischen Sozialismus den Weg bahnen ...“ Das tönt unheimlich modern. So ungefähr reden heute marxistische Revisionisten.

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