6596365-1953_09_04.jpg
Digital In Arbeit

Gärendes Marokko

Werbung
Werbung
Werbung

Marokko, Algerien, Tunis, Aegypten — überall Gärung, Aufruhr, Widerstand gegen die Schutzmächte und Protektorate, gegen die „weißen Eindringlinge“. Wer diese Länder bereist hat, kennt auch die Not der breiten Massen ihrer Bevölkerung, deren Lebenshaltung weiter hinter jener der vergleichbaren Schichten Europas zurückbleibt. Die weite Verbreitung der Tuberkulose, der Augenerkrankungen, der Geschlechtskrankheiten sowie der Prostitution sind Symptome dieser Armut. Neben erschütternder Not entfaltet sich Reichtum ohne Uebergang. Durch die zahlreichen Luxusautos der Fremden und ihre auf den Hotelterrassen offen gezeigte Sorglosigkeit wird im Einheimischen der Wunsch rege, sich selbst in den Besitz dieser Reichtümer zu setzen. Das Kino, das in seinen packenden Märchen vorwiegend ein unwirkliches Dasein 2eigt, stachelt die leicht erregbare Phantasie auf. Von der harten Arbeit der weißen Rasse und ihrem nervenzermürbendem Tempo ahnt der zu Träumereien neigende Orientale nichts. Diese Bevölkerung unterliegt überdies leicht der politischen Verführung.

Die Länder Nordafrikas haben, geführt von einer Schutzmacht, rasche Fortschritte in der Zivilisation gemacht. Da Marokko den Reigen der Unzufriedenen eröffnet hat, seien einige Bemerkungen über dieses 398.627 Quadratkilometer mit achteinhalb Millionen Einwohnern umfassende, am Mittelländischen Meere und Atlantischen Ozean verkehrstechnisch günstig gelegene Land gemacht, wobei auf den seit 1907 von den Franzosen in harten Kämpfen besetzten, weitaus größten Teil des Landes bezug genommen wird.

Vor der Besetzung gab es keine einzige Fahrstraße, heute bestehen 5500 Kilometer zehn Meter breite Reichsstraßen mit drei Ueberquerungen des Hohen Atlas auf eindrucksvollen Paßstraßen, 4000 Kilometer acht Meter breite Landstraßen und ein nach vielen tausenden Kilometer zählendes Netz noch nicht regelmäßig erhaltener Nebenstraßen. Dieses Straßennetz erlaubt dem Fremdenverkehr bis in die entlegensten Winkel in voller Sicherheit vorzudringen. Gleichfalls ab 1907 entstand ein vollspuriges Eisenbahnnetz von 1700 Kilometer Länge, auf dem größtenteils elektrische Züge mit modernen Wagen einen schnellen Verkehr zwischen Algerien, Fez, Meknes, Rabat, Casablanca, Tanger und Marrakesch vermitteln. Dazu kommt ein regelmäßiger Schifffahrtdienst zu acht am Atlantik gelegenen Häfen und ein gut entwickelter Flugverkehr, der besonders von Paris ausgeht. Die viermotorigen, großräumigen Flugzeuge der „Air France“ überfliegen das 800 Kilometer breite Mittelmeer in zwei Stunden.

Kein Einsichtiger wird glauben, daß Casablanca, der Haupthafen am Atlantik, ohne die tatkräftige Mitwirkung der Schutzmacht von 25.000 Einwohnern im Jahre 1907 auf gegenwärtig 550.000 emporgeschnellt wäre. Dieser Aufstieg zur Handelsmetropole stellt selbst amerikanische Vorbilder in den Schatten. Casa ist ein moderner Hafen von sechs Millionen Tonnen Jahresumschlag, mit allen Einrichtungen für die Großschiffahrt geworden. Andere Hafenstädte, wie Mogador und Rabat und Binnenstädte, wie Fez und Marrakesch haben rasch bedeutende europäische Viertel angesetzt, die sich sehen lassen können.

Es muß als eine der größten Leistungen des Marschalls L y a u t e y bezeichnet werden, daß er es verstand, die Europäerstadt stets abseits der zu schonenden Eingeborenenstadt so anzuordnen, daß die Entwicklung des Neuen nach heutigen städtebaulichen Gesichtspunkten möglich war, ohne daß die einheitlich gewachsene, fesselnde und erhaltungswürdige Altstadt zerstört oder aufgesogen würde. Dem Land ist damit in zweifacher Art gedient worden: Das Neue, insbesondere die staatlichen Verwaltungsgebäude, Postgebäude, Banken, Bahnhöfe usw. wurden von den jungen französischen Architekten im geschickt weiterentwickelten maurischen Baustil in Anlehnung an die bodenständigen alten Architekturformen geschaffen, wodurch vermieden wurde, das wilde Durcheinander alter ausgereifter und neuer unreifer, hastig entstandener Architekturformen europäischer Großstädte im brutalen Gegensatz nebeneinander zu stellen. Weiter wurde erreicht, daß der Schatz an Romantik, den die Städte Marokkos in ihren mittelalterlichen Stadtmauern und Türmen, Stadttoren, Brunnen, Gärten, Moscheen, Museen, Palästen und in ihren zauberhaften Bazarstraßen und Gassen, Plätzen und Märkten für den europäischen Besucher bergen, unverletzt bewahrt und das Land hierdurch zu einem Mekka des Fremdenverkehrs wird.

Ein Emporschnellen der Einwohnerzahl von 25.000 auf 550.000 innerhalb einiger Jahrzehnte kann nicht ohne Schattenseiten bleiben. Diese bestehen für Casablanca darin, daß sich die auf Ertrag abgestellte Privatbautätigkeit nur für lohnende Bauaufgaben interessiert, nicht aber für die Unterbringung der armen zugewanderten Landarbeiter, die nun in der Stadt ihr Brot im dürftigen Taglohn suchen müssen. Die große Stadt erscheint dem armen Bauern als letzte Rettung, wenn er das Land verlassen muß, weil die Dürre ihn mit Hunger bedroht. In Marokko sind die Niederschläge häufig recht ungünstig verteilt und Mißernten nicht selten.

So entstanden um Casablanca mehrere Elendss:»dlungen, „bidonvilles“, wie man sie in Wien nach dem ersten Weltkrieg im „Bretteldorf“ kennen lernte, nur daß in Casa der ■wesentliche Baustoff nicht aus Brettern, sondern Blechabfällen besteht. Die Ansiedlung einer halben Million verarmter Leute am Rande der Großstadt schafft für alle Beteiligten Probleme, deren schrittweise Lösung nur mit viel Verständnis und gutem Willen möglich ist. Im nördlichen Afrika folgt ebenso ■wie in China der Regenarmut fast regelmäßig Hungersnot, und es wäre unbillig, von der Schutzmacht bei der Beseitigung der Folgen Wunder zu verlangen.

Noch bietet die Industrie Marokkos kein ausgleichendes Volkseinkommen zur Zeit von Krisen der Landwirtschaft. Diese Industrie ist jung-und einseitig (Phosphate, Eisen, Mangan, Bleierze, Häute, Wolle). Damit sei angedeutet, daß die Wirtschaft nicht ausgeglichen ist und daher der Anlehnung an ein größeres, kräftigeres Wirtschaftsgebiet bedarf, wie es ihm zur Zeit die Schutzmacht bietet. Die landwirtschaftlichen Erzeugnisse Marokkos sind ziemlich die gleichen wie Frankreichs, Wein, Oel, alle Ackerfrüchte, Vieh. Dadurch und durch den Umstand, daß die marokkanische Arbeit wegen äußerst niedriger Löhne billiger als jene in Frankreich ist, ergeben sich auch Interessengegensätze und müssen Grenzen aufrecht erhalten werden. Der französische Arbeiter in Marokko besetzt nur höher entlohnte Arbeitsposten.

Mit viel Berechtigung und immer lauter wird ein von Zoll- und Devisengrenzen befreites einheitliches europäisches Wirtschaftsgebiet gefordert; in einem solchen fänden auch die überschüssigen Güter Marokkos und der anderen nordafrikanischen Länder Absatz und ihre Menschen zusätzliche Beschäftigung. Als Vorbild mag auf die untereinander so verschiedenen 48 Staaten der USA verwiesen werden, die einander verständnisvoll ergänzen und dadurch das stärkste Wirtschaftspotential der Welt ergeben.

Marokko hat eine interessante Vergangenheit und kulturelle Leistungen aufzuweisen. Die Denkmäler seiner ausgereiften Baukunst reichen von Cordoba bis in die Sahara. Fez ist der Sitz hoher religiöser Gelehrsamkeit. Die handwerklichen Leistungen sind hervorragend, die Arbeitsmethoden jedoch mittelalterlich. Die sozialen Einrichtungen und die Rechtspflege entsprechen nicht europäischen Begriffen. Im Verkehrswesen hat die Schutzmacht die einstige Rückständigkeit beseitigt.

Denkt man sich nach dem Wunsch der Nationalisten Marokko völlig autonom, so müßte man schwere Krisen für das Land besorgen. Alle modernen Einrichtungen, wie der Eisenbahn-, Straßen-, Flug-, Schiffs- und Fostverkehr, setzen einen großen kostspieligen Apparat voraus, dessen Einrichtungen nicht nur erhalten, sondern ununterbrochen fortentwickelt werden müssen. Wo sollen die Summen dafür herkommen in einem Lande, dessen Nationaleinkommen — aus der Landwirtschaft! — so sehr von den „Launen“ der Natur und Witterung abhängt?

Im Hinblick auf die Eigenart des Landes und seiner Bevölkerung müßte man bangen, ob ein plötzlich unabhängig gewordenes Marokko seine unter der Schutzmacht so rasch erklommenen Fortschritte aus mittelalterlichen Zuständen in moderne Verhältnisse aufrechterhalten könnte. Der Wettkampf der Nationen der Welt ist hart geworden. Es bleibt kein Raum für orientalische Beschaulichkeit. Man möchte den Führern der Länder Nordafrikas weise Einsicht wünschen und die Erkenntnis, daß aus dem vernünftigen Zusammengehen mit starken Nachbarvölkern und mit dem Blick auf ein Vereinigtes Europa als Zielpunkt, größerer Segen für sie erwachsen muß.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung