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Genius loci

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Alle Wiener sind stolz auf St. Stephan. Und dies nicht nur aus lokalpatriotischer Ueber- schätzung. Denn der ebenso großartig veran-- lagte wie graziöse Turm ist eine einmalige Leistung in der ganzen Welt. Nur wenige aber wissen, wem sie es zu verdanken haben, daß er so werden konnte, wie er heute ist. Er war nach der Planung des Meisters Michel bereits hoch hinausgeführt, als dieser, nunmehr „der Herzoge Baumeister“ Wien verließ und damit auch die Bauführung von St. Stephan und der Kirche Maria Stiegen aufgab. Die Wiener Bürgerschaft berief Mitglieder der hochberühmten Parier Familie als Nachfolger. 1407 erfolgte nun eine Beschau seitens des Gemeinderates und man faßte den Beschluß, trotz der hohen Kosten den Turm wieder abtrageri zu lassen, „bis dahin, wo der Erste aufgehört hatte zu bauen“. Der Grund dafür war nicht Unfähigkeit oder Nachlässigkeit der damaligen Baumeister. Werden sie doch noch später als „viri in hac arte periti et famosi“ bezeichnet, sie wurden auch nicht ihres Amtes enthoben. Aber die Wiener Baukommission sah in den inzwischen durchgeführten Veränderungen vielleicht unbewußt eine Gefährdung dessen, was dem Wesen des Wienertums im ersten Entwurf besonders entsprach. An diesen hatten sich nun alle folgenden Dombaumeister genau zu halten. Wir haben also in der Geschichte des Südturmes von St. Stephan das geschichtlich bedeutsamste Beispiel vom Einfluß des Genius loci auf eine große Bauaufgabe. Das wundervolle- Aufstreben, vom Grund an sichtbar, bis zu seinem Aufblühen in der Kreuzrose ist ein unnachahmliches Zusammenspiel von zierlichsten Formen und einer Festigkeit, die viele einschlagende Granaten nicht erschüttern konnten. Dieses Vereinen scheinbar widerstrebender Ele mente ist so recht ein Symbol des Wienertums, das auf den ersten Anschein so elegant elastisch ist, daß ihm der Vorwurf geringer Charakterfestigkeit nicht immer erspart blieb, das aber doch in schwersten Schicksalstagen durch eine ungewöhnliche Standfestigkeit die Bewunderung der ganzen Welt erzwingt.

Auch der so universell geschulte Bernhard Fischer von Erlach konnte seine Karlskirche, die ohne eigentliches Vorbild entstand und ohne Nachfolge blieb, nur auf Wiener Boden, in der Kaiserstadt, im Zentrum der habsburgischen Machtstellung, erbauen.

Nicht in jedem Falle ist das Einwirken des Genius loci bei künstlerischen Unternehmungen so deutlich ersichtlich, aber es ist in irgendeinem Grade fast immer da. Die Auffassung von der Tyrannei der Milieutheorie, nach der u. a. auch der Boden eine zwingende Macht darstellt, ist allerdings mit der ganzen materialistischen Weltanschauung restlos zusammengebrochen. Für die Geschichte der Menschheit sind eben nicht rein naturgegebene Grundsätze bestimmend mit Ausschluß der menschlichen Schöpferkraft. Man darf immerhin nicht in das Gegenteil verfallen und den Menschen vergotten, als ob er gänzlich unberührt vom Um und Auf seines Wirkens nur seiner schaffenden Persönlichkeit verpflichtet wäre. Im Verlauf der mehrtausendjährigen Baugeschichte hat überall der Genius loci bei ganz großen Leistungen, wie bei den armseligsten Bauhütten mitgesprochen. Selbst innerhalb derselben Stilperiode wahren die einzelnen Länder und Völker ihre eigene Physiognomie. Die Gesamtschau der Gotik zum Beispiel hat Kultbauten hervorgebracht, die so verschieden sind wie französische Kathedralen, der Stephansdom oder jener von Mailand, wobei der relativ ge-

ringe Zeitunterschied nicht allein maßgebend ist. Freilich wurden solche Unterschiede in früheren Zeiten deutlicher bemerkbar als heutzutage. Denn der durch die modernen Verkehrsmittel arg zusammengeschrumpfte Erdball macht seine Bewohner immer uniformer, in rein technischen und wirtschaftlichen Belangen in einer bisher nicht einmal zu ahnenden Weise. Auch auf künstlerischem Gebiet vollzieht sich der Ideen , ja selbst Künstleraustausch über weitest entfernte Länder unheimlich rasch und lückenlos. Besonders deutlich wird dies im Profanbau. Man spricht aber gelegentlich sogar auch von einer internationalen Gleichschaltung des Kirchenbaues. In den rein technischen Belangen ist dies in hohem Ausmaße richtig. Gegen die Einführung neuer Baustoffe und Konstruktionsmethoden ist keine Landesgrenze völlig abgedichtet.

Unser Oesterreich ist nun etwa wie Griechenland ein geographisch sehr differenziertes Gebilde. Alpenlandschaft, Donauraum, böhmisches Massiv, große Ebene, alle haben ihren eigenen landschaftlichen Charakter und ihre eigenen Lebensverhältnisse, somit auch sehr verschiedene Formen des Kultbaues. Der Genius loci verlangt besonders stark sein Anrecht. Damit soll nicht einer oft recht oberflächlichen und kleinlichen Heimatkunst ein bevormundendes Wort gesprochen sein. Der große Künstler schließt unbewußt jene Eigenschaften in sein Werk ein, die sich nachher als heimatliche Klänge aus seiner Schöpfung herauslesen lassen. Gerade die neueste Zeit, die alljährlich Kirchen in großer Anzahl und Mannigfaltigkeit entstehen läßt, gibt der österreichischen Kunst, zumal der Kirchenkunst, besondere Wirkkraft. „Nun, da die heroische Phase in der Entwicklung der modernen Kunst zum Abschluß gekommen ist und einer ruhigeren, nachrevolutionären Kunst Platz gemacht hat, vermag Oesterreich (Neue Malerei in Oesterreich, von Gerhard Schmidt), das seinem ganzen Volkscharakter nach Extremen im allgemeinen abhold ist, zur abendländischen Kunst der Gegenwart nicht unerheblich beizutragen. Von Wiener Architekten, die nach 1945 größere Bauaufgaben auszuführen hatten, seien genannt: Altmeister Karl Holey, der noch in seinen letzten Dorfkirchen z. B. in Rust seine besondere Einfühlungsgabe in ländliche Umgebung unter Beweis stellte. Der mutige Bahnbrecher für moderne Kirchenbaukunst in Wien, Clemens Holzmeister, wird im Ausbau der Gloggnitzer Kirche, soweit aus vorliegenden Entwürfen zu ersehen, neue Baugedanken in abgeklärter Formensprache zu verwirklichen wissen. Robert Kramreiter, der in Liesing eine höchst originelle, aber keineswegs volksfremde Lösung fand, ist in seiner groß angelegten Don-Bosco-Kirche daran, die repräsentativste Schöpfung dieser Kunstgattung mit Verwendung neuester Baustoffe und Konstruktionen im Wiener Stadtbild zu erstellen. Eine Lourdeskirche in Wien ist im Bau, und ein Projekt im Salzburgischen ist in Planung begriffen. Was die Don-Bosco-Kirche für Wien, ist die Fatima- kirche im Münzgraben für Graz. Ihr Erbauer, Georg Lippert, hat es verstanden, den schwierigen Fall einer Kombination von Dominikanerkloster und eines Gotteshauses, das in einem Pfarr-, Kloster- und Wallfahrtskirche sein soll, zu lösen. Hans Petermair hat in Wimpassing eine einfache, aber sehr ansprechende Kirche gebaut, jene für Greifenstein soll noch heuer im Rohbau fertig werden. Einen sehr klaren Raumtyp gibt' die Namen-Jesu-Kirche bei der Philadelphiabrücke von Josef Vyti s k a. Dessen Kirche in Guntramsdorf verrät den gleich sorgsam disponierenden Baugeist. Josef Friedl hat seinen Neubau in Eichgraben mit Geschick der Wienerwaldlandschaft angepaßt, ebenso Ladislaus H r u s k a seine Kirche auf dem Wolfersberg der umliegenden Siedlung. Mehrere Projekte desselben Meisters, vor allem seine Großanlage für die Kapuziner im Gatterhölzl gehen ihrer Vollendung entgegen. Für die mächtige Anlage in Neumargareten will die Architektin Helene Koller-Buchwieser nicht voll verantwortlich zeichnen, da sie genötigt war, eine Kompromißlösung hinzunehmen und der vorgesehene Turm noch fehlt. Sehr gefällig und wohl- räumig ist dagegen ihre Kirche in Kittsee geworden. Eine hochbedeutsame Leistung schufen Karl Weber und Karl Lebwohl in ihrer Stahlkirche für die Arbeiterschaft in Donawitz. Kühn und eigenartig in ihrer Raumform und Konstruktion weiß sie doch den liturgischen Bedürfnissen restlos zu genügen. Ein Versuch, der zur allseits befriedigenden Vollendung wurde. In Eisenstadt, Burgenland, wußte Martha Reithstätter-Boll- d o r f die alte Pfarrkirche mit viel Takt und Verständnis in eine Bischofskirche umzugestalten. Sehr eifrig und gut beraten ist die Kirchenbautätigkeit in der Diözese St. Pölten. In Urfahr-Linz wurde die von Behrens-Popp begonnene Friedenskirche, allerdings mit Veränderungen von Hans Foschum, zu Ende geführt. In der Stadt Salzburg, Pfarre St. Elisabeth, erstand ein Bau des italienischen Architekten G h e 11 i. In Tirol wurde auch neuestens wieder Holzmeister gerufen. Zum Beispiel nach Erpfendorf. Ein Projekt, das die weiteste Oeffentlichkeit zur Stellungnahme auffordern dürfte, verspricht die neue St.-Florian-Kirche auf der Wieden zu werden, für die bekannteste Architekten des In- und Auslandes zur Konkurrenz geladen sind. Hinter den bewährten Kräften drängt stürmisch eine Phalanx von jungen Architekten nach, die sich immer nachdrücklicher bemerkbar machen werden. Inwieweit und in welcher Weise bei allen diesen Unternehmungen der Genius loci spürbar sein wird, können erst spätere Generationen aus der vergleichenden Zeitperspektive richtig beurteilen.

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