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Goldregen über Venezuela

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Ausländische Journalisten, die Venezuela besuchen, halten sich meist nur kurz in Caracas auf und machen vielleicht gerade noch einen raschen Abstecher zur Oelstadt Maracaibo. Während meines sechsmonatigen Aufenthaltes in Caracas hatte ich jedoch Gelegenheit, auf mehreren Reisen kreuz und quer durch Venezuela die Lebensverhältnisse in diesem Lande genau zu studieren.

Venezuela gehört heute zu den reichsten und fortschrittlichsten Ländern der Erde. Man darf aber nicht vergessen, daß die Dinge noch vor wenigen Jahren vollkommen anders lagen.

Nachdem Kolumbus 1498 die Nordküste Südamerikas entdeckt hatte, war das Land bis ins 19. Jahrhundert eine spanische Kolonie. Amerigo Vespucci fand auf seinen Reisen in einer Bucht des Karibischen Meeres Pfahlbauten vor und taufte daher das neue Gebiet „Klein-Venedig”. Schon im 16. Jahrhundert entstanden Siedlungen an den Küsten und Handelsniederlassungen der Augsburger Welser. Damals wurden von deq spanischen Plantagenbesitzern Negersklaven für die harte Arbeit in den Zuckerrohrfeldern und Kaffeepflanzungen importiert, da sich die Indios in den Niederungen nicht wohlfühlten und von Krankheiten dahingerafft wurden. Da ein großer Mangel an weißen Frauen herrschte, vermischten sich die Spanier allmählich mit der indianischen Urbevölkerung, und so kommt es, daß heute der größte Teil der Venezolaner Mestizen sind. Je weiter man in die Anden eindringt, um so stärker prägt sich der Typus des Andinos aus: gedrungene Gestalt und breite, indianische Gesichtszüge, doch nicht selten helle Haare und blaue Augen.

In der Zeit der südamerikanischen Befreiungskriege kam Venezuela schließlich unter die Tyrannei einiger weniger altspanischer Pflanzerfamilien. Diese Feudalherren herrschten rücksichtslos über die arme Bevölkerung von Indios und Negern. Das Land war sehr dünn besiedelt und der Lebensstandard geringer als anderswo in Südamerika. Schulen gab es nur für die Reichen. Nur selten verirrten sich europäische Auswanderer hierher. Caracas war damals ein stinkendes Konglomerat von Elendshütten, aus denen vereinzelt die Luxuspaläste der Pflanzerfamilien herausragten.

Nach dem ersten Weltkrieg änderte sich die Lage. Die Amerikaner kamen ins Land und fanden Petroleum in immer größerer Menge. Damals regierte der blutrünstige Diktator G o m e z, der Venezuela für seine eigene Tasche schamlos ausplünderte. Ein Abkommen sicherte einerseits den Amerikanern freie Hand in der Ausbeute der Erdölquellen, anderseits dem venezolanischen Staat ungewohnt hohe Einkünfte zu. So begann das neue Leben in Venezuela. Aber der Aufstieg ging vor dem zweiten Krieg nur langsam vor sich.

Erst 1945 setzte die große Immigrationswelle aus Europa ein. Tausende europäischer Auswanderer kamen in den letzten Jahren in L a G u a i r a, dem Hafen von Caracas, an, und ein großer Teil von ihnen blieb in der Hauptstadt, die von einer Stadt von kaum 100.000 Einwohnern im Jahre 1919 zu einer Metropole von mehr als 1,000.000 Einwohnern anwuchs. Es kamen Fischer und Landarbeiter aus Süditalien und Spanien, deutsche Techniker und Heimatvertriebene aus dem Osten, Juden aus Ungarn und Rumänien, aber auch nordamerikanische Geschäftsleute, die hier „business” witterten. 1945 hatte Venezuela 4,000.000 Einwohner.

1950 waren es schon 5,000.000. Heute leben, ebensoviele Menschen in Venezuela wie in Oesterreich. Die Hälfte dieser Bevölkerung lebt in Städten. Die anderen auf Estancias in den Llanos, in kleinen Andendörfern, oder wurden auf dem mit Regierungsmitteln gerodeten Neuland auf kürzlich errichteten Musterfarmen angesiedelt. Etwa eine halbe Million Venezolaner sind reine Europäer, die noch in der alten Heimat geboren wurden. In früherer Zeit gab es nur zwei Bevölkerungsschichten: die Hacienderos und die Peones. Heute wächst — durch die fortschreitende Industrialisierung und die Erhöhung des Lebensstandards für die breitesten Schichten der Bevölkerung - der Mittelstand an.

Die Oberschichte ist noch heute unvorstellbar reich. Sie besteht teilweise aus den sehr exklusiven alt-kreolischen Familien — Kreole heißt in diesem Sinne nicht ein Mischling, sondern einer, der von weißen Eltern im Lande selbst geboren ist — die Plantagen, Kaffee- exportfirniqn, Zuckejraffinerien oder Rumde tyk- rien besitzen, Teilweise gber auch aus schnell reich gewordenen Europäern und Amerikanern, welche die herrschende Konjunktur ausnützten, um in wenigen Jahren Millionäre zu werden. Sie wohnen in ihren Traumvillen im „Este” von Caracas, treffen sich zum Golf im Countryclub und fliegen jeden Sommer nach Europa. Der hohe Lebensstandard des Mittelstandes zeigt sich in den neu errichteten, bunt bemalten, breit- fenstrigen „Edificios” — Wohnbauanlagen—, dem enormen Verkehr modernster amerikanischer Luxuswagen und in den gut besuchten Kinos und Vergnügungslokalen. Dieser neue Mittelstand besteht größtenteils aus Ausländern: kleinen selbständigen Handeltreibenden, Technikern der großen neuen Industriezentren und gut bezahlten Beamten in den Export-Import- Unternehmungen. Da laut Gesetz 75 Prozent aller in einem Betrieb Beschäftigten die venezolanische Staatsbürgerschaft besitzen müssen, müssen die Ausländer diese rasch erwerben, (was nach zwei Jahren bereits möglich ist. Die Einwanderung von Fachkräften wird von der Regierung gefördert und teilweise’ sogar finanziert. Die deutsche Kolonie ist besonders groß. Das Leben in Venezuela ist für Leute, die dort kein Geld verdienen, enorm teuer, doch die Gehälter sind dementsprechend hoch. Man darf auch nicht vergessen, daß man praktisch keine Einkommensteuer zu entrichten hat, wenn man zwei bis fünf Prozent überhaupt nicht in Erwägung ziehen will.

Neben den ganz Reichen und dem Mittelstand gibt es in Venezuela aber auch eine Proletarier- Schichte, bestehend aus dunkelhäutigen Eingeborenen, Negermischlingen und Mestizen sowie den ungelernten und oft kaum des Schreibens mächtigen Einwanderern aus Südeuropa. Viele von ihnen leben in den „Ranchitos”, kleinen Papp- oder Wellblechhütten an den Berghängen um Caracas oder Valencia. Das Ministeriö de Obras Publicas hat jedoch in den letzten Jahren riesige Wohnblocks für Arbeiter in den’’ Städten errichtet. Die ersten Sozialbauten dieser Art wurden übrigens dem Heiligenstädter Gemeindebau in Wien genau nachgebaut. Leider stehen einige dieser neuen Gebäude leer, denn die primitive einheimische Bevölkerung war es bisher gewohnt, in Erdhütten zu hausen, und fürchtet sich, in schwindelnder Höhe eine Wohnung zu beziehen. Oft kehren sie daher in ihre „Ranchitos” zurück, aus denen nicht selten Televisionsantennen herausragen, ein Zeichen dafür, daß sich auch ihre Lage bessert.

Die neue Regierung steht unter der Präsidentschaft des Generals Perez J i m e n e z, der sehr zielstrebig und energisch die Erschließung des Landes betreibt. Er ist zwar ein Diktator, doch kann man vorläufig in einem Land, in dem erst vor so kurzer Zeit so viele verschiedene Nationen aufeinandergestoßen sind, noch nicht daran denken, eine demokratische Verfassung einzuführen.

Schulen werden gebaut, und jeder Venezolaner hat die Pflicht, seine Kinder in’ die staätlkheil; oder eine private Lehranstalt zu Schicken. Atsch die Erwachsenenbildung wird von der Regierung gefördert. Die Ciudad Universitaria, die modernste Universitätsstadt von Südamerika, wurde eben erst fertiggestellt. Vorläufig fehlen jedoch noch Studenten und inländische Professoren, um die weiten Hallen und Laboratorien zu füllen, wenn auch der Staat großzügige Stipendien ausschreibt.

Moderne Krankenhäuser schießen aus der Erde. Die Krankenkasse gibt — bei sehr bescheidenen Mitgliedsbeiträgen — nordamerikanische Medikamente ohne Schwierigkeiten aus. Neuerdings wurde eine ganze Stadt, die nur aus Erholungsheimen für Arbeiter und Angestellte besteht, vom Sozialministerium am Rande des Urwaldes in einer malerischen Meeresbucht erbaut.

Aber nicht nur in den Städten, sondern auch in den Dörfern versucht die Regierung mit Hilfe der Oeleinkünfte durch großzügige Maßnahmen den Lebensstandard zu heben. Gelbfieber und Malaria gehören der Vergangenheit an. Die „Inquilinos”, Pachtbauern, oder die „Labra- dores”,’Landarbeiter, werden durch Gesetze vor der rücksichtslosen Ausbeutung durch die Großgrundbesitzer geschützt.

Kulturell wird neuerdings in Caracas viel geboten, da die hohen Gagen namhafte Künstler aus Europa und Amerika anlocken. Aber immer noch ist das Kino die größte Volksbelustigung. Vor einigen Jahren wurde in der Hauptstadt ein großes Freilufttheater errichtet, die „concha acustica”, wo Konzerte und andere Veranstaltungen stattfinden, die vom Staat subventioniert werden und daher frei zugänglich sind. Aber auch in kleinen Gruppen ist reges kulturelles Interesse vorhanden. So veranstaltet die deutsche Humboldtgesellschaft wissenschaftliche Vortragsabende oder lädt bekannte Künstler und Literaten aus dem Ausland ein. Das gesellschaftliche Leben spielt sich in geschlossenen Kreisen oder Klubs ab.

Heute gehört Caracas zu den modernsten Städten der Erde. Es ist bewundernswert, wie im Verlaufe eines einzigen Dezenniums sich nicht nur eine Stadt, sondern ein ganzer Staat dank des unverhofften Goldregens und der zielstrebigen Verordnungen der Regierung, aus deni Dunkel beinahe elender Verhältnisse an das Licht modernsten Fortschrittes emporgearbeitet hat.

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