6546413-1947_18_01.jpg
Digital In Arbeit

Heinrich Bruning

Werbung
Werbung
Werbung

Das Mittelalter arbeitete inmitten der Ruinen einer heidnischen Welt und an einer barbarischen Masse, die es zu zivilisieren hatte; seine Aufgabe war, ein irdisches Gemeinwesen zu schaffen, das zum Himmel emporstrebte; um aber dieses Gemeinwesen zu erreichen, mußte es damit zufrieden sein, daß bescheidene Mittel ihr Höchstes hergaben — quantum potes, tantum aude —, mußte es eine menschliche Substanz einsetzen, die zu reinigen es kaum Zeit hatte, die aber von einer reinen, gleichsam sich selbst nicht kennenden und ganz auf das Objekt gerichteten Weisheit erhoben und geordnet wurde. Heute arbeiten wir im Schöße einer einst christlichen Zivilisation, die nun zerfällt und deren Sturz die Barbarei ankündigt. Uns handelt es sich darum, für eine neue Welt wenigstens die Wohnstätte vorzubereiten, wo die Menschen Schutz finden und wo Gott, den die LieLe unablässig antreibt, unserer Schwäche entgegenzukommen, auch seine Güte und Menschenfreundlichkeit walten läßt. Wenngleich ein solches Werk der Hauptsache nach Gottes ist, so erfordert es doch auch vom Geschöpf ein äußerst entwickeltes Bewußtsein von den gegebenen menschlichen Realitäten, eine angemessene Reinigung der Mittel und eine bewußte Bemühung, mit aller Kraft der Unzulänglichkeit unserer Gewohnheiten und unserer Erkenntnis ausreichende Hilfsmittel zuzuführen.

Jacques Maritain, Gesellschaftsordnung and Freiheit

„Für di Geschichte einer Zeit“, sagt Carlyle, „ist es das bedeutendste Kennzeichen, wie sie einen großen Mann begrüßt.“

Würde das Volk Deutschlands nicht so tief bedrückt sein, es würde jetzt mit festlichem Zuruf einen seiner Besten zu seiner Rückkehr feiern: Heinrich Brüning, der nach dreizehnjährigem Fernsein in der Fremde nach Deutschland heimkehrt. Zu rechter Stunde, eine Hoffnung für das deutsche Volk und eine Hoffnung für die Welt.

Es ist nie bekannt geworden, ob Zufall oder eine geheime Warnung es veranlaßt hatte, daß der gewesene deutsche Reichskanzler — der letzte, bevor das Zwischenspiel Papen-Sch leicher zur Hitlerdiktatur überleitete — Ende Juni 1934 in London eintraf. Nur eine scheinbar belanglose kleine Notiz in dem bereits gleichgeschalteten früheren Berliner Zentrumsblatt hatte von der Reise gemeldet, die wenige Tage darauf bedeutete, daß Dr. Heinrich Brüning der Hitlerschen Bartholomäusnacht vom 30. Juni entgangen war. Er hätte ebenso unfehlbar zu den Opfern gehört wie sein Freund Dr. Klausener, der Führer der Katholischen Aktion Berlins. Für ihn gab es keine Rückkehr in seine westfälische Heimat. Noch 1936 stellten ihm Agenten der Gestapo nach, da er als schwerkranker Mann' in einem Züricher Sanatorium Heilung suchte und es nur der Wachsamkeit der Schweizer Behörden verdankte, daß ein gegen ihn gerichteter Anschlag vereitelt wurde; der damalige Chef der Züricher Polizeidirektion Buomberger hielt es für geraten, den gewesenen Kanzler des Deutschen Reiches im Kraftwagen unter starker Bedeckung über den St. Gotthard nach Lugano gegen Entführungspläne in Sicherheit zu bringen. Dem Heimatlosgewordenen gewährten die Vereinigten Staaten ein Asyl; von der Universität Cambridge, Massachusetts, erhielt er, der erfahrene Nationalökonom und Soziologe, der als Mitarbeiter Karl Sonnenscheins und dann die Jahre vor seiner Kanzlerschaft als Geschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes seine Richtung und sein Können unter Beweis gestellt hatte, die Berufung auf eine Lehrkanzel für Volkswirtschaft. Die Trennungen und der Lärm des Weltkrieges verschlangen dann die Nachrichten über ihn.

Die jetzige Heimkehr des Einundsechzig-jährigen aus einem friedlichen und fruchtbaren Arbeitsfeld in ein Deutschland, das ohnmächtig und nahe der Anarchie ist, und in ein Volk das mit schwerer Verfemung kämpft, kennzeichnet den Mann, seine tapfere Entschlossenheit und, was mehr ist, seinen Opfergeist. Nie hat ihn Deutschland notwendiger gehabt als heute, auch damals nicht, als er Ende März 1930 in einer beispiellos verworrenen und gefährlich gewordenen inneren Lage die Kanzlerschaft übernahm.

Die damalige Entwicklung in Deutschland wieist eine merkwürdige Parallele mit jener in Österreich auf. nur mit -dem sehr bemerklichen Unterschied, daß dieses den zerstörenden Kräften länger widerstand und auch dann nur durch Gewalt niedergeworfen wurde. Ähnlich wie in Österreich hatte die Weltwirtschaftskrise in Deutschland die Folgen der unheilvollen Friedensverträge katastrophal gesteigert. Ein Heer von vier Millionen Arbeitslosen, das binnen wenigen Monaten auf fünf und noch weiter anschwoll, das Verdorren großer Industrien, Bankenzusammenbrüche, Vernichtung vieler Sparvermögen kennzeichneten in dieser Periode äußerlich das Bild, das nicht ganz aussprach, was sich im Innern der Volksmassen vorbereitete. Der Rücktritt des Reichskanzlers Müller-Franken am 28. März 1930 hatte schon einiges davon verraten; er wurde von seiner eigenen sozialdemokratischen Partei gestürzt, die es nicht mehr wagte, die Finanzmaßnahmen ihres Kanzlers zur Abwehr der drohenden Inflation zu stützen, weil sie sich schon durch die gärende und von der nationalsozialistischen Propaganda geschickt genährte Unzufriedenheit der notleidenden Massen bedrängt sah. Noch hielt das Bündnis des Zentrums mit der Sozialdemokratie das Regierungssystem, aber als Brüning, der neue Reichskanzler, das Haus auflöste und für seine strengen finanzpolitischen Pläne die Entscheidung des Volkes in Neuwahlen anrief, deren Ausgang den Parteien Mut machen sollten, ihm in seiner Rettungsaktion zu folgen, zeigte sich bereits, daß die „schwarz-rote Koalition“ nicht mehr die innere Kraft besaß, die Situation zu meistern. Noch vor zwei Jahren, bei den letzten Wahlen, hatte die NSDAP nur knappe 809.000 Stimmen zu gewinnen vermocht und nun hatte sie am 14. September 1930 in jähem An-sprung 6,401.000 Stimmen und an Stelle ihrer 12 Mandate 106 erreicht. In Städten wie Mainz waren innerhalb dieser zwei Jahre aus 400 Stimmen 16.000, zum Beispiel im Wahlkreis Liegnitz aus 7000 Stimmen 142.000 geworden. In siegestrunkenem Hochmut schrieb damals Rosenberg an die Adresse des Zentrums und der Sozialdemokratie: „Macht Platz, ihr Überlebten, den Mächten der Neugeburt! Eure Uhr ist abgelaufen!“ Hitler hatte nicht die parlamentarische Mehrheit gewonnen, er errang sie nicht einmal zwei Jahre später, als Papen es noch einmal mit Neuwahlen versuchte und sich die Zahl der Hitlerwähler verdoppelt hatte. Aber das parlamentarische Gefüge versagte vor der schweren Aufgabe, die der Regierung und dem Parlament gestellt war Die wirtschaftliche Not erdrückte die gesunden politischen Kräfte; Sieben Millionen Arbeitslose bezeichneten jetit eine noch nie in Deutschland erlebte Verelendung. In dieser Atmosphäre rang Brüning um das Leben Deutschlands. Er hatte den Mut, durch unpopuläre Maßnahmen die Mark vor dem Abgleiten aufzuhalten, die SS und SA aufzulösen, den Latifundienbesitz der Junker anzutasten, um Siedlungsboden für das übervölkerte Deutschland zu erhalten. In Verhandlungen mit den Mächten lockerte er die schweren Zahlungsverpflichtungen Deutschlands nach dem Dawes-Plan, er erreichte, unterstützt von Hoover, eine Vertagung der Zahlungstermine aus ausländischen Krediten und er versuchte in London und Paris, den Ring des internationalen Mißtrauens gegen Deutschland zu durchbrechen. Aber er erreichte ebensowenig von dem kranken Parteiensystem des Parlaments eine tragfähige Mehrheit, angewiesen auf ein Regime bloßer Notverordnungen, wie er auch nicht imstande war, die Mächte zu überzeugen, daß die Verelendung Deutschlands eine Gefahr für den Weltfrieden bedeute.

Als er Ende Mai 1932 zurücktrat, nahm er mit sich den Namen eines Mannes, der mit großer Klugheit einer fast hoffnungslosen Lage durch zwei Jahre getrotzt hatte und dessen Reinheit der Gesinnung und des Handelns in einer von Leidenschaften durchwühlten Umgebung kein Gegner anzuzweifeln versucht hatte. Sosehr zermürbt waren die Parteien, welche die Regierung zu tragen gehabt hätten, und so unsicher und haltlos wurde die Staatsführung nach Brünings Rücktritt, daß acht Monate später Hitler die Macht aus der Hand Papens wie. ein reifer Apfel zufiel, obwohl die NSDAP mit ihren 196 Mandaten ni,cht die Mehr-, heit der Volksvertretung besaß. Der Wagen rollte dem Abgrund zu.

Freilich„ es hätte nicht so sein müssen, wenn man in London und Paris der Regierung Brüning und ihrem ehrlichen, loyalen Verständigungsbestrebeh an Stelle' der kümmerlichen Erleichterungen des Young-Plans nur die Hälfte von dem eingeräumt hätte, was man ein paar Jahre darauf Hitler, ohne mit der Wimper zu zucken, gewährte. Der Nationalsozialismus hat nur in einem verzweifelnden Deutschland seine Macht gewinnen können. — Die Weltgeschichte hätte' nicht diesen Gang nehmen müssen. In der Politik der damaligen Kabinette der Westmächte wirkten bereits dieselben Irrungen, die 1938 den zweiten Weltkrieg heraufbeschwören sollten, als man Österreich und dann die Tschechoslowakei im Stiche ließ und mit Hitler freundlich paktierte.

Brüning ist ein Kronzeuge dieser historischen Schuld. Er wird den heutigen Gebietern der Welt die Frage vorlegen können, ob die Lehre der Geschichte an die Gegenwart verschwendet oder den 75 Millionen Deutschen soviel Lebensraum gewährt werden soll, daß die ehrlichen Freunde des Völkerfriedens im deutschen Volke imstande sind, ein neues Chaos der Verzweiflung zu verhindern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung