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HESSISCHE REISE

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.Die Welt ist voll von Männern, die das Rechte denken und lehren, sobald sie aber handeln sollen, von Zweitein und Kleinmut angefochten werden und zurückweichen.“

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.Die Welt ist voll von Männern, die das Rechte denken und lehren, sobald sie aber handeln sollen, von Zweitein und Kleinmut angefochten werden und zurückweichen.“

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Jacob Grimm

Hanau, Sonntag. — Eine alte Stadt, deren Grafengeschlecht die Geschichte Hessens bescheiden mitbestimmt hat. Eine ehemals alte Stadt: im März 1945 ließ ein Bombenteppich ganze sieben Häuser der Innenstadt übrig. Man hat sie wieder aufgebaut, mit vielen Straßen und breiten Lücken; sie macht einen leeren Eindruck. Laut Statistik hat sie heute ihre alte Einwohnerzahl wieder erreicht, nicht aber ihre Lebendigkeit. Die Zerstörung war, schaut man tiefer, wie in so vielen deutschen Städten, mehr als eine Zäsur, war eine Vernichtung. — Unter den zerstörten Häusern befand sich auch das Geburtshaus der Brüder Grimm am Paradeplatz. Hier, in diesem reformierten hessischen Städtchen, das sich in eine Schlaufe der Kinzing vor ihrer Mündung in den Main bettet, sind 1785 Jacob und ein Jahr später Wilhelm geboren worden, ein Geschwisterpaar, das als Brüder in das Bewußtsein der Welt eingegangen ist.

„So nahm uns denn in den langsam schleichenden Schuljahren ein Bett auf und ein Stubchen, da saßen wir an einem und demselben Tisch arbeitend, hernach, in der Studentenzeit, standen zwei Betten und zwei Tische in derselben Stube, im späteren Leben noch immer zwei Arbeitstische in dem nämlichen Zimmer, endlich, bis zuletzt in zwei Zimmern nebeneinander, immer unter einem Dach in gänzlich unangefochten und ungestört beibehaltener Gemeinschaft unserer Habe und Bücher, mit Ausnahme weniger, die jedem gleich zur Hand liegen mußten und darum doppelt gekauft wurden. Auch unsere letzten Betten, hat es allen Anschein, werden wieder nebeneinander gemacht sein.“

Jacob irrte nicht. Die Brüder liegen nebeneinander am Matthäi-Kirchhof in Berlin, wohin ihr wissenschaftlicher Ruf sie geführt hat, wo der Ruhm sie einholte und schließlich der Tod. Am 20. September 1863 starb Jacob, nur wenige Jahre nach seinem Bruder Wilhelm.

Die brüderliche Gemeinschaft durch ein ganzes langes Leben war menschliche Größe — beide waren von recht verschiedenen Anlagen und Temperamenten — und fast auch so etwas wie politische Einsicht, wenn auch die folgenden Sätze Jacobs als Worte eines Hagestolzes zu betrachten sind, der sein Leben in der Familie des Bruders lebte.

„Geschlechter haben sich zu Stämmen, Stämme zu Völkern erhoben, nicht sowohl dadurch, daß auf den Vater Söhne und Enkel in unabsehbarer Reihe folgten, als dadurch, daß Brüder und Bruderskinder auf der Seite fest zu dem Stamm hielten. Nicht die Deszendenten, erst die Kollateralen sind es, die einen Stamm gründen, nicht auf Sohnesschaft sowohl als auf Brüderlichkeit beruht ein Volk in seiner Breite.“

Die Zerstörung überdauert hat das Denkmal der Brüder sm Neustädter Markt. Von dem Münchener Bildhauer Eberle erstellt und 1896 enthüllt, zeigt es Jacob, den kleineren, stehend, Wilhelm sitzend, ein Buch auf den Knien. Die DarStellung ist weitgehend authentisch, fußt auf Vorlagen des Malerbruders Emil Ludwig und ähnelt dem Titelblatt des „Deutschen Wörterbuches“.

Trages, Montag. — Am Rande des Spessart gelegen, überragt vom Höhenrücken des Hahnenkamm, liegt hier unter Bäumen fast verborgen das Hof gut der Savignys: Trages. Friedrich Carl von Savigny war, obwohl nur wenige Jahre älter als die Brüder, für beide die entscheidende Lehrerpersönlichkeit in Marburg gewesen. Im neuen Herrenhaus, einem Bau des 19. Jahrhunderts, hängt noch sein Bild von der Hand Emil Ludwig Grimms. Der Besitz, eine bedeutsame Romantikerstätte, ist noch in den Händen der Familie Savigny. Gunda Brentano v/ar Savignys Frau geworden und so haben neben den Brüdern Grimm auch Bettina und Clemens Brentano im Hause verkehrt; „Gockel Hinkel und Gackeleia“ ist hier entstanden. Dem jetzigen Herrn von Gut Trages, Baron Leo, ist es zu danken, daß die zahlreichen Briefe der Brüder Grimm an ihren Lehrer und späteren Freund der Universitätsbibliothek in Marburg einverleibt und gedruckt werden konnten. Die Bedeutung, die Friedrich Carl von Savigny für Jacob hatte, geht aus der Widmung der „Deutschen Grammatik“ hervor:

„Wie hat sich mein Herz danach gesehnt, lieber Savigny, was ich einmal Gutes und Taugliches hervorzubringen imstande sein würde, Ihnen und keinem anderen öffentlich zuzuschreiben. Gott weiß und tut stets das Beste. Als nach dem frühen Tode des Vaters und dem Absterben beinahe aller Verwandten, der liebsten seligen Mutter unermüdliche Sorge nicht mehr übersah, was aus uns fünf Brüdern werden sollte, und ich, mir selbst überlassen, in manchem verabsäumt, und doch voll guten Willens, redlich mein vorgesetztes Studium zu betreiben, nach Marburg kam; da fügte es sich, daß ich Ihr Zuhörer wurde und in Ihrer Lehre ahnen und begreifen lernte, was es heiße, etwas studieren zu wollen, sei es die Rechtswissenschaft oder eine andere. Auf diese Erweckung folgte bald nähere Bekanntschaft mit Ihnen, deren liebreichen Anfang ich niemals vergesse und woran sich mehr und mehr Fäden knüpften, die von dieser Zeit an bis jetzo auf meine Gesinnung, Belehrung und Arbeitsamkeit unveränderlichen Einfluß haben.“

Steinau an der Straße, Montag mittags — 1791 wurde der Vater als Justizamtmann nach Steinau versetzt. Das ländliche, halb bäuerliche Städtchen (heute 4000 Einwohner) war die Sommerresidenz der Grafen von Hanau, Kinzing aufwärts gelegen. Nichts vermag Zeitlosigkeit mehr vorzutäuschen als sommerliche Mittagshitze. Die Straßen sind ausgestorben, die Fachwerkhäuser lassen keinen Anstrich der Zeit erkennen. Neben einem Tor an der Straße ein Schild: „Märchenhaus des deutschen Volkes“. Uber Steinplatten, zwischen denen das Gras wächst; geht es in einen auf Gärten zu offenen Hof. Hinter einer mächtigen Linde, halb verdeckt, das Amtshaus, ein schöner Fachwerkbau der Renaissance, in dem der Vater, Philipp Wilhelm Grimm, seinen Geschäften oblag und den Kindern für kurze Jahre das ungetrübte Glück einer vollkommen ausgelebten Kindheit widerfuhr. Die hochtrabende Bezeichnung des Hauses besteht zu recht. Hier, in dieser landschaftlich schönen Gegend, wurde der Natursinn der Brüder gestärkt und gefördert, der tägliche Umgang hat ihre Kenntnis der einfachen Menschen und ihrer Sprache bereichert und die Erinnerung — „märchenhaft und behaglich“ — hat dann den Ort in jene Verzauberung gehüllt, die im Ton und Melos ihrer aiters-losen Märchensprache bleibende Gültigkeit gefunden hat. Während der Kasseler Schulzeit und ihres Studiums in Marburg haben sie hier noch ihre Ferien verbracht. „Und der eine Monat“, schrieb Jacob, „ging immer so schnell vorbei, und die Mutter weinte immer so heftig bei unserer Abreise.“ Für Jacob war die Steinauer Zeit vielleicht die einzige, auch persönlich-menschlich glückliche Zeit. Sein Leben, das ganz auf die Arbeit eingestellt war, hat ihm später dazu keine Zeit mehr gelassen.

„Für glücklich halte ich mich nicht“, bekennt er als Siebenunddreißig jähriger, „allein Gott hat mir im Grund ein heiteres Gemüt verliehen, das gleich wieder ausmauert, wo es Risse und Lücken setzt. Meine Arbeiten gedeihen mitunter, das freut und tröstet mich auch.“

Marburg, Mittwoch. — Oh, eine prächtige Gegend! Mit jedem Schritt romantischer und schöner, hohe Berge, aber keine kahlen Hügel, sondern mit mannigfachem Grün geschmückt. Wiesen und Wiesenquellen. Links das Schloß auf dem Berge, von der Abendsonne vergoldet.“ Das war der Eindruck Jacobs von diesem alten gotischen Städtchen, das sich steil vom Lahnufer zur Höhe des Schloßberges aufbaut, als er im Frühling 1802 an der Universität immatrikulierte. Die Stadt hat sich in ihrem Kern noch nicht verändert. Noch immer wird sie von den Studenten bestimmt; zu Grimms Zeiten waren es allerdings nicht mehr als 200. Aber auch damals schon lag sie abseits — wie heute noch. In der Kirche der heiligen Elisabeth, dem ersten gotischen Bau jenseits des Rheins und einer der größten mittelalterlichen Wallfahrtsstätten, hat ein großes Kruzifix Ernst Barlachs, das vor dem Lettner aufragt, unbehindert den letzten Bildersturm überlebt. In den Straßen begegnet man noch der Tracht und auch sonst kann man die Wege, unbeschadet der Zeit, über dieselben Treppen gehen, die einst die Brüder gingen. Längst über die Mitte seines Lebens hinaus, erinnert sich Jacob:

„Zu Marburg muß man seine Beine rühren und Treppe auf, Treppe ab steigen. Aus einem kleinen Hause der Barfüßerstraße führte mich durch ein schmales Gäßchen und den Wendelstieg eines alten Turmes der tägliche Weg auf den Kirchhof, von dem sichs über die Dächer und Blütenbäume sehnsüchtig in die Weite schaut. Da war gut auf- und abwandeln. Dann stieg man an der Mauerwand wieder in eine höher liegende Gasse vorwärts zum Forsthof, wo Professor Weis noch weiter hinauf wohnte. Zwischen dessen Bereich und dem Hoftor unten, mitten an der Treppe, klebte wie ein Nest ein Nebenhaus, in dem Sie (Savigny) Ihr heiteres, sorgenfreies und der Wissenschaft gewidmetes Leben lebten. Hell und sonnig waren die Räume, weiß getüncht die Wände. Die Fenster gaben ins Gießer Tal auf Wiesen, Lahn und Gebirge duftige Aussicht, die sich zauberhafter Wirkung näherte.“

Nur der Kirchhof ist aufgelassen, sonst ist alles geblieben, wie es war. In diesem geschilderten Zimmer ist Jacob ein Band der Minnesänger in die Hände gefallen — und er, der in seiner Jugend ausgezogen war, ein paar altdeutsche Lieder zu sammeln, entdeckte Deutschland. In Marburg, im bewußt erlebten und geahnten Mittelalter dieser Stadt, im Kreis der Freunde, Achim von Arnims, Brentanos, Bettinas, des Lehrers Savigny, in der ersten Begegnung mit Büchern und Handschriften, wurde der Keim zur Fülle des gewaltigen Werkes gelegt, welches das Leben beider Brüder tragen sollte.

Willingshausen, Donnerstag. — Unmittelbar und lebendiger noch als in Trages, tritt man im Schloß der Familie von Schwertzell in eine Grimm-Atmosphäre. Freundlich öffnet der Baron, dessen Urgroßvater ein Klassenkamerad Wilhelms am Kasseler Friedrichsgymnasium war, sein Haus und seine Bibliothek den Gästen, als deren kostbarsten Grimm-Besitz er sein Gästebuch erachtet, in das Wilhelm einmal geschrieben hat: „Die Bäume, die im Garten stehen,/ Die Menschen, die darunter gehen, / Wolle Gott behüten, / Daß sie stehn und gehn in Frieden.“ Wilhelm ist oft hier eingekehrt und der Garten, auch heute noch eine botanische Besonderheit, hatte es ihm dabei besonders angetan. Und von Wilhelmine, der Schwester seines Schulfreundes, stammt eines der schönsten Märchen des ersten Bandes: „Der Gevatter Tod“. Bruder Ludwig Emil hat viel gezeichnet hier in diesem Dorf in der Schwalm, das so recht die gegenständliche Welt der hessischen Märchen und damit des Kerns der ganzen Märchensammlung widerspiegelt.

Kassel, Samstag. — Das alte Kassel, die Marktgasse, wo die erste Wohnung der Geschwister sich befand, ist verschwunden. Aber die Stadt, deren Oberbürgermeister das Bild der Brüder Grimm an seiner Amtskette trägt, besitzt in der Murhardschen Bibliothek, wo sie jahrelang gewirkt haben, ein Brüder-Grimm-Museum und — gegenüber —, am Wilhelmshöher Tor, das Haus, in dem beide von 1814 bis 1822 gelebt haben. Zuerst betreut von der Schwester Lotte, dann, nach deren Verheiratung, von Wilhelms Frau Dorothea. Es war eine gute Zeit für die Brüder. „Von jetzt an beginnt die ruhigste, arbeitsamste und vielleicht auch die fruchtbarste Zeit meines Lebens“, schreibt Jacob in seiner Selbstbiographie, und es liegt ein schöner Sinn in der Tatsache, daß hier im Museum so vieles vom Werk und vom Persönlichen der Brüder bewahrt ist.

„Ich hänge mit allen Geschwistern, von Kindern auf, gewaltig an Hessen, wir hatten es so von Eltern und Großeltern geerbt. Den größten Theil meines Lebens habe ich hier in Hessen verbracht, und alle meine Phantasie und Erinnerung bleibt in ihm zurück.“ Das schreibt Jacob vor seiner Abreise nach Göttingen, nur wenige Wegstunden von Kassel entfernt. Und für seine Antrittsvorlesung wählt er das Thema: Heimweh. In Göttingen dann zeigen die Brüder vor aller Welt ihre menschlich charakterliche Größe: beide waren sie unter den „Göttinger Sieben“, die das Land verlassen mußten, weil sie einen einmal gegebenen Eid auf die Verfassung, nicht, wie der neue König es verlangte, zu brechen gedachten. Aus der Schrift, die Jacob „Uber meine Entlassung“ schrieb, wurde das Zitat gewählt, das über diesen Aufzeichnungen steht. Verständlich, daß Carl Zuckmayer, als er aus der Emigration zurückkehrte, über diese beiden Deutschen („Die Brüder Grimm. Ein deutscher Beitrag zur Humanität“, 1848) einen neuen Weg zum Glauben an das zu Boden getretene „andere“ Deutschland gesucht und gefunden hat

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