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Ignaz Seipel

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Vor zwanzig Jahren fuhr er zum letztenmal durch seine Vaterstadt. Durch Wien, das einst die Hauptstadt des von ihrįi so sehr geliebten großen Österreich war und, als Unverstand das alte Reich zerstörte, die Hauptstadt der kleinen Republik wurde, der einen guten und festen Weg in die dunkle Zukunft zu bahnen, seine Lebensaufgabe wurde. Seipel kam als Kind eines „kleinen Mannes“ in Rudolfsheim zur Welt, als einer der großen Männer des Vaterlandes ging er in die Ewigkeit ein. Kindheit und Jugend verliefen im verborgenen, vor zwanzig Jahren aber schritten Zehntausend im Trauerzug, standen Hunderttausende im Spalier, kondolierten die Regierungen des Auslandes und schrieben die Zeitungen aller Länder und Sprachen über den weltbekannten Staatsmann. Als er in der waldumrauschten Heilanstalt seinen letzten Atemzug tat, stand er, menschlich gesehen, im besten Mannesalter, sank er vor der Zeit hin. Nur dreimal fünf Jahre umschließt der Teil seines Lebens, den er auf den von Liebe und Haß umwitterten Höhen öffentlichen Wirkens zu-, gebracht hat, mehr vom Vertrauen der Freunde hinaufgetragen als vom eigenen Willen. Nicht der Ehrgeiz trieb ihn, säin Gewissen gebot ihm, dem Ruf zu gehorchen.

Als der junge Professor der Moraltheologie im Jahre 1917 von Salzburg an die Wiener Universität berufen wurde, mag er die schicksalhafte Bedeutung dieser Lebenswende gefühlt haben. In Salzburg hatte er täglich die Kriegsspitäler besucht, um den Verwundeten beizustehen. Der tiefe Eindruck, den sein Gemüt hier empfing, klärte sich im Gedankenaustausch mit dem verehrten Lehrer des Völkerrechts Dr. Lammasch zu dem Entschluß, dem Frieden zu dieiien. Dem äußpren Frieden, der dem langen und sdnlveren Krieg, in dem das alte Österreich seine Existenz verteidigen mußte, ein baldiges und erträgliches Ende bringen sollte; dem inneren Frieden zwischen den Völkern des Habsburgerreiches und zwischen ihnen und dem Staatswesen, das sie bewohnten.

An die Spitze seines Werkes „Nation und Staat“ setzte er, eine alte Juristenregel abwandelnd, das Motto: Clarae notiones, boni amici. Fehlt die Klarheit der Begriffe der dem Leben in der Gemeinschaft zugrunde liegenden Werte, wie soll dann das täglich in unerwartet neuen Gestalten erscheinende staatliche und kulturelle Leben gemeistert werden, ohne schwere Konflikte zu erzeugen? Dem Gelehrten stand es wohl an, zuerst die Gedankenklarheit zu verlangen, ehe das Gespräch sich den Fragen der praktischen Politik zuwandte. Daß er im Motjto das Wort „Freunde“ beibehielt, erlaubt einen Blick in Seipels Herz. Er war gewiß ein Verstandesmensch von imgewöhnlicher Intelligenz, ausgebreite- tem Wissen und stählerner Willenskraft, er įiesaB aber auch ein starker Empfindungen fähiges und in schweren Stunden des Trostes bedürftiges Gemüt, dem niemals der Haß gemäß war, sondern immer die Liebe. Dem es bis zum physischen Schmerz schwer fiel, streng sein zu müssen. Das in der Verborgenheit half, wo immer eine Möglichkeit war, auch wenn das eigene Wohlergehen, die eigenen Wünsche dann schweigen mußten. Das seinen Freunden die Treue hielt, auch wenn die anderen sie verließen. Seipel, der Moraltheologe, wußte, daß die Gesetze der Sittenordnung mit kraftvoller Konsequenz festgehalten werden müssen, Seipel, der Priester, suchte, wo er durfte, im Einzelfall den Ausweg milden Verständnisses.

Das erste Lustrum seines öffentlichen Lebens, das mit dem Jahre 1917 einsetzt, beginnt mit’ ernsten und kummervollen Bemühungen, den Krieg bald zu beenden und die innere Umgestaltung des Reiches im Sinne föderativer Demokratie voranzubringen. Der junge Kaiser ruft, den jungen Gelehrten in die Regierung Lammasch, schon aber ist es zu spät, nach kaum zwei Wochen Sozialministerschaft übergibt er seinem Nachfolger, dem Staatssekretär Harnisch, das Amt: das Kaiserreich, die eine der europäischen Großmächte, ist zerstückelt; in trüben Tagen tritt die Republik, klein und schwach, noch ohne sichere Grenzen, vom Hunger bedroht, vom Fieber revolutionärer Versuche geschüttelt, ihren schweren Weg an. Als Ratgeber zuerst, dann als Abgeordneter setzte Seipel seine hohen Fähigkeiten ein, um das politische Gebilde, dem eine Versammlung von Abgeordneten, deren Mandate längst abgelaufen waren, freiwillig oder imfreiwillig Pate gestanden, zu einem verfassungsmäßig geordneten, Bürger- und Menschenrechte mit wohlgefügter Autorität schützenden und die Wohlfahrt des Volkes hegenden Staat zu gestalten. Errang mit gegnerischen Ansichten, die nicht die seinen sein konnten, und strebte doch eine Verfassung an, die als Ausdruck des Gemeinwillens dauernde Geltung erhoffen durfte.

In dieser frühen Phase schon traf Seipels klares Denken auf das Streben der damals aus Sorge vor der kommunistischen Konkurrenz zum radikalen Austromarxismus sich entwickelnden Sozialdemokratie, die große Geschichte Österreichs zu verdunkeln und Ordnungselemente von wesentlicher Bedeutung für das persönliche, familiäre und berufliche Leben zu schwächen, wenn sdion nicht zu verdrängen: sie forderte die staatliche Anerkennung der „Lebensgefährtin“, die mit fast gleichen Rechten neben die vor Gott und vor dem Gesetz angetraute Gattin treten sollte; der religiösen Betreuung der Jugend wurden allenthalben Schwierigkeiten bereitet; das edle Recht der 50 Jahre vorher errungenen Koalitionsfreiheit wurde durch Versammlungsund Betriebsterror bedroht und oft genug ausgeschaltet; und als im Juni 1920 die „rot-schwarze“ Regierung an- solchen Übergriffen zerbrach und nach den Oktoberwahlen 1920 von einer Regierung der siegenden Mehrheit abgelöst wurde, bediente sich die sozialistische Opposition der undemokratischen Methode, außerparlamentarische Mittel, Straßenderaon- strationen, politische Streiks, Terror und hemmungslosen Gebrauch der Pressefreiheit aufzubieten, um ihren Minderheitswillen der Mehrheit aufzuzwingen. Die Verfassung der jungen Republik machte den Nationalrat zur Grundfeste der österreichischen Demokratie, nun aber wurde das frei gewählte Parlament unter den schweren Druck der Obstruktion in den Sitzungssälen und der Drohung von außen gesetzt. Nein, es war damals nicht leicht, in Österreich eine gute sachliche Politik zu machen, wenn sie der Minderheit nicht behagte.

Die Republik war noch nicht zu innerer Ruhe und gefestigter Ornung gekommen, als Seipels zweites Lustrum anhob. Der Rausch der Inflation mündete in wachsende Arbeitslosigkeit und Not breiter Massen. Da riefen sie alle, Anhänger und Gegner, nach Seipel. Am 31. Mai 1922 übernahm er die Regierung. Politik ist sachliche Arbeit und Kampf mit dem Gegner. Daher vermischen sich in ihr die Elemente weit ausblickender, hohe Ziele anstrebender Strategie der Staatsführung und der aus dem örtlichen Nahkampf Geist und Regel beziehenden Taktik der Agitatoren. Es ist ein Unglück, wenn die politische Strategie in den Radikalismus einer intoleranten Ideologie, die Taktik in schamlose Demagogie ausartet. Daß die Bekenner gemeinsamer politischer Grundsätze nach der Möglichkeit streben, ihre Überzeugung in Staat und Gesellschaft zu Achtung und Geltung zu bringen, darf nicht dazu führen, daß sie Macht und Vorteil ihrer Partei höher stellen als das Gemeinwohl von Volk und Staat. In den politischen Kämpfen um die Währungsreform prallten diese Gegensätze heftig aufeinander. Und hielten an. Auch nach dem Attentat Jawureks. So endete das zweite Lustrum mit den blutigen Tagen des Juli 1927. Der Gadst, der aus der Drohung Otto Bauers sprach, die Sozialdemokratie verfüge über alle revolutionären Mittel, um jede bürgerliche Regierung davonzujagen, trug nicht allein, jedoch vor allem die Verantwortung für diese Tage. Dieser Geist zeugte eine wilde Hetzjagd gegen Seipel, weil er mit Fug und Recht verlangt hatte, man solle die politischen Demonstranten von den Verbrechern unterscheiden, welche Häuser angezündet, Polizeibeamte erschlagen und Wohnungen und Geschäfte geplündert hatten. Da gegen den überlegenen Staatsmann die politischen Mittel der Opposition versagten, traf ihr Haß den Priester, indem sie den Abfall von der Kirche organisierte.

Als das dritte Lustrum zu Ende ging, lag der große Kanzler auf dem Sterbebett. Meisterwerke der Diplomatie und der Politik hatte er vollbracht, unbezwei- felbare Verdienste um Österreich und dieWelt sich erworben. Er, dem seelische und geistige Geschlossenheit den Mut zur Unpopularität gab, hatte die Kraft, Parlament und Volk zu hochgemuten Entschlüssen mitzureißen, die die Republik vor dem Abgrund retteten, der sich damals öfter als einmal auftat.

Ignaz Seipel ist einer der seltenen Männer, die symbolhaften Glanz für ihr Volk und Land in die Welt hinausstrahlen. Und doch blieb ihm die Tragik nicht erspart, selbst zeit seines Lebens ein Freund des Friedens der Völker, des guten Ausgleichs deT Gegensätze, ein Wegbahner des kommenden geeinten Europa zu sein, dieselben Grundsätze, dieselbe Weltanschauung im eigenen Lande verwirklichen zu wollen, jedoch durch unversöhnliche Gegner, die keinengemeinsamen Nenner für die Kräfte des staatlichen Lebens gelten lassen wollten, immer wieder zu härtestem Kampf gezwungen zu werden. Auch im bitteren Abwehrkampf blieb er seinem Charakter treu: er mußte mit dem Angreifer als Politiker und Staatsmann ringen, er litt unter diesem Müssen als Priester und Mensch. Hat er wirklich im einzelnen geirrt, so liegen in diesem schmerzlichen Dilemma die ehrenhaften Wurzeln des Irrtums. Darum leuchtet seine mächtige Erscheinung über die Jahrzehnte, die vergangen sind, in die Zukunft. Er bleibt im Wandel der Zeiten das Vorbild hoher Gesinnung, reinen Wollens und hingebender Liebe zu Volk, Vaterland und Kirche, der große Denker, der gesinnungsklare Staatsmann, der gütige Mensch, der fromme Christ.

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