6606009-1954_19_04.jpg
Digital In Arbeit

Im Schutz und Schatten der Trikolore

Werbung
Werbung
Werbung

Das jüngst so vielerörterte Marokko ist ein Land, das in den letzten fünfzig Jahren größeren Fortschritt erzielt hat als die meisten Länder der Erde, größeren als in seinen vorhergehenden tausend Jahren. Aber es ist mehr als das: Es ist ein Paradigma für die Abwandlung der Kräfte, die in den letzten zehn Jahren die Welt bewegen, und — geben wir zu — unterwühlen.

Kolonialmächte sind eigentlich etwas anderes, und es gibt deren mehr, als man sich gewöhnlich vorstellt. Nicht schmale Wasser-, Straßen wie die von Gibraltar oder die Behringstraße bestimmen den Charakter einer Kolonie, sondern Macht und Unterschied des kulturellen und wirtschaftlichen Niveaus, nach oben oder nach unten. Und die beiden entgegengesetzten Kolonialmethoden sind nicht zu verwechseln: Imperialismus und Paternalismus.

Imperialismus ist Ausbreitung und Ausbeutung. Paternalismus ist die Entwicklung der Kolonie durch die Kräfte des Mutterlandes. Das geschieht nicht aus reinem Altruismus, sondern aus weitsichtigem Egoismus. Es ist gleichgültig, wieviel das Mutterland durch die Verbindung mit der Kolonie gewinnt — ist diese reicher geworden, ist sie besser und gerechter verwaltet, als sie ohne diese Verbindung wäre, dann ist sie paternalistisch und nicht imperialistisch verwaltet. Diesen Maßstab kann man an jedes Kolonialland anlegen, ob es in Südamerika oder Osteuropa, in Afrika oder Ozeanien liegt: Ginge es dem einfachen Manne besser oder schlechter, ist Freiheit und Wohlstand besser oder schlechter geschützt als ohne diese Verbindung? Lautet die Antwort: besser, dann ist das Recht auf Unabhängigkeit erst gegeben, bis die unabhängige Regierung die Menschenrechte mindestens ebenso schützen könnte wie das Mutterland. Vorher ist der Ruf nach Freiheit nur der Schrei derer, die herrschen wollen, nach der Freiheit, die Beherrschten zu unterdrücken.

Diese Grundregeln auf das Paradigma Marokko angewendet, zeigen: Diese dicht bewohnte, fruchtbare Kornkammer des Altertums ist in zwölf Jahrhunderten unter einem halben Dutzend einheimischer und fremder Dynastien verwüstet worden. Kriege und Bürgerkriege, Aufstände und Gruppenmorde hatten sie entvölkert, während der Herrschaft des Zeitgenossen und Gegenspielers Ludwigs XIV: auf der anderen Seite des Mittelländischen Meeres, des „großen“ Muley Hamid, um bloß eine Million Menschen. Als die Franzosen 1912 kamen, herrschte ein Krieg aller gegen alle, beherrschte der Sultan: nur ein kleines Stück Land, auf das die Rebellen von allen Seiten einstürmten, um ein Blutbad anzurichten.

Damals war Marokko von 4 Millionen Menschen bewohnt, heute sind es 8,5 Millionen. Etwa ein Fünftel davon, wenn nicht mehr, verdankt den- Franzosen das Leben. Ohne diese wäre weit über die Hälfte der 200.000 Juden Pogromen Zum Opfer gefallen, hätten die 5 Millionen Araber und 3 Millionen Berber, die einander so lieben wie die Hindus und die Mohammedaner der indischen Halbinsel, sich gegenseitig dezimiert.

Damals hatte das Land nur eine Stadt mit über 100.000, auf enger Fläche schmutzig zusammengepferchter Einwohner und nicht einen einzigen Hafen; heute hat es sechs Großstädte und fünf moderne Häfen. Das einstige Fischerdorf Casablanca ist mit seinen 600.000 Einwohnern und 10 Millionen Tonnen Schiffsverkehr der dritte Hafen Frankreichs geworden. Wo es ehedem nicht einen Kilometer Bahn und nicht eine einzige moderne Straße gab, befördern 1700 Kilometer Bahnen und 88.000 Autos, von denen 17.000 Einheimischen gehören, auf über 40.000 Kilometer Straßen Einheimische, Kolonisten ‘ und Fremde unvergleichlich rascher und billiger durchs Land.

Damals gab es nur Tier- und Menschenkraft, heute sieht man moderne Maschinen auch auf vielen arabischen Gütern, ; geben sechs ausgebaute Dämme 380 Millionen Kilowatt und werden bald zwei weitere doppelt soviel erzeugen. Außer Belgisch- Congo hat kein anderes Land Asiens oder Afrikas seine Wasserkraft in 15 Jahren versechsfacht.

In keinem anderen moslimischen Land sind so ehrliche und zielbewußte Anstrengungen einer ländlichen Mittelklasse gemacht worden, neben denen die jüngsten Versuche in Iran und Ägypten verblassen. Dazu müßten einmal die Stammesfehden eingedämmt werden, um den Bauern vor der Vernichtung seines mühsam erzeugten Produktes zu schützen; mußte er vor den einheimischen Wucherern befreit werden, die diesen Eingriff in nationale Gebräuche bitter übel nahmen. Die „Societes Indigenes de Prevoyance“ stellten ihm zu zivilisierten Bedingungen und ohne Beschränkung auf Stamm und Dorf Samen und Maschinen zur Verfügung und eröffneten ihm einen Markt für seine Erzeugnisse. Die „Secteurs de Modernisation du Paysanat“ sind Musterfarmen, die durch Beispiel, Instruktoren und Maschinen neue Arbeitsmethoden einführen und den Bodenertrag vervielfachen helfen.

Die Araber strömen gerne aus ihren finsteren, schmutzigen Wohnungen in die Kolonien kleiner Häuser, die von den Franzoser neben den malerischen alten Städten mii einem Aufwande von über sechs Milliarden Franken errichtet wurden und gegen Jahresraten von 5,5 Prozent einschließlich det Amortisation verkauft werden.

Wo vor 40 Jahren nur ein einziges unhygienisches Spital bestand, gibt es heute 480 Spitäler und Kliniken mit 11.000 Betten, 900C in den moslimischen und 2000 in den gemischten Spitälern, die Arabern und Berbern Juden und Europäern gleich offen stehen Moderne Hygiene, 14,5 Millionen freier ärztlicher Konsultationen haben die Sterblichkeit in 20 Jahren um ein Drittel herabgedrückt.

Wo es keine andere Bildungsstätten ah Koranschulen gab, die außer Lesen unc Schreiben gar keine praktischen Kenntnisse vermittelten, gibt es heute 1300 Schulen mit 8000 Lehrern, in denen 170,000 marokkanische — darunter, unerhörter, oft kritisierter Fortschritt!, 27.000 Mädchen — unc 60.000 europäische Kinder unterrichtet werden.

An die Stelle eines Rechtssystems, dem die Trennung von Verwaltung, Gesetzgebung und Gericht fremd ist, wo alle Vertretet dieser drei Zweige von der Zentralgcwalt abhängig sind, sei sie ein diktatorischer Sultar wie in Saudi-Arabien oder eine Militärclique wie in Ägypten; das keine Rechtsgarantien kennt und von dessen Wirksamkeit abgehackte Hände und auf den Stadtmauern auf gehängte Köpfe zeugten, ist eine moderne Rechtspflege mit geschulten, meist einheimischen Richtern und Anwälten getreten.

Die Lebenshaltung des Volkes ist gestiegen: Von einem Achtel auf 200 Kilogramm Mehl pro Kopf ein Drittel mehr als in Italien, von einem Zwanzigstel auf ein Kilogramm des Natiönalgetränkes Tee, Von ein auf 25 Kilogramm Zucker, von zwei auf 25 Meter Tuch, von acht auf 109 Gramm Arzneien. Bei dieser Statistik darf man den größeren Verbrauch der Europäer nicht übersehen, aber ebensowenig, daß sie nur vier Prozent der Bevölkerung ausmachen. In Marokko gibt es heute 170.000 Radios, 130 Kinos mit 73.000 Sitzen, 40.000 Telephone, .d. h. ein Telephon auf 210 Einwohner,, fast soviel wie in Australien.

Über die Hälfte der im Lande seit 1912 investierten zwei Milliarden Dollar stammen aus Frankreich, 35 Prozent von französischen Kolonisten und fünf Prozent von Marokkanern. Die letzten fünf Prozent, aus Belgien, Italien und Spanien, wären ohne die Sicherheit durch die französische Verwaltung auch nie ins Land gekommen. Diese Milliarden sind nicht investiert worden, um sich nicht zu rentieren. Sie haben sich gut verzinst, aber doch ihren Eigentümern weniger genützt als der Bevölkerung des Landes.

Es kommt sicher vor, daß die Franzosen in dem ihnen aufgezwungenen Kampfe Unrecht zufügen, einen Unschuldigen oder nicht ganz Schuldigen einsperren oder toten. Die französische Kblonialbürdkratie besteht keineswegs nur aus Engeln und Weisen. Aber für jeden, dem dies geschieht, gibt es Zehn- täusende, die den Franzosen Leben, Gesundheit, Arbeit, Einkommen und Aufstieg zu verdanken haben.

Nur auf dem Hintergründe dieser Tatsachen kann man sich ausmalen, welche Folgen die Unabhängigkeit Marokkos hätte. Ein Bürgerkrieg zwischen den drei Millionen meist nomadischen Berbern und den fünf Millionen arabischer Bauern und Städter wäre die nächste Folge. Als Nebenprodukt würde die Mehrzahl der 200.000 wehrlosen Juden niedergemetzelt und ausgeraubt werden. Der Pogrom vom 12. November 1942 müßte doch nachgeholt werden, den die Araber schon in Rabat und Casablanca vorbereitet hatten und der nur durch den störenden Einmarsch der Amerikaner verhindert wurde. Dann würde das ausländische Kapital, das heißt 95 Prozent alles investierten Kapitals geraubt werden, offen . oder auf ..Schleichwegen. Kein vernünftiger Mensch würde mehr einen Franken im Land anlegen. Dann würden die Ausländer so ausgetrieben werden wie aus Ägypten, mit künstlich diktierter Arbeitslosigkeit bis zum Straßenmord. Die modernen Rechtseinrichtungen würden beseitigt werden und „nationalen“ Scherifats- gerichten und militärischen Schnellgerichten weichen. Die aufkeimenden demokratischen Einrichtungen würden unter einer Flut nationaler, totalitärer Maßregeln ertränkt. Ein großes, blühendes Land würde um Jahrhunderte zurückgeworfen, die Kultur der Welt verringert, ihre Wirtschaft geschädigt werden.

Man braucht nur die Verwüstungen, die in den letzten Jahren in so vielen Ländern angerichtet wurden, und ihre Ursachen zu kennen, um dies Bild nicht zu pessimistiAh zu finden. Das ist keine marokkanische, keine französische, sondern eine Weltfrage. Die Welt ist nicht so reich an fortschreitenden, aufsteigenden Ländern, daß sie den Verlust eines solchen ruhig hinnehmen könnte. Es ist Zeit, die Sympathie für klingende Schlagworte durch nüchterne Abwägung von Tatsachen und Aussichten zu ersetzen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung