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In der neuen Gesellschaft

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Das Christentum stammt aus der Großstadt; die Urgemeinde wuchs in Jerusalem, wo die Geistherabkunft stattfand; dort hielt auch Petrus die £rste christliche Predigt über den Gekreuzigten, den Gott auferweckt und zum Herrn und Messias gemacht hat (Apg 2, 14—36). Paulus missionierte die Metropolen der hellenistischen Welt, aus der er selbst stammte (Tarsos in Kilikien). Als großstädtischer Intellektueller wurde er zum ersten Theologen, dessen Interpretation der Heilsfakten der ersten Kirche elementare Richtungen wies (Lösung von der Thora und damit aus der Umklammerung des Judentums, Theologie der Heidenkirche; Deutung des historischen Jesus als präexistenten Gottessohn, als exemplarischen Urmenschen und kosmischen Gottherrn usw.).

Nur in den Städten fand das Evangelium Massenanhang und sickerte von dort auch in die ländlichen Gebiete ein. Die Episkopen saßen in den Metropolen, später erst treten „Chor-Bischöfe“ (das sind Landbischöfe) auf. In den Städten saßen die Diasporagemeinden der Juden, an die sich zunächst, wenn auch erfolglos, die apo-' stolische Predigt richtete. In Antio-cheia entstand die erste heidenchristliche Gemeinde (dort erhielten die „Christianer“ auch ihren Namen). In der Großstadt Alexandreia entstand das erste akademische Bildungszentrum der antiken Kirche (mit einem Origenes als Lehrer). Die letzten Heiden der nachkonstantinischen Ära waren konservative Bauern (pagani= . Heiden !)• Petrus, Paulus starben in Rom, nicht in einem palästinensischen oder italienischen Dorf, und das Papsttum schlug in dieser Capitale seine Cathedra auf.

Seit der Säkularisierung und „Lai-sierung“ der Gesellschaft gilt das Bauernland als Hort des Christentums und die Stadt als Sündenpfuhl, aus dem alles Böse an Unglauben, LlnSittlich-ke'it und: politischer Gefahr kommt. Zugegeben:! der “bäuerliche Mensch (und „Land“ war lange mit bäuerlicher Welt identisch) ist naturnäher, unaufgeklärter, autoritätsgläubiger, konservativer, sittengebundener als der Großstädter. Die weitgehende Identität zwischen Dorf- und Kirchengemeinde und die politische Protektio-nierung des Christentums auf dem Lande schufen das Bewußtsein einer christlichen Majorität, ja christlichen Gesellschaft (die alte „Christenheit“ en miniature).

' Was man in romantisierender Weise übersah, war die Tatsache, daß der

Katholizismus auf dem Lande vom vor technischen Zeitalter lebte, vom gesellschaftlichen Komment (ja sogar psychischen Druck), daß Hunderttausende, die in Großstadt und Industrie wanderten, sehr bald ihre christliche Basii und in der zweiten Generation ihrer Glauben verloren, daß die bäuerlich« Frömmigkeit pagane Züge aufwies unc der Usus nicht immer in Richtung des lebendigen Christentums ging (Kommunionempfang.'); auch strukturelle soziale und sittliche Schäden wurden gerne übersehen (uneheliche Geburten; Stellung der Knechte und Mägde, Generationskonflikte).

Als die Existenz atheistischer Jauerngemeinden in Frankreich besannt wurde, deren Unbekehrbarkeit lärter als die der antiken pagani war, setzte eine Revision der Auffassung ein; in den Städten entstanden zudem re-christianisierende und Reformbewegun-;en (Wiedererstehen einer christlichen [ntellektuellenschichte, renouveau ca-iholique in der Literatur, Entstehen des jOCisrnus; Liturgie- und Bibelbewegung, Laienapostolat, actio catho-lica usw.). Das Urbane Christentum reorganisierte sich; hat es schon seinen angemessenen Existenz- und Arbeitsstil gefunden? Hat die Kirche als Ganzes (sie wächst heute psychologisch, nachdem sie in der Antike imperiale Kirche gewesen war, erst wieder zur Weltkirche heran) die Stunde des Urbanismus erkannt [ohne die unersetzlichen Kraftquellen des Bauerntums zu verkennen)?

Immer noch beten die Priester ein .Stundengebet“ nach einem nicht mehr einhaltbaren Rhythmus. Archa-isch-levitische Nüchternheitsgebote hemmten bis vor wenigen Jahren den Kommunionempfang der Gläubigen. Die den städtischen Lebensgewohnheiten entsprechende Abendmesse war verboten (und wird heute noch eingeschränkt), während zu einer Zeit, da niemand Zeit hat, Serien von Messen zelebriert werden. Die Gottesdienste der Karwoche wurden erst jüngst auf die Abende verlegt. Prozessionen, denen von der Polizei im Großstadtverkehr mühsam der Weg gebahnt werden muß, wirken nach Teilnehmerzahl und Zusammensetzung anachronistisch. Heftiges Glockengeläute weckt am frühesten Morgen den geärgerten, spät schlafengehenden Atheisten aus 'seinem Schlaf. (Der Erzbischof von Mailand hat Glockengeläute vor sieben Uhr verboten!)

Großstadtpfarrer eignen sich Würde und Omnipotenz eines Landpfarrers an, dessen Einspruch jeden Ball in der Fastenzeit zum Erliegen bringen kann. In den Zwanzigtausendseelenpfarren bilden sich idyllische Dorfgemeinden einiger hundert Personen, die eine Ghettogemeinde in der Gemeinde bilden, anstatt zur paroisse missionaire zu werden. Bischofssitze befinden sich im Großdorf Rottenburg statt in Stuttgart, in Limburg an der Lahn statt in Frankfurt (während man in Österreich längst von Seckau nach Graz übergesiedelt ist).

Welches wären die Charakteristika eines Urbanen Christentums? Es lebt in der Diaspora, ohne politischen Protektionismus und steht in Konkurrenz mit anderen, ja gegensätzlichen Weltanschauungen. Es kann daher keine geschlossene Welt bilden, kein selbstgewähltes oder von den Außenstehenden gewünschtes Ghetto. Es hat keine vorgegebene Gemeinde, sondern muß sie in stetiger Anstrengung selbst bilden; es unterliegt der Notwendigkeit zur Werbung, ergänzt sich nicht mit Selbstverständlichkeit „biologisch“ (so sehr es sich auf die christlichen Familien stützen wird). Es kennt den einzelnen in seiner Vereinsamung und leidet am Zeitmangel des zahlenmäßig unzulänglichen Klerus. Es verlangt ein ständiges Zeugnis in der. Öffentlichkeit, mvBerufs- und' Wobrimilieu; es lebt in- dej Konfrontierung-mit einer fremden Welt und zehrt nicht von einer vorgegebenen Atmosphäre.

Es verlangt infolgedessen Reflektiert-heit des Glaubens, der sich seiner Argumente gewiß werden muß, einen erhöhten Bildungsgrad im Glaubenswissen, ein Training (Askesis!), um Widerstand gegen die „Welt“, die unausgesetzt verführt, leisten zu können. Es verlangt Selbstverständigkeit, Mündigkeit des einzelnen, weitgehende Unabhängigkeit vom gesellschaftlichen Usus einerseits, anderseits eine neue Gesellschaftsbildung auf Basis christlicher Überzeugung. Es wird von Wort und Schrift, nicht nur von Sakrament, Zeichen und Brauch genährt sein.

Christentum wird in der Stadt weder rein familiär noch traditionell noch sozial bedingt sein, sondern von einer permanenten Mission leben, die es von der Basis seiner freigebildeten Gemeinde entfaltet. Territoriale Gemeindebildungen (Pfarren) behalten ihr Recht, aber nicht ihre Ausschließlichkeit; unter Intellektuellen und Arbeitern entstehen neue „Gemeinden“ (ohne Taufrecht) an spirituellen Zentren (neue Chancen für die Orden mit geprägter Spiritualität); man ist dem Lokalklerus nicht mehr ausgeliefert, sucht seine geistliche Anregung, sein Wissen, seine Führung, wo man sie am besten findet.

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