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Inventur des Abendlandes

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In der Auseinandersetzung zwischen dem totalitären Osten und dem, was man in Ermanglung eines anderen Ausdrucks gewöhnlich als das Abendland bezeichnet, geht es um mehr und um Größeres als um einen bloßen Machtkampf, der mit Atombomben, Panzern und Flugzeugen ausgefochten werden kann. Es geht vielmehr um das überleben vornehmlich geistiger Werte.

Der Osten weiß genau, welche Werte es sind, um deren Durchsetzung auf der gesamten Erdkugel er kämpft. Sie sind in sorgfältig formulierten Dogmen festgelegt, in all dem, was Parteilinie, Diamat, Leninismus-Stalinismus heißt, in Moskau von den Führern des Weltkommunismus immer neu formuliert wird und von dem es keine Abweichung gibt, noch geben darf.

Der Westen hingegen weiß keineswegs, was er will und worin eigentlich das Erbp besteht, das er mit Einsatz aller seiner Machtmittel zu verteidigen sich anschickt. Das Programm des Westens war bisher nur negativ: Verhinderung des Über greifens totalitärer Systeme auf Europa und die westliche Hemisphäre plus einem recht verschwommenen Gemenge von Christentum, Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie und „rational comfort" ohne gemeinsamem Nenner. Es lag daher in der Luft, daß der Versuch unternommen werden würde, die Gesamtheit der geistigen Werte, für die der Westen sich einsetzt, wenn schon nicht abzugrenzen und zu formulieren, so doch wenigstens bewußt und zugänglich zu machen. Daß dieser Versuch von der auch geistigen Führungsmacht der westlichen Welt, f den Vereinigten Staaten von Amerika, unternommen werden würde, war zu erwarten. Es fragte sich nur, von welchen Persönlichkeiten und auf welche Weise.

Schon immer hat es das reizvolle Spiel gegeben, mehreren Personen die Aufgabe zu stellen, 50 oder 100 Bücher zu nennen, die man, auf Lebenszeit auf eine unbewohnte Insel verschlagen, mitnehmen würde, um die Schätze unserer Kultur nicht zu vermissen. Eine andere Form der gleichen Fragestellung ist die, welche Werke im Falle der Kolonisierung eines anderen Planeten genügen würden, die Grundlagen unserer Kultur zu bewahren. Lord Lübbock hat in seinen „Pleasures of Life" schon vor zwei Menschenaltern solch eine Bücherliste zusammengestellt, der später viele andere gefolgt sind.

Nun unternimmt es das größte lexiko- graphische Werk der Gegenwart, die britisch - amerikanische „Encyclopaedia Britannica", unter dem Sammelnamen „Great Books of the West" (Große Bücher des Abendlandes) alle für unsere Kultur wesentlichen Werke in einer einzigen Sammlung zu vereinigen und neu herauszugeben. Diese gigantische Aufgabe liegt in den Händen zweier amerikanischer Gelehrter, Robert Maynard Hutchins, des Präsidenten der Universität Chikago, und Mortimer Adler, Professors des Philosophie an der gleichen Anstalt.

Das Werk, das kommenden September in einer Volksausgabe zum Preise von 300 Dollar erhältlich sein wird, umfaßt, wie die edit amerikanische Ankündigung besagt, 54 Bände zu 32.000 Seiten und 25 Millionen Wörtern. Es enthält, außer der als bekannt und vertraut vorausgesetzten Bibel, 443 Werke folgender 74 abendländischer Autoren:

Homer, Äsdvylos, Sophokles, Euripldes, Aristophanes, Herodot, Thukydides, Platon, Aristoteles, Hippokrates, Galen, Euklid, Archimedes, Apollonios, Nikomachos; Epiktet, Plutardi, Ptolomeus; Vergil, Lukrez, Taoitius, Marc Aurel; Plotin, Augustinus, Thomas von Aquin; Dante, Macchiavelli, Kopernikus, Kepler, Chaucer, Rabelais, Hobbes, Galilei, Cervantes, Montaigne, Shakespeare, Gilbert, Harvey, Fr. Bacon, Descartes, Spinoza, Milton, Pascal, Newton, Huygens, Berkeley, Hume, Swift, Sterne, Fielding; Montesquieu, Rousseau, Adam Smith, Gibbon, Kant, „The Fede- ralist (von Hamilton, Madison und Jay, den Schöpfern der Amerikanischen Verfassung), John Stewart Mill, Boswell, Lavoisier, Fourier, Faraday; Hegel, Goethe, Melville, Darwin, Marx, Engels, Tolstoi, Dostojewski), William James, Freud.

Wie nicht anders zu erwarten, ist diese Autorenliste unter angelsächsischem Gesichtswinkel zusammengestellt, was auch das starke West-Ost-Gefälle erklärt. Beinahe die Hälfte aller Autoren sind Angelsachsen. Auffallend ist der große Anteil der Griechen gegenüber den Römern, Unter den übrigen modernen Nationen folgen einander Franzosen, Deutsche, Italiener, Holländer, Russen und Spanier. Europäer hätten die Liste wohl anders zusammengestellt; so erscheinen uns Nichtangelsachsen wie etwa Chaucer, Milton, Gilbert, Swift, Sterne, Fielding, Boswell, Gibbon, Melville und James als nicht wesentlich für das Abendland; dafür vermissen wir etwa Hesiod, Cicero, Calvin und Luther, Leibniz, Herder, Voltaire, Paracelsus, Mazzini, Burckhardt, Momm- sen und Ranke, Planck und Einstein. Daß — außer Freud — die modernen Schriftsteller und Forscher nicht vertreten sind und die Liste um die Jahrhundertwende abschließt, erklärt sich vielleicht aus der Frage der Autorenhonorare.

Was uns bei näherer und gründlicherer Betrachtung dieser Liste der führenden Geister unseres Kulturkreises am meisten auffällt, ist aber dies; ein jeder von ihnen vertritt eine ganz bestimmte, festgefügte Überzeugung und tritt für sie ein. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so einflußreiche Schule der Positivisten, die nichts gelten ließen als bewiesene Tatsachen und jede „Meinung“ verwarfen, fehlt. Auguste Comte oder Herbert Spencer suchen wir vergebens.

Wie soll nun aber der Durchschhitts- gebildete, für den ja dieser Thesaurus Culturae bestimmt ist, die ihm nun endlich zugänglich gemachten Quellenwerke benutzen? Wo ist der Faden der Ariadne, der ihn durch dieses viertausendjährige Labyrinth führen kann? Auch dafür hat amerikanische Erfindungsgabe ein Mittel gefunden, in dem von Mortimer Adler verfaßten besonderen Index, dem von ihm sogenannten Syntopikon.

Dieser erstaunliche Lehrbehelf enthält Hinweise auf alle Textesstellen sämtlicher in der Sammlung vertretenen Werke plus der Bibel, in denen eine der „Leitideen des Westens“ behandelt wird. Diese Leitideen unserer Kultur wurden von den Herausgebern in einem mühevollen Ausleseprozeß auf genau 102 reduziert; sie sind teils religiösen (zum Beispiel Gott, Seele, Ewigkeit, Unsterblichkeit, Sünde), teils philosophischen (wie Denken, Fühlen, Geist, Geschichte, Kunst, Erkenntnis, Urteil), teils politisch-soziologischen (wie Arbeit, Krieg, Recht, Staat, Verfassung, Demokratie usw.), teils naturwissenschaftlichen Charakters (wie Mathematik, Medizin, Evolution, Mechanik usw.).

Auch hier tritt das amerikanische, un- europäische Weltbild stark hervor. Begriffe wie Engel, Reichtum, Rhetorik oder Prophetie oder gar so spezifisch amerikanische Probleme wie Sklaverei oder Temperenz nätten wir kaum unter die Leitgedanken unserer Geistesgeschichte aufgenömmen. Dahingegen fehlen Be griffe wie Eigentum, Nation, Rasse und Volk, Vererbung u. a.

Trotz dieser Einwände ist aber dieser erste Versuch, das Gedankengut einer ganzen Kulturepoche zu sichten und allgemein zugänglich zu machen, geistesgeschichtlich von allergrößter Bedeutung, Er entspricht etwa der Festlegung der klassischen Schriften im alten China als Grundlage der Bildung der regierenden Oberschicht. Hier wie dort soll jeder, auf den es ankommt, in die Lage versetzt werden, sich in den großen religiösen, philosophischen und poltischen Fragen bei den Alten Rat zu holen, und zwar nicht aus zweiter, sondern unmittelbar aus erster Hand. Das Syntopikon gibt die Anleitung, alle einschlägigen Textstellen ohne Schwierigkeit rasch und bequem aufzuschlagen.

Wenn erst einmal diese „Sammlung der Klassischen Bücher des Westens", die alle wichtigen Gedanken enthält, neben der „Encyclopaedia Britannica", die alle Fakten bringt, in jeder Gemeinde- oder Stadtbücherei aufliegt, werden nach An sicht der Herausgeber erst die Grundbedingungen einer wahren Demokratie gegeben sein. Denn Demokratie im Sinne unserer Zeit bedeutet die freie und verantwortungsbewußte Entscheidung des einzelnen, die dieser aber meistens gar nicht fällen kann, ohne auf die letzten Fragen zurückzugehen. Die jüngsten Entwicklungen haben deutlich gezeigt, daß alles Wesentliche letztlich auf übermaterielle Fragen hinausläuft. Die „Großen Bücher" wollen dem souveränen Individuum das Denken nicht etwa ersparen (wie das in totalitären Gemeinwesen der Fall ist), sondern wollen ihn zum Selbstdenken, Selbstforschen und zur persönlichen Entscheidung zwingen. Vielleicht hängt wirklich die Zukunft unserer Freiheit davon ab, ob es gelingen wird, einen Menschentyp zu erziehen, von dem erwartet werden kann, daß er für die echte Geistes- und Handlungsfreiheit eintritt — eben den wägenden, wählenden, denkenden und sich frei nach seinem Gewissen entscheidenden Einzelmenschen, den Träger unserer abendländischen Kultur.

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