Oberbayern - © Foto: iStock / Liudmila Kiermeier

"Jagdszenen aus Niederthann": Protokoll eines Kriminalfalls

19451960198020002020

In einer minutiös recherchierten Studie rollt der Historiker Hans Woller die bis heute nicht restlos geklärten Ereignisse neu auf, die vor 50 Jahren in Bayern zum Tod einer jungen Romni führten.

19451960198020002020

In einer minutiös recherchierten Studie rollt der Historiker Hans Woller die bis heute nicht restlos geklärten Ereignisse neu auf, die vor 50 Jahren in Bayern zum Tod einer jungen Romni führten.

Werbung
Werbung
Werbung

I m November 1972 brach in Oberbayern Krieg aus. Ein archaischer Krieg, wie weiland Hermann Löns ihn sich in „Der Wehrwolf“ grausam lustvoll ausgemalt hatte. Der Roman handelt vom Kampf anständiger Bauern gegen jegliches „fremdes Volk“, gegen „Landstreicher, Gaudiebe, Tatern und Marodebrüder“ und „was sonst ohne Haus und Herd war“: Sie alle werden von den wackeren Bauersleuten „dahin“ gebracht, „wo sie von Gottes und Rechts wegen hingehören, unter die Erde nämlich, dass die Würmer sie fressen“. Besonders schlecht sind bei Löns’ Bauern die „Tatern“ angeschrieben. Sie „waren ja man halbe Menschen“, heißt es in dem 1910 erschienenen Bestseller – schon damals mit Glossar, das der Leserschaft erklärte, was ein „Tater“ war: ein „Zigeuner“.

„Der Wehrwolf“ spielt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sein Schauplatz ist die norddeutsche Heide. Doch ganz ähnliche Zustände, wie sie der Roman schildert, schienen 1972 in der Holledau zu herrschen, nur fünfzig Kilometer nördlich von München. Das verkündeten jedenfalls die Schlagzeilen Münchner Zeitungen von Anfang November jenes Jahres: „Zigeuner erklären Bauern den Krieg“, titelte die Abendzeitung, „Angst vor der Zigeuner-Rache“ die tz. So groß war die Angst vor der „LandfahrerInvasion“, dass brave Bürger in der Presse mit dem Hilferuf zitiert wurden: „Herr Landrat, kaufen Sie uns Maschinengewehre!“ Was war da los?

Vier Schüsse

In Niederthann, einem Weiler im Landkreis Pfaffenhofen an der Ilm, stiegen am Nachmittag des 5. November 1972, eines Sonntags, fünf Mädchen im Alter zwischen elf und achtzehn Jahren aus einem weißen Fiat mit Mailänder Kennzeichen und traten in das Wohngebäude eines am Ortsrand gelegenen Bauernhofes. Die fünf gehörten zu einer Gruppe von ca. 60 Roma, die großteils aus Jugoslawien stammten, sich längere Zeit in Italien und zuletzt in München aufgehalten hatten und nun nahe der Autobahn bei Pfaffenhofen rasteten. Von dort waren die Mädchen an jenem Sonntag mit zwei männlichen Verwandten aufgebrochen, um, wie sie später aussagten, Brot und Eier zu kaufen. Nachdem sie in mehreren Orten abgewiesen worden waren, kamen sie gegen 15 Uhr zu jenem Anwesen am Ortsrand von Niederthann.

Was dann passierte, ist bis heute nicht im letzten Detail geklärt. Es scheint, dass die fünf, während ihre Begleiter im Auto warteten, unbemerkt das Bauernhaus betraten und die Treppe hinaufgingen ins Obergeschoß. Nur wenig später machten sie, wohl von Geräuschen aufgeschreckt, kehrt und rannten die Treppe hinab, um das Haus zu verlassen. Da fielen, kurz hintereinander, vier Schüsse.

Zwei trafen die 18 Jahre alte Anka Denisova in den Rücken und in den Unterleib, die anderen Milena Ivanov, 16 Jahre alt, in die Wade und in den Bauch. Anka starb an Ort und Stelle, so auch das ungeborene Kind, das die bereits zweifache Mutter in sich trug. Die schwerverletzte Milena überlebte nach einer Notoperation. Die drei jüngeren Mädchen kamen ohne leibliche Schäden davon. Die gerichtliche Untersuchung ergab, dass alle vier Schüsse von hinten auf die Fliehenden aus einem Kleinkalibergewehr abgefeuert worden waren – vom 39 Jahre alten Besitzer des Hauses, einem bis dato unbescholtenen Mann, Nebenerwerbsbauern und Vater zweier Töchter.

Weitreichende Folgen

Mit diesen vier Schüssen begann der „Zigeuner-Krieg“ von Niederthann, der die Bundesrepublik Deutschland wochenlang aufwühlte, der ihre Gerichte noch Jahre beschäftigte und den nun – fünfzig Jahre nach den tragischen Ereignissen – eine minutiös recherchierte Studie von Hans Woller neu aufrollt. Eindringlich schildert der Historiker die vier Schüsse am 5. November 1972 und ihre weitreichenden Folgen. Ein Krieg folgte allerdings nicht, wie Woller klarstellt. Der Krieg war ein Hirngespinst der Pfaffenhofener Polizei. Als die Beamten am Tatort eintrafen, galt ihre Hauptsorge der Sicherheit des Schützen, dem nun zweifellos die „Blutrache“ der „Zigeuner“ drohte. Davon waren die Polizisten überzeugt, die ihre Befürchtungen der Presse mitteilten. Sie verhörten den Täter als Zeugen und rieten ihm dringend, sich zu verstecken; seinen Hof stellten sie unter Polizeischutz. Die drei unverletzten Romnja und die lebensgefährlich angeschossene Milena Ivanov nahmen sie wegen Verdachts auf Einbruch und Diebstahl in Haft. Bei all dem wussten die Polizisten nicht nur ihre Vorgesetzten, sondern auch die Bevölkerung hinter sich und die politischen Amtsträger im Land, von Niederthanns Bürgermeister aufwärts über den Landrat bis zum bayerischen Landwirtschaftsminister, dessen Wahlkreis in Pfaffenhofen lag. Für alle stand fest, dass der Schütze aus Notwehr abgedrückt hatte, um Hof und Familie gegen notorisches „Gesindel“ zu verteidigen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung