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JULIUS SZEKF

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Die Geschichte Österreichs ist, wie es bereits Hammer-Purgstall vor einem Jahrhundert im Hinblick auf die türkische und österreichische Geschichte ausgedrückt hat, mit der seiner Nachbarländer und darüber hinaus mit der Geschichte der meisten europäischen Nationen innig verknüpft. Wollen wir Österreicher Geschichte wirklich kennen, so dürfen wir sie nicht nur von einer Seite her sehen„ sondern müssen sie von allen Seiten her betrachten.

Wer kann sich noch an das kleine Werk „Der Staat Ungarn“ erinnern, das gerade im letzten Jahr des ersten Weltkrieges 1918 an die deutschsprachige Öffentlichkeit trat? Sein Verfasser war der damalige Privatdozent der Universität Budapest Julius S z e k f ü. In ihm besaß die ungarische Geschichtswissenschaft schon damals eine Persönlichkeit von eigenartigem Format, viel bewundert und vir! angefeindet. Szekfü kam aus jenem Kreis, der dem Eötvös-Kollegium in Budapest seine Erziehung verdankt. Diese Anstalt wurde 1896 von Baron Roland Eötvös gegründet und sah in der berühmten Pariser Ecole, Normale ihr Vorbild. Mit der Pariser Anstalt stand sie auch ständig in enger Wechselbeziehung und erhielt von dort eine Reihe erster französischer Fachkräfte. Das Ziel, des Eötvös-Kol-legiums war es, seinen Schülern eine welt-wefte Bildung mit ins Leben zu geben. Sie sollten den Blick in die Welt erhalten, der sonst nicht so leicht zu gewinnen war. Das ungarische wissenschaftliche Leben um die Jahrhundertwende stand unter dem beherrschenden Einfluß der preußisch-deutschen Wissenschaft. Demgegenüber sollte der lateinisch-romanische Einfluß den kommenden Gelehrten Ungarns die Möglichkeit gewähren, eine eigenständige ungarische Note in den Areppog der europäischen und internationalen Wissenschaft zu bringen. Paris übernahm damit auch dieser jungen ungarischen Generation gegenüber eine Aufgabe, die es bereits gegenüber dem Tschechentum erfüllte — denken wir bloß an Ernest Denis! — und die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Händen von Wien gelegen hatte: der Umschlagplatz europäischen Menschheitsgeistes im Donauraum zu sein. Aber Wiens wissenschaftliche Kreise waren um diese Zeit gleichfalls in größerem Ausmaß in den Bann des Preußentums geraten und hatten nicht mehr die alte völkerausgleichende Kraft, wie sie von den besten österreidiern der Zeit erstrebt und gefordert wurde.

Julius Szekfü war gleich zu Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit mit einem Buch über „Szerviensek £s familiarisok“ (= Ser-vienten und Famiiiaren), erschienen 1912, hervorgetreten, wenn wir von seiner Dissertation 1904 über den frühneuzeitlichen ungarischen Geschichtsschreiber Szamosközi absehen wollen. Schon in dieser Arbeit zeigte sich Szekfüs ernste und gründliche Methode, seiner Forschung eine breite wirtschafts- und sozialgeschichtliche Grundlage zu geben, die zeitgenössischen Quellen sprechen zu lassen, aus ihnen die Geschichte abzuleiten und nicht mit vorgefaßten Meinungen und Absichten an den Stoff heranzutreten. Diese realistische, jeder Schön- und Schwarzfärberei völlig abholde Darstellung des Verfassers führte dann 1913 zu jenem literarischen Aufruhr um Szekfüs Buch „A szamüzött Rakoczi'* ( = Rakoczi in der Verbannung), das das Leben Franz IL Rakoczis, des Fürsten von Siebenbürgen, nach seiner Flucht in die türkische Emigration schildert (1715—1735). Es ist bezeichnend, daß in den Angriffen, die gegen dieses Buch gerichtet waren, Szekfü keiner einzigen Unrichtigkeit, aber der „pietätlosen Aufrichtigkeit“ geziehen wurde. Und dies deshalb, weil er eben das Bild eines Mannes wahrheitsgetreu zeichnete, das bisher von dem Schimmer einer Heldenlegende umwoben gewesen war. Dabei wird er wohl Rakoczi vollkommen gerecht, aber er stellt vor allem sein Leben in das richtige historische Milieu und übernimmt es, auf seine außenpolitische Tätigkeit einzugehen. In die gleiche Linie kritischer Betrachtungsweise fällt das Buch „Harom nemzedek“ (Drei Generationen), das 1918/1919 erschien. „Drei Generationen“ — es sind die drei Generationen, die das 19. Jahrhundert ausmachen, die uns Szekfü vorführt. Was sich in seinem Rakoszi-Budh bereits angedeutet hat und was er in seinem Werk „Der Staat Ungarn“ schon deutlicher ausspricht, das tritt nunmehr völlig an das Licht der Öffentlichkeit. Durch jahrelanges Studium in den Wiener Staatsarchiven, wo er im Auftrag des ungarischen Staates weilte, waren ihm Quellen und Kenntnisse in überreichem Maße zugefloßen. Aus ihnen heraus baute er das 19. Jahrhundert. Für ihn ist es das Jahrhundert der beiden Gegenspieler Kossuth und Szechenyi.' Szechenyi hat wohl den Beinamen des „größten Ungarn“, aber das öffentliche Leben wird von Kossuth beherrscht. Für Szekfü aber bedeutet Szechenyi mehr a 1 ? Kossuth. So wie er in völlig realistischer “rkenntnis der Lage für die zeitbedingte Vernünftigkeit der Verbindung Ungarns mit Österreich eintrat und die Anklagen einer früheren Geschichtschreibung gegen die “Wiener Regierung auf das vertretbare Maß herabschraubte, so umriß er auch jetzt die Bedeutung der beiden Männer Sz&henyi und Kossuth für die ungarische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Er war weit davon entfernt, die Bedeutung Kossuths zu unterschätzen, er weist auch darauf hin, daß es gerade unter den geistigen Erben Kossuths eine Anzahl bedeutender ungarischer Staatsmänner gegeben habe — doch all das hindert ihn nicht, darauf hinzuweisen, daß nach seiner Meinung Szechenyi derjenige Mann gewesen ist, dessen Anschauungen es besser als die Kossuths ermöglicht hätten, die Überlieferungen der Vergangenheit mit den Erfordernissen der Zukunft zu verbinden. Je mehr sich das moderne Ungarn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Grundsätzen Szechenyis entfernt, um so tiefer greift nach der Darstellung des Verfassers der Verfall des nationalen Lebens, so daß für Szekfü gerade diese Zeit des äußerlichen politischen und wirtschaftlichen Aufschwungs seit dem Ausgleich von 1867 innerlich als eine Zeit des Verfalls und der Dekadenz erscheint. Schon in seinem Buch über den „Staat Ungarn“ (1918) hatte Szekfü die Bedeutung Szechenyis mit folgenden Worten umrissen: „Szechenyis wirkliche Größe bestand darin, daß er sich mit der Besserung der sozialen, wirtschaftlichen und verfassungsrechtlichen Institutionen nicht begnügte, sondern, das Obel tiefer anfassend, die ganze seelische Konstitution seiner Nation als krank behandelte. Dadurch erst ist die von der literarischen Bewegung angestrebte nationale Renaissance verwirklicht und diese selbst zu seinem Lebenswerk geworden, während er die Durchführung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Reformen unter dem Druck der Verhältnisse teils der radikale* Partei, teils dem nachher einsetzenden Ab-! solutismus überlassen mußte. Von seiner* Volke forderte er strenge Selbsterkenntnis und harte Selbstdisziplin, er hielt ihm einen Spiegel vor, auf daß es seine Fehler erkennen möge. Denn Ungarn sei kein Dorado und keine Utopia, und- zu sagen, außer Ungarn sei kein Leben, ist eine unnütze und Lachen' oder Mitleid erregende Rede. In Wirklichkeit sei Ungarn trotz seiner Naturschätze ein zurückgebliebenes Land, seine Bevölkerung habe enge, beschränkte Ansichten, führe eine gebundene, kulturlose Lebensweise, der Staat selbst liege in den Fesseln des Ständewesens Szechenyi scheute sogar vor der Verletzung des nationalen Stolzes nicht zurück. Er geißelte die nationalen Untugenden, unter anderem den Neid und Rachedurst, die falsche Auffassung der Ritterlichkeit. An der Bildung des Nationalgeistes müsse man zielbewußt arbeiten, er sei nie so ausgebildet und vollkommen, daß solche Arbeit nicht mehr not tue . . . Zur Zeit eines selbstzufriedenen und unproduktiven Ständetums trat er auf, der einzige, der einen bewußten aktiven und schöpferischen Willen besaß, um aus den starren ständischen Formen und aus dem rückständigen Volkstum eine hochentwickelte, den großen westlichen ebenbürtige Nationalität zu schaffen ... Er ist der wahre Schöpfer der modernen Nation, denn er war der einzige, der sich mit klarem Blick vom Alten lossagte und alles von der tätigen Arbeit der Zukunft erhoffte. ,Das Vergangene! entzog sich unserer Herrschaft, doch die Zu-' kunft liegt in unserer Macht. Plagen wir uns daher nicht mit fruchtlosen Reminiszenzen. Viele meinen: Ungarn sei gewesen — ich glaube lieber: es werde sein!' “

Diese Worte Szechenyis wurden Szekfü selbst ein Ansporn. Er hatte sich während seiner Arbeit immer mehr in den Geist Szechenyis hineingelebt. Er fühlte die Verpflichtung, wie Szechenyi vor die Öffentlichkeit zu treten. 1924 war er bereits -als Professor an die Universität Budapest berufen worden. Nun konnte er 1927 die Redaktion der „M a g y a r S z e m 1 e“ (Ungarischen Rundschau) übernehmen und sich hier ein Sprachrohr schaffen, um seinen Gedanken weiteren Spielraum zu geben: hier wollte er für seine Ideen einer geistigen Erneuerung des Volkes im Sinne eines europäisch-religiösen Bewußtseins wirken. Denn für Szekfü war und blieb Ungarn, allen Rassenideologien zum Trotz, ein Glied der e u r o p ä i s c'h en Völkerfamilie, mit den großen Nationen der Welt durch seine Geschichte und seine Kultur untrennbar verbunden.

So konnte endlich aus dem Gesamtwerk eines reichen Gelehrtenlebens — es waren noch inzwischen die „Irtatok a magyar allamnyely kerdesenek törtenetehez 1790— 1830“ ( = Schriften zur Geschichte der ungarischen Staatssprache 1790—1830), 1926 und 1929 eine Biographie des siebenbürgi-schen Fürsten Bethlen Gabor erschienen — , die zusammenfassende Darstellung der „U n-g a r i s c h e n Ge sc h i c h t e“ hervorwach-sen, die er bis 1934 in sieben Bänden zusammen mit V. Homan der Öffentlichkeit vorlegte. Während Homan die Darstellung des ungarischen Mittelalters zu schreiben unternahm, begann. Szekfü seine Darstellung mit der Herrschaft des Königs Matthias I. Corvinus (1458—1490) und führte die Darstellung bis auf den Beginn des ersten Weltkrieges 1914 fort. Diese neue ungarische Geschichte sollte in der breiten Öffentlichkeit die Ungarische Milleniumsgeschichte ersetzen, die 1896 von AI, Szilaghyi veröffentlicht worden war und deren Urteile und Darstellungsweise sich in weiten Teilen des Werkes nicht mehr aufrechterhalten ließen. Die Homan-Szekfüsche Geschichte stellt eine Leistung dar, die in würdiger Weise die ungarische historische Wissenschaft heute vor der breiten internationalen Öffentlichkeit vertritt.

Zum 60. Geburtstag Szekfüs am 23. Mai 1943 hat ein Fachkollege die Gestalt d?s ungarischen Historikers mit folgenden Sätzen gezeichnet: „Eine Vertiefung in sein ganzes

Lebenswerk könnte uns erst den Mann zeigen, dessen herber. Skeptizismus liidit beschwingt, sondern zur kritischen Erwägung der Kräfte und Tatsachen anregt, sieht vorwärtstreiBt, sondern bremst und mit quälerischer Selbstversenkung die Wurzel der Fehler und die Möglichkeit einer Besserung sucht. Diese Haltung zieht unvermeidlich das Gefühl der Einsamkeit nach sich. Szekfü steht allein, so viele auch auf ihn hören mögen, er lehrt ohne den Optimismus des Erziehers, allein seinem Pflichtbewußtsein als Historiker gehorchend. Sein an Jahrtausenden geschultes Gefühl sucht im Heute die Ewigkeitswerte von dem Alltäglichen zu sondern, aus seiner Kenntnis der Vergangenheit wächst sein Mißtrauen gegen die Gegenwart, und die Zukunft scheint ihm nur deshalb nicht finster zu sein, weil er an die ewige Gesetzmäßigkeit der Geschichte glaubt.“ Diese Worte zeigen uns Szekfü als den großen Gelehrten, der selbst da, wo er Widerspruch findet und irren mag, das Gewissen seines Volkes ist.

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