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Karl Rokitansky

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Unser Vaterland begeht in diesen Tagen die Feier des 150. Geburtstages eines seiner großen Söhne, des Pathologen Karl Rokitansky, des Begründers der zweiten Wiener medizinischen Schule. Er lebt in der Erinnerung der Nachwelt als Erneuerer und Wegbereiter der modernen Medizin, als Meister des Skalpells, als bedeutender Forscher und Gelehrter. Damit gedenkt man nur einer Seite seines reichen Lebens, denn nicht minder groß war er als Mensch und Philosoph, als Politiker und als Organisator des österreichischen Sanitätswesens.

Mir als medizinischem Laien steht es nicht an, mich tiefer mit den epochalen Leistungen meines Großvaters auf medizinischem Gebiete einzulassen — dies geschieht in diesen Tagen von berufener Seite —, wohl aber darf ich, die Gastfreundschaft der „Oesterreichischen Furche“ gebrauchend, als sein ältester noch lebender Enkel, auf dem als zweijährigem Kinde seine Augen ruhten, pietätvoll versuchen, in kurzen Strichen die Fülle seines Daseins nachzuzeichnen und die mächtige Totalität seiner Erscheinung unserer Zeit zu vergegenwärtigen, denn Karl Rokitansky war mehr als ein Anatom, und niemals ließ er sich von seinem Fachgebiete ganz in Fesseln Schlagen.

Karl Rokitansky entstammte zwei alten böhmischen Familien und wurde am 19. Februar 1804 — sieben Tage nach dem Tode Kants und im Jahre der Krönung Napoleons I. zum Kaiser der Franzosen — in Königgrätz geboren. Er verbrachte seine Kinderjahre froh und glücklich in der kultivierten Häuslichkeit einer höheren Beamtenfamilie unter der Leitung seines trefflichen, bereits 1813 verstorbenen Vaters, des k. k. Kreiskommissärs Prokop Rokitansky, und Unter der liebenden Fürsorge seiner Mutter Therese, geb. Lodgman von Auen. Beiden bewahrte er bis zu seinem Ende ein dankbares Angedenken. Der Tod des Vaters brachte die Familie in kümmerliche Verhältnisse; Karl Rokitansky konnte dank dem Opfermut seiner Mutter und der Unterstützung seiner Verwandten die Gymnasialstudien vollenden und die Prager Universität beziehen. Entgegen dem Wunsche seiner Mutter, daß er Jus studiere, wandte er sich, ohne dafür eine besondere Neigung zu verspüren, dem Studium der Medizin zu; er schreibt in seinen Erinnerungen darüber:

„Wenn mir Gelegenheit und Anregung geworden wäre, so hätte ich, bevor ich zu naturgeschichtlichen Studien, namentlich Anatomie Liebe gefaßt, für Philosophie und Linguistik, zumal zum Berufe des Verständnisses der antiken Spekulation mich entschieden."

In Prag hörte er ein Semester den Priesterphilosophen Bolzano, dem er in seinen Erinnerungen dankbare Worte widmet und der auf seine philosophische Weltanschauung Einfluß genommen hat.

1824 auf die Universität in Wien übersiedelt, hat er hier am 6. März 1828 den Doktorgrad erworben. Kurz darauf wurde er unbesoldeter Praktikant der pathologischanatomischen Anstalt, der er bis zu seiner Pensionierung angehörte, schließlich 1844 zum ordentlichen Professor der pathologischen Anatomie ernannt; gleichzeitig wurden die Vorlesungen in diesem Fache für die Studierenden der Medizin obligat.

Seinen ungeheuren Fleiß und seine Schaffensfreude an dieser Anstalt zeigt die Tatsache, daß das erste von ihm gezeichnete Sektionsprotokoll vom 1. November 1828 die Nummer 4781 trägt und das letzte, am 31. August 1875, dem Tage seines Abschiedes von der Lehrkanzel, die Zahl 64.567 aufweist. In diesem Zeiträume wurden überdies noch zumindest 25.000 Leichenöffnungen über behördlichen Auftrag vorgenommen. Die Früchte seiner Forschungen war sein „Handbuch der pathologischen Anatomie“, dessen drei Bände 1842 bis 1846 erschienen sind. Hierüber fällte Virchow in seinen im Jahre 1895 verfaßten Erinnerungen folgendes Urteil:

„Es erwies sich sofört als das beste unter allen vorhandenen Lehrbüchern und als das eigentliche Fundament der praktischen Medizin noch auf den heutigen Tag ist es unerreicht geblieben."

Die zahlreichen kunstvollen Zeichnungen in diesem Werk stammen von seiner Hand.

Seine Schüler schenkten ihm als akademischem Lehrer lebhafteste Verehrung und Anhänglichkeit, die sich wiederholt offenbarten, so bei dem Fackelzuge, den die gesamte Studentenschaft aller Wiener Hochschulen ihm anläßlich seines 70. Geburtstages brachte.

Bei der Eröffnung des neuen pathologischanatomischen Instituts hielt er am 24. Mai 1862 vor einer erlesenen Gesellschaft eine Rede, bei der er es „auf einen Eklat“ anlegte. Er forderte Freiheit von jeglichen Fesseln für die Naturforschung und verteidigte die mechanistische Forschungsmethode in den Naturwissenschaften als die allein zulässige, wies aber zugleich den Materialismus als Weltanschauung auf das entschiedenste zurück.

Während nun seine Gegner und Neider - Rokitansky hatte deren viele — auf seine Rede eine Absage der Regierung erhofften, erfolgte seine Berufung durch Staatsminister von Schmerling in das Ministerium zur außerordentlichen Dienstleistung als medizinischer Fachreferent unter gleichzeitiger Ernennung zum Hofrat. Nun hatte er einen mächtigen Einfluß auf die Gestaltung des medizinischen Studiums, Berufung von Professoren und auf die Organisation der Universitäten. Auf ihn gehen die Neugründungen bzw. die Neugestaltungen der medizinischen Fakultäten in Graz und Innsbruck zurück. Seit Errichtung des obersten Sanitätsrates, dessen Präsident er war, unterstand ihm auch das gesamte Sanitätswesen Oesterreichs.

Seit 14. Juli 1848 Mitglied der von Kaiser Ferdinand I. gegründeten kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, wurde er im Jahre 1866 zu ihrem Vizepräsidenten, 1869 zu ihrem ersten Präsidenten gewählt. Diese Würde schätzte er besonders hoch; gerne trug er bei offiziellen Feierlichkeiten deren kleidsame Präsidentenuniform. Die Tribüne dieser gelehrten Körperschaft diente ihm nun, in einer Reihe glänzender Reden seiner idealistischen Weltanschauung Ausdruck zu verleihen und nachzuweisen, daß gerade der besonnene empirische Forscher sich eines allmächtigen Metaphysischen bewußt werden müsse.

In seinen drei großen Reden „Zur Orientierung über Medizin und deren Praxis“ (1858), „Der selbständige Wert des Wissens“ (1862) und der gedankentiefsten: „Die Solidarität alles Tierlebens“ (1869) hat er den Schatz seiner Lebenserfahrung offenbart und wie kein anderer vor ihm aus der Naturwissenschaft heraus die Idealphilos o- p h i e entwickelt, die zum Ergebnisse führt, daß die mechanistische Forschungsmethode allerdings zu den größten Aufklärungen führe, aber nie das Rätsel des Lebens lösen und nie das dem Menschen eingeborene metaphysische Bedürfnis befriedigen könne und daß im gesamten Lebensbereiche eine Solidarität des Leidens bestehe, die sich im Menschengeschlechte zu einer Solidarität des Mitleides erhebe.

„So erscheinen", sagte er, „die Lehren der liebreichsten Religionen, nach welchen man das Leiden der anderen auf sich zu nehmen habe, als die erhabensten Ante g u p g ė n.“

Diese metaphysische Weltanschauung Rokitanskys ist um so eindrucksvoller, als gerada damals die materialistische Weltanschauung durch die Propagandaschriften eines Büchner, Vogt und Moleschott in den ärztlichen und naturwissenschaftlichen Kreisen weite Verbreitung gefunden hatte.

Er war ein großer Tierfreund. Als er einmal einen an Krankheit verendeten Hund sezierte und ein bestimmtes Krankheitsbild vorfand, sagte er: „Ganz wie beim Menschen. Warum nicht? Es sind ja unsere Brüder.“ Gegen Vivisektionen hatte er eine unüberwindliche Abneigung. Er hat die Grausamkeit als das größte aller menschlichen Laster empfunden.

Mit Handschreiben vom 25. November 1867 ernannte Kaiser Franz Josef I. Rokitansky zum lebenslänglichen Mitglied des Herrenhauses. Die Feier seines 70. Geburtstages war ein Fest voller Herzlichkeit und einmaligen Ausmaßes. Nie, weder früher noch später, wurde ein Gelehrter auf solche Art geehrt.

Er hat in einem bescheidenen Wohlstand gelebt. Sein Hauswesen, das unter der Leitung seiner ihm an Geist und Herz ebenbürtigen Frau, die er 1834 geheiratet hatte, stand, atmete jene Kultur aus, die in den damaligen vornehmen Kreisen zum guten Ton gehörte. In diesem Heim wurde die klassische Musik gepflegt, es war oft die Stätte fröhlicher Geselligkeit, bei der Rokitansky und seine Frau mit Liebenswürdigkeit die Honneurs machten. Als Gatte und Vater seiner vier Söhne, die es alle zu angesehenen Lebensstellungen brachten, war er seiner Familie mit unendlicher Liebe und Treue zugetan. Von vornehmer Gesinnung und Haltung, war er ein Gemütsmensch von schwerer melancholischer Lebenshaltung, freundlich und gütig gegen jedermann, weder hochfahrend noch stolz gegen Untergebene, von unwandelbarer Treue gegen seine Freunde. Den Beruf als praktischer Arzt hat er nie ausgeübt.

Karl Rokitansky ist am 23. Juli 1878 um 4.30 Uhr in seinem Landhause zu Hernals an einem Herzanfall (Angina pectoris?) bei klarem Bewußtsein gestorben.

Im Strome der Zeit wurde sein Name verhältnismäßig früh von der Allgemeinheit und auch in ärztlichen Kreisen vergessen; denn sein Lebenswerk war, wie der allzufrüh verstorbene Wiener Pathologe Rudolf Maresch in einem Festvortrag am 17. März 1934 sagte, schon früh „Allgemeingut und dadurch namenlos geworden — namenlos wie so manche andere gewaltige Schöpfung."

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