6637369-1957_23_17.jpg
Digital In Arbeit

König und Märtyrer

19451960198020002020

Ludwig XVI. oder das Ende einer Welt. Von Bernard Fay. Verlag Georg D. W. Callwey, München. 495 Seiten, 35 Bildtafeln

19451960198020002020

Ludwig XVI. oder das Ende einer Welt. Von Bernard Fay. Verlag Georg D. W. Callwey, München. 495 Seiten, 35 Bildtafeln

Werbung
Werbung
Werbung

„Ludwig XVI. hat niemals Propaganda für sich gemacht, noch jemanden gefunden, der es für ihn getan hätte“, stellt Bernard Fay fest, der als erster, eineinhalb Jahrhunderte nach dem Tod des letzten Königs des Ancien regimes, dessen unfrohe Jugend und dornenvollen Lebensweg eingehend geschildert hat. Wer fragt bei dieser Feststellung, warum nach der Rückkehr Ludwigs XVIII., als dies für die wenig geachtete Dynastie von größter Wichtigkeit gewesen wäre, Abstand genommen wurde, den „Roy martyre“ durch die Widerlegung zahlloser Verleumdungen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Allein wegen des nunmehrigen Königs und seines Bruders, die sich schon vor 1789 um jedes Ansehen gebracht hatten, war ein derartiger Rehabilitierungsversuch undurchführbar.

Als dritter Sohn des Dauphins und Maria- Josephas von Sachsen am 23. August 1754 geboren, wurde der Prinz in der Wiege zum Herzog von Berry ernannt. Anders als seine Brüder, war er von so zarter Konstitution, daß ihn niemand als den präsumtiven König betrachtete. „Berry fühlte sich auch diesem Grund recht verlassen. Dafür war sein Innenleben um so reicher, aber es gehörte ihm allein. Weder Vater noch Mutter oder sein Erzieher hatten verstanden, sein Vertrauen zu erwerben. Seinem Großvater Ludwig XV. stand er viel näher, denn beide liebten die Jagd und das Leben im Freien.“ Nur ungern kehrte der Dauphin von den anderen Schlössern nach Versailles zurück, wo er das Hofleben mehr als anderwärts als einen Zwang empfand. Erst in der Abgeschiedenheit seiner Schlosserwerkstätte, unter dem Dach des Versailler Schlosses, oder wenn er allein seinen Studien nachgehen konnte, versöhnte er sich mit seinem Schicksal. „Sieben Jahre hatten sein Vater, ein begabter Mann, und seine Mutter, eine bemerkenswerte Frau, seine Studien geleitet.“ Mit 14 Jahren las er die .lateinischen Klassiker und konnte Sich in mehreren lebenden Sprachen verständigen. Gänzlich verfehlt ist deshalb das Urteil mancher oberflächlicher Beobachter, die vom Dauphin behaupteten, es fehle ihm an Verstand und Empfindsamkeit, jener „sensibilitė“, die uns heute als ein Vorgaukeln zarter, unsere Vorfahren zu Tränen rührender Gefühlsäußerungen lächerlich erscheint.

Seit seiner Kindheit war Ludwig XVI. durch seine starke Kurzsichtigkeit arg behindert. Selbst Menschen aus seiner ständigen Umgebung erkannte er bisweilen erst an ihrer Stimme. Diese als Beschränktheit oder gar als Indifferenz mißdeutete Haltung und weiter das Widerstreben, durch banale Phrasen die Menschen für sich zu gewinnen, waren Auswirkungen der lieblosen Erziehung. „Wen meinen Sie, den ich hier am meisten lieben soll, wo ich mich doch von niemand geliebt sehe“, fragte er seinen Gouverneur, der ihm bedeutete, er habe den Spielregeln gemäß den im Lotto gewonnenen Gegenstand jener Person zu schenken, für die er die größte Zuneigung empfinde. Ein andermal war in seiner Gegenwart von früheren Königen und deren Beinamen die Rede. Auf die Frage, wie er einst genannt werden möchte, antwortete er mit einer Schlagfertigkeit, die erraten ließ, daß er sich viel mit seiner Zukunft beschäftigt und entschlossen sei, möglichst viel Mißfälliges abzustellen: „Ludwig der Strenge.“ Von seiner Mutter war der Dauphin neben den für jedermann geltenden Pflichten auf die besonders durch „die schönste Krone der Welt“ auferlegten, wie Maria Josepha sie nannte, hingewiesen worden. Als „Nachfolger des einunddreißigsten Königs“ seines Geschlechts habe er sich Ludwig XIV. stets zum Vorbild zu nehmen. „Nichts ist gefährlicher als Schwäche", hielt ihm die Mutter vor, die wie alle Welt weit davon entfernt war, an eine so radikale Umwälzung wie die von 1789 zu denken. Ihr damals kaum aufscheinender, heute eingehend zu übersehender Prozessus ließ die Gefahren nicht vorausahnen, denen ihr in den Stunden höchster Gefahr unverzagter Sohn machtlos wie einer Elementar-, katastrophe gegenüberstehen würde. „Im Sterben hat Ihr Vater Ihnen die Regel Ihres Lebens hinterlassen: den Herrn fürchten, die Religion lieben, genau den Umfang und die Grenzen Ihrer Autorität kennen."

Durch Maria-Josepha hiezu angeregt, zeichnete der Dauphin ihre Ermahnungen, die Gespräche mit seinem Gouverneur, die religiösen und weltlichen Obliegenheiten jedes Souveräns auf: „Frömmigkeit und Wohltätigkeit vor Gott, nicht wegen der Anerkennung durch die Mitmenschen; die Humanität in der Anwendung und Befolgung der Gesetze.“ „Ein guter König darf kein anderes Ziel haben, als sein Volk glücklich zu machen und eine strenge Ausübung der Rechtsprechung durch die Richter zu sichern, denn er darf nicht allein verurteilen“, der Thron ist zu weit entfernt von den Kleinen und zu sehr umlagert von den Adeligen. Die Parlamente, welche kein souveränes Recht besitzen und den König nicht vertreten, sind deswegen nicht minder nützlich. Der König darf anderseits niemals die natürlichen Rechte seiner Untertanen vergessen, die jedem politischen und weltlichen Gesetz vorangehen „Leben, Ehre, Freiheit und Eigentum.“ König Ludwigs Gottvertrauen ließ ihn auch niemals um sein Leben bangen. Als der Pöbel die Tuilerien stürmte, ein zerlumpter Trunkenbold den König anfaßte und ihm dabei zurief: „Du hast ja Angst für dein Leben“, packte er ihn bei der Hand und drückte sie an sein? eigene Brust: „Fühle hier, ob mein Herz etwa stärker schlägt 1“ — „In diesem Jahrhundert der Gottlosigkeit und Emanzipation, der Trägheit und Gleichgültigkeit“,

setzt der Dauphin fort, „hat der Souverän besonders wachsam zu sein."

Diese Aufzeichnungen verraten die auf den Dauphin durch die „neuen Ideen" ausgeübte Wirkung, welche, in die Praxis übertragen, anstatt eines evolutiven Fortschritts, eine radikale Umwälzung herbeigeführt haben. Bedenkt man weiter, daß seit den Reformplänen Ludwigs XVI. bald 200 Jahre verstrichen sein werden, ist man nicht wenig erstaunt, um wieviel sozialer er dachte und wirkte als die sich an Phrasen und unerfüllbaren Versprechungen berauschenden Politiker. Als schließlich 1788 die besitzenden Klassen sich dem König in der Durchführung seiner Reformpläne versagten, gewann er im Katastrophenwinter von 1783/84 die Herzen aller Betroffenen, als er die Bekämpfung des allgemeinen Notstandes organisierte und die hierzu erforderlichen Mittel durch Einsparungen im Hofstaat durchführte sowie die Zuwendungen an Günstlinge bedeutend einschränkte.

Zieht man den moralischen Tiefstand des Hofes, an dem König Ludwig geboren und herangewachsen, und aller Kreise in Betracht, in denen die von den Ausländern als neuer Machtfaktor bestaunte „öffentliche Meinung“ sich bildete, oder denkt man an die Machenschaften der königlichen Familie gegen ihr Oberhaupt, an den Adel, der mit dem Königtum stand und aus eigener Schuld auch gefallen ist, denkt man an die feindselige Einstellung der Intellektuellen, gereicht es Ludwig XVI. zu Ehren, daß in dem aufgezwungenen Kampf gegen diese überwältigende Opposition die Lauterkeit seines Charakters auch in den schwierigsten Lagen unangetastet geblieben ist. Neben Alexis von Tocqueville, der 1856, frei von jeder propagandistischen Note, in seinem „L’Ancien regime et la Revolution“ als erster richtunggebend das Wesen aller Fragen erfaßt, hat Bernard von Fay hier nach einem Jahrhundert dem „Roy martyre“ den ihm zukommenden Platz unter den verkannten Opfern der Revolution gesichert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung