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Kommt der Gesundheitspab?

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Das Bestreben, Krankheiten in ihren Anfangserscheinungen oder ganz allgemein vorzubeugen, hat sich aus dem Entwicklungsgang der Medizin ergeben; vor allem durch die Verfeinerung der Untersuchungsmethoden in der medizinischen Chemie, der Funktionsprüfung der Organe, Serumkunde, Röntgen, Elektrokardio- und En-cephalographie usw.

Vorläufer waren die Untersuchungen der Pertonen, die mit Tuberkulosekranken bluts-, also erbmäßig verwandt oder in Kontakt waren. Da konnte man durch Isolierung und Aenderung der Ernährungs-, Wohn- und aller Umweltbedingungen im Laufe der letzten Jahrzehnte und zuletzt auch durch Heilmittel diesem Leiden so ziemlich den Schrecken nehmen. Dazu gehören auch die bewährte, in vielen Ländern obligate vorbeugende BCG-Impfung, ferner die Schul- und andere Fürsorgen. Auf diese Art ist man auch schon lange mit den Pocken fertig geworden und bald wird man den Wundstarrkrampf, den Scharlach, die DiphtHerle usw. in ihrem Verlauf durch vorbeugende (Schutz-) Impfungen viel milder gestalten können. Jeden--falls werden diese Impfungen künftig von allen in Betriebe neu Aufzunehmenden gefordert werden. Die letzte Etappe, nach den Vorschriften über die ansteckenden Krankheiten überhaupt, die außer ihrem Träger auch weite Kreise der Bevölkerung in Gefahr bringen, ist die Hygieneordnung für die gesundheifsgefährdeten Betriebe (Arbeitsmedizin) mit ihren Vorschriften für die Betriebe und Untersuchungen der Gefährdeten in kurzen Zwischenräumen. Und nun zur allgemeinen Krankheitsvorbeugung: Man fängt jetzt damit schon überall beim Ungeborenen an (Schwangerschaftsfürsorge) und untersucht vom Säugling bis zum Eintritt ins Leben bzw. in den Beruf.

Soweit wäre schon viel getan, was auch hinsichtlich der Krebsprophylaxe gesagt werden kann. Dafür sprechen die zum Beispiel in Wien in mehreren Spitälern und Ambulatorien angeschlossenen, diesem Zwecke gewidmeten Untersuchungsstellen.

Wie sieht es aber mit der Krankheitsvorbeugung der reiferen Jahrgänge aus? Wir wollen nur die Abnützungskrankheiten der Blutgefäße herausgreifen, durch die bekanntlich in unseren Tagen die allermeisten Todesfälle, zum. Beispiel durch „Managerkrankheit“, besonder bei Rauchern, zu beklagen sind; die Blutdruckleiden, Raucherbeine, Erkrankung der Hirnarterien (Schlaganfälle) und die vielen vageren Gefäßleiden, Neurosen usw.

Fast immer künden sich solche Schäden, wenigstens bei den Funktionsproben, früh an, aber die richtige Beachtung und zeitgerechte Untersuchung wird versäumt. Dazu kommt noch ein komplizierendes Uebel, das jetzt sehr verbreitet ist, die Fettsucht, meist mit Blähbauch (Meteorismus), die über einen gewissen Reflex (gastrokardial, das heißt über die Baucheingeweide) zur Querverdrängung des Herzens und zu „Stenokardie“ (Pseudo-Angina pectoris) führen kann. Auch die sogenannten Raucherbeine werden so meist viel zu spät beachtet. Ebenso sind die Fettsucht und die Zuckerkrankheit nicht plötzlich da. Beide werden aber selten rechtzeitig angegangen.

Ich rief mit Dr. G. Althaus mehrere Jahre vor dem zweiten Weltkrieg ein „Institut zur periodischen Untersuchung anscheinend Gesunder“ in Wien ins Leben, das ich mit mehreren Fachärzten führte. Wenn die Anstalt auch überwiegend von um ihre Gesundheit besonders Bedachten aufgesucht wurde, so fanden sich doch viele ernstlich Kranke darunter, abgesehen von vielen auch seelisch Leidenden, die man früher als „Neurastheniker“ abgetan hat. Jetzt kann aber, dank neuer psychologischer Erkenntnisse, vom einfühlenden Fachmann solchen Kranken auch in diesem Rahmen vielfach geholfen werden.

Auf alle diese Probleme stößt also der vielbeschäftigte Arzt, so daß er sich langsam nur von der systematischen Durchuntersuchung der Gesamtbevölkerung einen ■ verhältnismäßig guten Schutz vor den vielen schleichend verlaufenden Krankheiten versprechen kann. In diesem Sinne hat ein Arzt des Londoner Vorortes Peckham versucht, sich in einer eigens dazu adaptierten Siedlung, mit allem Komfort, nach dreijähriger Beobachtung ein genaues Bild des Gesundheitszustandes der dort wohnenden 1700 Männer, Frauen und Kinder zu machen, wobei er streng alle Mängel registrierte. Das Ergebnis, abgeschlossen im Jahre 1938, war:

31,6% Kranke, die sich auch krank fühlten, 59,0% mehr oder minder als krank Anzusprechende, die sich gesund fühlten (darunter 5 8 Kreislaufkranke, 48 Nierenkranke und 2 Luetiker), und nur 9,4% anscheind ganz Gesunde.

Der hohe Hundertsatz Kranker ist also (nach Abzug mancher Lappalienfällel) auf den beschwerdefreien, also ihrem Träger unbewußt verlaufenden Gang des Krankheitsgeschehens zurückzuführen. Das muß doch zu denken geben. Ich habe deshalb 1949 angeregt, bei uns ein dem Peckham-Experiment ähnliches in einer unserer Vorstädte zu machen, nach der der Wiener Tradition angemessenen strengen Kritik. Hoffentlich wird es eines Tages wahr werden. Ich erhoffe mir damit auch einen Beitrag zur Erbforschung und besseren Präzisierung des Begriffes „gesund“.

Nun unterscheidet man bei jedem Menschen das äußere Erscheinungsbild (den Phänotyp), der sich nach Abschluß der Entwicklung im allgemeinen wenig verändert und der dem geschulten Mediziner manches über die Gegenwart des Betreffenden aussagt. Es gibt aber auch ein inneres Erscheinungsbild (den Genotyp), das der Arzt mit manchem Vorbehalt nur mit Hilfe der Familienkrankengeschichte (Anamnese) gewinnen kann. Eine gut und auf Basis langer Erfahrung erhobene Anamnese kann die wertvollsten Fingerzeige zur Erkennung von beginnenden Krankheiten geben, auch zur Verhütung von Komplikationen bei allen möglichen Zuständen, wo von einer Krankheit noch nicht gesprochen werden kann, vielfach auch bei Neigung zu einer gewissen seelischen Ab-artigkeit.

Zu diesem Zwecke soll ein Gesundheitsheft (Gesundheitsstammbuch) angelegt werden, das demnächst der Weltgesundheitsorganisation zur allgemeinen Verbreitung vorgelegt wird. Wien mit seiner alten medizinischen Tradition soll als erste Stadt für Sinn und Nutzanwendung dieser Form der Prophylaxe von Krankheiten Propaganda machen, die als freiwillige Maßnahme, also nicht von den Behörden acis, auch guter demokratischer Gesinnung entspricht.

Man bedenke ferner, wie viele Fragen überflüssig werden, um wieviel dadurch die Ordinationszeit verkürzt wird, wenn auf knappem Raum und übersichtlich die eventuelle A n-f ä 11 i g k e i t aufscheint, ebenso wie alle wesentlichen Krankheiten, Operationen, Unregelmäßigkeiten beim weiblichen und männlichen hormonalen Geschehen, Gewichtskurve, Mißbräuche in Genußmitteln (zum Teil allerdings verschönt zugegeben!), frühere Spitalsund Laboratoriumsbefunde usw. Bei Kranken wird im Anfall mit Bewußtlosigkeit oder bei Notwendigkeit der Bluttransfusion (als Spender oder Nehmer) die Blutgruppe, auch nur dem Arzt verständlich, ein Hinweis auf ein Erbleiden und der Rhesusfaktor vermerkt sein. Letzterer wird auch gewisse Blutkrankheiten bei Neugeborenen verhindern, weshalb ihn junge Eheleute in ihrem Blatt vermerkt haben müssen. Es erscheint dem aufgeschlossenen Arzt selbstverständlich, daß sich jedes junge Paar vor der Heirat, schon im eigenen Interesse, einmal gründlich untersuchen läßt. Diese Untersuchung soll dann bei jedem Menschen jährlich einmal wiederholt werden.

Ein weiteres ist die Vormerkung verschiedener Impfungen und Seruminjektionen, besonders bei Kindern, über die meistens keinerlei Vormerkungen vorhanden sind. Wenn dann gewisse Seren (Blutflüssigkeit) ein zweites Mal eingespritzt werden, kann es zu einem lebensbedrohenden Schock kommen. Auch sonstige Befunde nach überstandener Operation, Rönt-genergebniss der Blut-, Herz-, EKG- und anderen Untersuchungen, stattgehabte Infektionskrankheiten mit nachfolgender Immunität (Gefeitsein) gegen Neuerkrankung, sind oft von großer Wichtigkeit, ebenso die Art der angewendeten Heilmittel (zum Beispiel Digitalis, Insulinmenge usw.).

Unsere heutige Anregung, die einen Bruchteil der Detailfragen dieser Zukunftsprobleme andeutet, soll unser österreichisches Publikum anregen, einmal in dieser Frage in unserer Zeitung Stellung zu nehmen. Dabei muß immer wieder die Freiwilligkeit dieser Art der Krankheitsvorbeugung für jeden einzelnen betont werden und daß das Anlageblatt jedermanns persönliches Geheimdokument bleiben muß, in das niemand, auch keine Behörde (Krankenkasse) — auch nicht bei unserer neuen Wehrmacht! —, Einblick nehmen darf. Es wird lediglich in den wesentlichen

Punkten in der Kartei des Arztes des Vertrauens festgehalten, das Wichtigste wird in dem Blatte beim Kranken kurz vermerkt. Für alle Befunde ist eine Sammelmappe da, die auch die wichtigsten Rezeptabschriften enthält. Bei Kindern bewahrt es (beim Kleinkind am besten in Form des Ausweises von Prof. H. Orel, Wien) die Mutter (oder Verantwortliche). Unsere katholischen Schulen könnten damit den Anfang machen. Damit wird sich manche unnütze Frage, manche Untersuchung erübrigen.

Es sei ein beiläufiges Anamneseschema beigefügt, das immer individuell ergänzt werden muß. Es soll enthalten:

Name: Beruf (Gefährdung), Ausgleichstätigkeit:

Adresse:

früher:

jetzt: Soziale Lage:

Schulbildung:

1. Wohnverhältnisse: 2. Kinderkrankheiten-:

(Trocken, sonnig, eigener Raum?)

3. Entwicklung als Kind: 4. Venerische Erkrankungen:

(Geburt, Zwillinge?) . (Nur mündlich)

5. Spätere Erkrankungen: 6. Serumgaben, Impfungen, Tbc-Reaktion:

7. Operationen:

(Die vorstehenden Angaben eventuell vom jeweils bekandeln-den Arzt einzusetzen.)

8. Familiäre Erkrankungen:

Wo bekannt, eventuell Todesursache, bei Vater, Mutter, Geschwistern und deren Kindern, Großeltern, deren Geschwistern und deren Lebensführung (letzteres mündlich). Besonders: Lungen-, Kreislauf-, Nieren-, Geschwulst-, Stoffwechsel-, .Rheuma“-, Nervenkrankheiten, Gelbsucht, Migräne, Hautleiden.

9. Seelisches:

Ruhig, „nervös“-vegetativ, aufbrausend, verträglich, Konflikte; auch Seiualsphäre (Eheleben) (nur mündlich), wo nötig. Beratung mit Prof. DDDr. Niedermeyer.

10. Gewicht (Kurve): GröBe: 13. Sport (Wochenendgestaltung, auch winters):

11. Alkohol: 12. Nikotin:

früher: früher: 14. Bevorzugte Ernährung:

jetzt. jetzt- Fleischreich, fett, Gemüse, Obst, Salate, Mehlspeisen, Salz.

15. Eventuelle Beschwerden:

Husten. Herzklopfen, Atemnot; Kopfschmerz, Schwindel, Sehstörungen. Magenbeschwerden. Brechreiz, Auswurf, Schwellungen, Schmerzen. <

16. Bei Frauen: Regeln, Geburten:

17. Appetit, Stuhl, Urinieren:

18. Durst: 19. Schlaf:

20. Frühere Kuren und Behandlungen (Spitalsbefunde):

21. Eingenommene Medikamente (Rezeptabschriften): Notwendige Ergänzungen:

(In bezug auf die oben angeführten Nummern.)

Im zweiten Teil sollen die wichtigsten Befunde vom Vertrauensarzt vermerkt werden, wobei dem psychologischen Moment Rechnung getragen werden muß, zum Beispiel, daß geringe Abweichungen, wie in der Blutdruckhöhe, Herzgröße, im EKG usw., nicht überschätzt werden. Ernstlich Kranke sind natürlich nicht in diesem Rahmen zu behandeln. Das Gesundheitsbuch (DDDr. Niedermeyer) behält nur dann seinen Wert, wenn alle späteren Daten, auch Vermerke über Spitalsbehandlung, sorgfältig nachgetragen werden. Dieser Art der vorbeugenden Gesundheitspflege (präkurativen Medizin, Vorsorge und Krankheitsabwehr) dürfte wahrscheinlich in Zukunft ein beträchtlicher Teil ärztlichen Strebens gelten. Der Grundsatz „Vorbeugen ist besser als Heilen“ müßte aber schon mit dem Hinweis viel mehr ins Volk getragen werden, um wieviel schwerer es sei, manches ausgebrochene Leiden einzudämmen, als einem drohenden wirksam zu begegnen.

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