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„Lebenslängliche Treue an Flandern“

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Jedes Jahr im August findet nun in der Ebene zwischen den beiden Türmen eine großaufgezogene Manifestation statt, an der Zehntausende von begeisterten Nationalisten teilnehmen. Es ist nicht übertrieben, wenn man in diesem Anlaß, der dementsprechend von den flämischen Führern aufrechterhalten und gefühlsbetont verziert wird, die Mutterbrust der flämischen Un-abhängigkeitsfoewegung sieht: Hier

werden, in einer vom einzelnen als mitreißende Einheit erlebten Volksmasse, die „heiligen Ziele“ des „Befreiungskampfes“ in Erinnerung gerufen. Die Batterien, aus denen die Energien dieses Kampfes das Jahr hindurch zu fließen haben, werden hier aufgeladen, indem den treuen Anhängern bewiesen wird, wie sehr das flämische Volk immer noch unter

dem Joch der ehemaligen Feudalherren zu seufzen und zu leiden hat; hier werden die Programme des ganzen Jahres vorgelegt und mit Schlagworten zum unablässigen Kampf gegen die Unterdrückung aufgerufen; hier wird schließlich, am Ende der Veranstaltung, von der mitgerissenen Volksmasse begeistert „lebenslängliche Treue an Flandern“ geschworen. Mit dem Gesang der alten, wehmütig-romantischen Lie-

der findet der Gedenktag seinen Abschluß, der traditionellerweise mit einer zwischen den beiden Türmen gefeierten Messe begonnen hat — denn die nationalistisch begeisterten Flandern sind ebenso katholisch, wie sie flämisch sind; der mit Mystizismus gefärbte Romantizismus, der uns aus so manchem Gemälde der alten flämischen Schule entgegen-

schlägt, ist auch heute noch lebendig und findet seinen Ausdruck ebensosehr in der Religion wie in der Politik.

Wagnerianisches Schauspiel

Wenig Neues war der ebenfalls traditionellen Ansprache eines der Führer der Volksbewegung zu entnehmen. Klagen über den flämischen Rückstand in Politik, Kultur und Wirtschaft — obwohl viel Schlüsselpositionen des Landes heute von Flamen besetzt sind und Flandern einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, im Gegensatz zur Wallonie! Klagen auch über die „Bruxellois“, die meist französischsprechenden Einwohner von Brüssel, die den gerechten Forderungen der flämischen Bevölkerung, auf deren Territorium sie leben, nur die kalte Schulter zeigen. Lyrische Ergüsse schließlich über den langen Weg, den Flandern und sein Volk noch zurückzulegen habe, um seine Ziele au erreichen.

Der Redner ließ sich auch die Gelegenheit zu einem Angriff auf die Universität von Löwen nicht entgehen. Er verurteilte die „undemo-kTatische Haltung“ gewisser kirchlicher und großbürgerlicher Kreise, die alles daransetzten, den französischen Teil der Hochschule in einer für die Flamen beschämenden Art und Weise in Löwen festzuhalten, drohte aber gleichzeitig mit einer großen Volksaktion, sollte die Einnistung der Universität auf Brüsseler Boden versucht werden, was den antiflämischen Charakter der Hauptstadt nur noch vertiefen könnte. Ernst werden aber diese Drohungen selbst von einem großen Teil der flämischen Bevölkerung nicht genommen.

Die französischsprach'ige Presse reagiert auf diese Veranstaltungen des „mystischen flämischen Nationalismus“ gewöhnlich mit Ironie, oft aber auch mit einer gewissen Schärfe, die den Ärger der erbosten Wallonen und Brüsseler erkennen läßt. So spricht ein Blatt von dem „grandiosen wagnerianischen Schauspiel“, das zwischen den beiden Türmen wieder geboten wurde und „in ganz Europa nicht seinesgleichen hat“. Es beschreibt die flämische Volksbewegung als einen „Herzenselan, tief und unüberlegt, geformt aus erlebten Enttäuschungen und schlimmen Erinnerungen, aus vergangenen Erniedrigungen und aus ständig fortdauernden Verteidigungsreflexen“. Aus dieser Beschreibung läßt sich leicht erkennen, wie groß die Kluft zwischen dem kartesia-nischen Geist der Wallonen und dem (aufgewärmten) Romantizismus der Flamen ist. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß der wirtschaftliche Aufstieg Flanderns und der geistige Fortschritt des Landes die flämische Jugend alimählich zu einem rationalistischen Denken veranlaßt, das sich von den romantischen Ausschweifungen der „Pilgerfahrt zur Yser“ langsam distanziert und damit zu einer Brücke der Verständigung mit dem wallonischen Volksteil werden könnte.

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