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Mafia und Camorra

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Die „Mafia“ in Sizilien — die „Camorra“ in Neapel — die „Toppa“ in Mailand — das waren für unsere nach Italien reisenden Großväter und Väter dunkle Begriffe von verschworenen Diebes- und Mordorganisationen, die, vereinfachend gesagt, mit dem Mittel der Erpressung, ja der Todesdrohung, den Reichen große Summen abnahmen, die aber daneben den Armer und Bedürftigen Schutz angedeihen ließen.

Nach der Machtbehauptung des Faschismus, also Seit der Mitte der zwanziger Jahre, schien diesen Verbrechergesellschaften durch die neu organisierte, allgegenwärtige Polizei der Garaus gemacht zu werden. Kaum mehr meldete die Presse ihre Taten und Untaten, und die Konversationslexika, früher stets auskunftswillig, berichteten nur kurz über diese Geißel friedlicher Bürger, wobei, bis auf den heutigen Tag, der Zusatz nicht fehlte: „Heute total verschwunden!“

Leider ist dem nicht so. Eine Zahl genügt zum Beweis: Von 1944 bis 1956 wurden nahe den Hauptherden des sizilianischen Banditismus, in den Provinzen Palermo und Trapani, etwa 70 Personen — meist begüterte Grundbesitzer, Landeigner, Industrielle, Kaufleute — „beschlagnahmt“, das heißt in abseitiger, außerhalb menschlicher Behausungen gelegener Gegend, zumeist in undurchdringlichem Gebirge, so lange gefangengehalten, bis sie bzw. ihre Angehörigen die fast unerschwinglich hohen Lösegelder zahlten. Die Untaten des Meisterbanditen Giu-liano in den Jahren bald nach dem letzten

Krieg sind noch in aller Erinnerung. Wehe jenen Familien, die das Verschwinden ihres Mitgliedes der Polizei meldeten oder auch nur die engeren Freunde des Geraubten mobilisierten! Das konnte sehr leicht, wie es noch in jüngster Vergangenheit geschah, den Tod des Opfers bedeuten.

Mafia in Sizilien, Camorra in Festlanditalien, etwa in den Grenzen des bis 1860 bestehenden Königreichs Neapel — das sind, entgegen den Feststellungen der Enzyklopädien, die nach wie vor lebendigen Geheimorganisationen, die sich viele Jahrhunderte jurückverfolgen lassen. Schon der dem Spanischen entlehnte Begriff „Camorra“, was Streit bzw. Rauferei bedeutet, weist auf die Zeit der vor der Bourbonen-dynastie in Neapel seßhaften spanischen Herrschaft hin. Freilich bestehen zwischen damals und heute erhebliche Unterschiede: Damals waren es in erster Linie politische Geheimbünde, die ihre Mitglieder in allen Gesellschaftskreisen und Ständen, nicht zuletzt im Heer und in der Beamtenschaft, verzweigt hatten, und die oft, angesichts der allgemeinen Rechtsunsicherheit, den vergebens Rechtsuchenden ihre mächtigen Arme liehen, indem sie sich des Mittels der Gewaltandrohung und der Gewalt bedienten, um vermeintliches Recht zu stiften. Ja. oft bedienten sich die absolutistischen und später halbabsolutistischen Bourbonen im Königreich Neapel-Sizilien dieser Geheimbünde, deren Mitglieder einflußnehmend bis in die Landesregierungen und die Stadtverwaltungen (z. B. Neapel)

vordrangen, zur Absolvierung delikater Polizeifunktionen, also als einer Art von Geheimpolizei.

Mafia und Camorra sind heute natürlich dieser „halboffiziellen“ Tätigkeit entkleidet, wie überhaupt, im Gegensatz zu ehedem, die gehobenen Schichten, die zumeist gegen hohes Entgelt wirksamen Schutz gegen Behördenwillkür und Rechtsbeugung suchten, ihnen nicht mehr angehören. Ueberhaupt ist die Camorra im südlichen Festlanditalien als aktive und brutal wirksame Verbrecherorganisation in den letzten Jahrzehnten nicht so in Erscheinung getreten wie die Mafia in Sizilien.

Wie die jüngsten Fälle der „Beschlagnahme“ führender sizilianischer Gruridherren und Industrieller und die Kette der Morde von einflußreichen Obst- und Gemüsebauern und von Großhändlern und Kommissionären des Großmarktes von Palermo dartun, betreibt die Mafia ihr verwerfliches Handwerk mit ungeschwächter Kraft weiter. Die Polizei scheint machtlos zu sein. Denn bisher gelang es ihr nicht, der Mörder habhaft zu werden, die dank der aus Furcht sklavisch geübten „omertä“ (— Schweigepflicht unter Uebeltätern) jegliche Spuren zu verwischen wissen. Es ist eine bloße, wenn auch naheliegende Vermutung, daß es sich bei diesen Untaten um zwei sich aus Rivalitätsgründen bekämpfende, einander feindliche Gruppen handelt, wobei auch Rachemotive sich am gemeinsamen Geschäft benachteiligt dünkender Mitglieder eihe Rolle gespielt haben mögen.

Die eindrucksvollste, restlos geglückte Missetat der „mafiosi“, wie sie im Volk genannt werden, war die im vergangenen Juni erfolgte Entführung des fünfzigjährigen, in den Vereinigten Staaten geborenen Sizilianers Giuseppe Taor-mina, der sich dank Tüchtigkeit und Fleiß in Castelvetrano zu einem bedeutenden Industriellen entwickelt hatte. Die Banditen haben ihn genau einen Monat lang in unbekanntem Gelände festgehalten, bis nämlich seine Angehörigen sich nach langen Verhandlungen bereit fanden, das zuerst mit 300 Millionen Lire bemessene, dann auf 30 Millionen herabgesetzte Lösegeld (-- 200.000 D-Mark) in bar zu erlegen.

Taorrnina hat also seine Liebe zur Heimat der Väter teuer bezahlt. Sein in vorsichtigen Redewendungen gehaltener Bericht läßt nur eines durchblicken: die grenzenlose, durchaus begreifliche Angst, die ihn während seines einmonatigen Kerkers gequält hatte, wo ihn eine Kapuze ohne Unterlaß am Sehen behinderte und er, wäre sein unfreiwilliges Versteck von der Polizei gesucht worden, bedenkenlos umgebracht worden wäre.

Aber er kam mit heiler Haut davon, weil seine Angehörigen ihn rechtzeitig loskauften und - fast wichtiger - weil diese keinen Alarm geschlagen und seine Abwesenheit mit geschäftlichen Gründen bemäntelt hatten. Von den Uebeltätern aber fand sich keine Spur, und der Geschädigte hütet sich, Nachforschungen anzustellen oder gar die Polizei zu bemühen.

Solche „Personenbeschlagnahmen“ Einheimischer — in acht Jahren rund siebzig! — sind in Sizilien nichts Neues. Bislang sind sowohl die Anstifter wie die von ihnen Gedungenen fast alle straflos ausgegangen. Aber niemand zweifelt daran, daß die Lirheber unter der „onorata societä“ der Mafia zu suchen sind, jener heute wie vor hundert und mehr Jahren durch einen sogenannten „Ehrenkodex“ auf Gedeih und Verderb zusammengehaltenen „Schutz- und Hilfsorganisation“.

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