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Mahatma Gandhi und das Christentum

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Am 2. Oktober 1869 —also vor hundert Jahren — wurde einer der größten Männer der Neuzeit geboren: Mahatma Gandhi. Mit Recht nennt ihn Indien den „Vater der Nation”, denn er gab diesem Land wieder Mut und Erkenntnis seiner eigenen Werte. Er weckte das Bewußtsein der Einheit Indiens, betonte die Wichtigkeit der Religion für das nationale Leben. Er vermochte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Indien zu richten, welches seit seiner Unabhängigkeit nunmehr eine zunehmend wichtige Rolle im politischen Gleichgewicht Asiens spielt. Er lehnte alle Formen des Materialismus scharf ab und gab vor allem dem Christentum neues Leben und neue Bedeutung für Indien, indem er christliche Werte zur Grundlage seines Lebens und Handelns machte. Die Bibel und die Bhagavad-Gita waren seine ständigen Begleiter im Gefängnis wie auf seinen politischen Kampagnen.

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Am 2. Oktober 1869 —also vor hundert Jahren — wurde einer der größten Männer der Neuzeit geboren: Mahatma Gandhi. Mit Recht nennt ihn Indien den „Vater der Nation”, denn er gab diesem Land wieder Mut und Erkenntnis seiner eigenen Werte. Er weckte das Bewußtsein der Einheit Indiens, betonte die Wichtigkeit der Religion für das nationale Leben. Er vermochte die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Indien zu richten, welches seit seiner Unabhängigkeit nunmehr eine zunehmend wichtige Rolle im politischen Gleichgewicht Asiens spielt. Er lehnte alle Formen des Materialismus scharf ab und gab vor allem dem Christentum neues Leben und neue Bedeutung für Indien, indem er christliche Werte zur Grundlage seines Lebens und Handelns machte. Die Bibel und die Bhagavad-Gita waren seine ständigen Begleiter im Gefängnis wie auf seinen politischen Kampagnen.

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Als es am 4. März 1931 zu dem berühmten Lord-Irwin-Vertrag kam, durch welchen Gandhi seinen passiven Widerstand gegen die britische Regierung aufgab, deren „Salzsteuer” er für ungerecht hielt, wurde dieses Ereignis in der Öffentlichkeit weithin als Wunder betrachtet. Er selber sah jedoch in diesem Sieg einen Triumph der geistigen Macht, den er mit den Waffen der Güte und des Glaubens erfochten hatte, oder wie er selber es ausdrückte: „Mit den Prinzipien der Bergpredigt!”

Schon während seiner Studienjahre in England beschäftigte sich Gandhi eingehend mit der Bibel. Das Alte Testament legte er jedoch bald wieder beiseite, da er es zu schwer und unverständlich fand. Während seiner Jahre in Südafrika zählte er eine Reihe von Christen zu seinen Freunden, die Gandhi gerne als Konvertiten zum Christentum gesehen hätten. Durch sie lernte er die Bibel und Christus noch eingehender schätzen,„doch lehnte er, das organisierte Christentum ab?. weBl es ,seinen Auffassung nach das eigentliche Christentum entstellte.

Trotz dieser ablehnenden Haltung verhalf Mahatma Gandhi dem Christentum in Indien zu einem Ansehen, wie es dieses noch nie zuvor in der Geschichte besessen hatte, selbst unter dem Moghulenkaiser Akbar dem Großen nicht, welcher Jesuitenpatres aus Goa an seinen Hof nach Agra berief, um seine Aufgeschlossenheit anderen Religionen gegenüber zum Ausdruck zu bringen.

Ein Hinduschriftsteller drückte diese Tatsache mit den einfachen Worten aus: „Was die Missionare in 50 Jahren nicht vermochten, hat Mahatma Gandhi durch sein Leben und seine Kerkerhaften fertiggebracht, nämlich das Augenmerk Indiens auf das Kreuz zu richten!” Ein anderer, der früher das Christentum heftig bekämpft hatte, sprach ähnliche Worte: „Ich habe den Sinn des Christentums erst begriffen, als ich es in Mahatma Gandhi gelebt sah!”

Geschichtlicher Rückblick

Gandhi steht in dieser Einstellung zum Christentum nicht allein. Schon andere Politiker und Reformatoren Indiens hatten vor ihm ihre Sympathien Christus und seiner Lehre gegenüber zum Ausdruck gebracht. So machte Radscha Ram Mohan Roy zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in seiner Schule in Kalkutta die Bibellesung für alle verpflichtend. Der von ihm gegründeten Organisation des Brahmo Sarnaj, welche zur geistigen und religiösen Erneuerung des Hinduismus bestimmt war, legte er eine Anzahl christlicher Prinzipien zugrunde. Aber mehr noch als in Radscha Ram Mohan Roy kam der christliche Charakter in Keshabe Chunder Sen. einem späteren Führer des Brahmo Sarnaj, zum Durchbruch. Dieser sah nicht nur den Wert christlicher Prinzipien für eine geistige, religiöse und soziale Erneuerung des Hinduismus, er ging noch einen Schritt weiter. Er sah in Christus die Erfüllung des Hinduismus!

In einer öffentlichen Rede in Bengalen brach er in die begeisterten Worte aus: „Seht! Christus kommt zu uns als Asiate, als Hindu, als Verwandter und Bruder, und er fordert die Liebe eurer Herzen! Wollt ihr ihm diese Liebe verweigern? Er kommt, die Religion der Liebe und der Brüderlichkeit zu vollenden, nach welcher sich das Herz Indiens sehnt wie das Herz sich nach einem Trunk kühlen Wassers sehnt. Ja, nach langen Jahrhunderten wird diese Brüderlichkeit, die Verbrüderung durch Christus, ihre Vollendung finden!”

Arm mit den Armen

Gandhi war kein Heiliger. Er wußte um seine Fehler und Schwächen sehr wohl. Zu seinen Freunden bemerkte er einmal: „Ich habe meine Schwächen und Sünden! Doch eines ist mein Eigen, das auch die Armen erkennen: Sie wissen, daß ich ihr Elend teile! Ihr könntet ähnlichen Einfluß haben, wenn ihr euch entscheiden würdet, ebenso zu handeln!” In seiner Jahrtausende alten Geschichte hat Indien mächtigen Herrschern Ehrfurcht erwiesen, doch echte Ehrfurcht bewahrte es stets für den Sadhu, für den Heiligen und für ein Leben der Einfachheit und der Entsagung, dessen geheimnisvolle Macht in der Entsagung dessen besteht, was der Welt teuer ist. Der gewaltige Eindruck, den Gandhi in Indien hinterließ, beruht zum größten Teil darauf, daß er sich den Ärmsten des Landes gleichsetzte. Er reiste in der Bahn stets dritter Klasse. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer Indien selber kennt Das ständige Bewußtsein der Armut war das Grundmotiv seiner eigenen Armut. „Der Beweis für einen gut geordneten Staat ist nicht in der Zahl seiner Millionäre zu suchen”, pflegte er zu sagen, „sondern in der Tatsache, daß seine Massen nicht hungern!” Neben dem Bewußtsein der Armut stand ebenso stark das Bewußtsein Gattes und seiner Vorsehung, denn nach Gandhis Überzeugung wird Gott unser tägliches Brot geben, wenn wir auf seine Vorsehung vertrauen.

Christliche Werte

Gandhi war durch und durch Idealist. In seinem Herzen fand sich der reine und großmütige Idealismus wieder, welcher in den Adern Indiens fließt. Er mochte hinter Gefängnisgittern sitzen oder sich in die Einsamkeit seines Ashram zurückziehen, seine Sendung konnte dadurch nicht leiden. „Er ist Indien selber!” erklärte eine bekannte politische Persönlichkeit, denn in ihm finden sich die uralten Kulturelemente Indiens mit seinen eigenen lebendigen Idealen der Reinheit, der Wahrheit und der Liebe, den Grundpfeilern seiner Philosophie, vereinigt. In seinen Ideen und Prinzipien kam Mahatma Gandhi in vieler Hinsicht dem Katholizismus sehr nahe. Er wußte um die Macht freiwilliger Armut und er glaubte an den Zölibat, welcher, wie er sagte, „den Katholizismus bis heute grün erhalten hat!”

Auch glaubte Gandhi an den Sinn und Zweck der Buße, wie deutlich aus einem Gespräch mit einem Priester im Hauptheiligtum der Tempelstadt Phanderpur in Südindien hervorgeht: „ … und ich glaube, die Himalayas sind weiß im Glanze der zahllosen Heiligen, welche dort in den Höhlen ein Leben der Buße führten! Nur solche Buße kann uns und unsere Religion vor dem Untergang bewahren!”

Synkretismus

Im Bereich der Religion beherrschte Gandhi wie alle großen Denker Indiens die Idee von der Einheit und Harmonie. Er glaubte an die grundlegende Einheit aller Dinge und auch der Religionen.

Ein Dominikanerpater, der im Jahre 1946 längere Zeit mit Gandhi zusammenarbeitete, faßte seine Ansicht über ihn mit folgenden Worten kurz zusammen: „Philosophisch war Gandhi der indische Sokrates, politisch der indische Abraham Lincoln und religiös der indische St. Johannes, weicher die Botschaft vom Kreuze Christi verkündete!”

Gandhis Religion bedeutete ohne Zweifel etwas Neues für Indien. ,Sie war freier vom dogmatischen Hinduismus als jene der Propheten der Ramakrishna-Missian und des Arya Sarnaj; er legte weniger Wert auf nähere und umfassendere Botschaft als die großen Männer des Brahma Sarnaj; er legte weniger Wert auf Jenseitigkeit als die Mystiker des alten Indien und im Gegensatz zum Vedante zeigte er kein Interesse an Metaphysik um ihrer selbst willen. Gandhis Religion war eine Religion des Handelns, wie er selber es ausdrückte. Dienst am Menschen stand für ihn gleichwertig neben Dienst an Gott. Mit Nachdruck betonte er immer wieder die religiöse Grundlage seines Handelns, welches schließlich nichts anderes war als die Ganzhingabe des Geistes an die Wahrheit. Darum bestand für ihn das Wesen Gottes einzig in der Wahrheit! Gandhis Religion umspannte alle Sphären des täglichen Lebens. In besonderem Maße aber beeinflußt sie seine Beziehung zur Politik, einen Bereich, in welchem Gandhi einen wesentlichen Beitrag zum Denken des Ostens geleistet hat. Für ihn bedeutete Politik in keiner Weise Streben nach Macht, sondern gerade das Streben nach Wahrheit führte ihn zur Politik, und nach seinen Worten wüßten gerade diejenigen, die behaupten, „Religion habe mit Politik nichts zu tun”, nicht um das eigentliche Wesen von Religion!

Christusähnlich

Viele Christen, nicht nur in Indien, sahen in Gandhi große Christusähnlichkeit. Sein Leben lang kämpfte er gegen die sozialen Ungerechiigkei- -tdn,- verabscheute er Unberührbar- keit und rang schwer darum, den unteren Schichten und Kastenlosen Zugang zu den Tempeln zu erwirken. Er verzieh seinen Feinden, und die häufigen Fasten und die häufigen Gelübde des Schweigens nahm er meist auf sich, um für andere zu sühnen oder mit Gott allein zu sein. Für ihn waren die Kastenlosen, deren Schatten allein genügte, unrein zu machen, „Hari- jans”, Kinder Gottes.

Gott war überall gegenwärtig. Selbst am 28. Jänner 1948, zwei Tage vor seinem Tod, erklärte er noch: „Auch wenn ich unter den Kugeln eines irrsinnigen Menschen sterben sollte, muß ich es mit einem Lächeln auf den Lippen tun! Ich darf nicht Zorn in meinem Herzen tragen! Gott muß in meinem Herzen und auf meinen Lippen sein!” So geschah es auch.

Das Bewußtsein dieser Sendung ließ ihn alle Furcht verlieren. Er wußte auch, daß Feiglinge zu schwach sind, ihre moralische Höhe zu wahren. Diese Furchtlosigkeit gab ihm inneren Frieden, der seinen Glauben an die Wirksamkeit geistiger Kampfmethoden und an den endgültigen Triumph geistiger Ideen bestärkte.

Kritische Haltung

Trotz seiner Liebe und Achtung für die Bibel und das „wesentliche” Christentum zeigte Gandhi im allgemeinen eine kritische Haltung den indischen Christen und den ausländischen Missionaren gegenüber. In einer Rede erklärte er: „Wir mögen den gleichen Namen für Gott gebrauchen und diesem Namen verschiedene Inhalte geben. Es hat weiter keine Bedeutung. Wir brauchen andere Menschen nicht zu bekehren durch unser Wort und unsere Schriften. Nur durch das Beispiel unseres Lebens können wir dies wirklich erreichen Unser Leben muß ein offenes Buch sein, in welchem alle lesen können Ich wollte, ich könnte alle meine missionarischen Freunde dazu bringen, diese Auffassung von ihrer Sendung zu gewinnen. Es würde dann weder Mißtrauen, Argwohn, Eifersucht noch Streitigkeiten ln religiösen Fragen geben, sondern lediglich Frieden und Harmonie!”

Einen ähnlichen Gedanken brachte er anderswo zum Ausdruck: „Eine Rose bedarf keiner Propaganda! Sie verströmt lediglich ihren Duft!” Mit diesen Vergleichen lehnte Gandhi jede Bekehrungsarbeit ab. Er versprach stattdessen dafür zu beten, daß jeder Hindu ein besserer Hindu, jeder Mohammedaner ein besserer Mohammedaner und jeder Christ ein besserer Christ werden möge.

Die ablehnende Haltung gegenüber aller Missionstätigkeit hatte Gandhi von seinem Vater ererbt. In seiner Jugend waren Rindfleisch und Alkohol mit dem Christentum gleichbedeutend. Auch wenn persönliche Erfahrungen in späteren Jahren diese falschen Ansichten berichtigten, so sah er doch in jeder Bekehrung zum Christentum einen Verlust an Treue und Hingabebereitschaft an das eigene Vaterland. So schreibt er: „Wenn ich die Länge und Breite Indiens durchwandere, treffe ich viele indische Christen, die sich fast ihrer Herkunft, der Religion ihrer Vorfahren und der Kleidung ihrer Eltern schämen. Die Nachahmung der Europäer von seiten der Anglo- inder ist übel genug, doch deren Nachahmung von seiten der indischen Konvertiten tut ihrem Vaterlande Gewalt an, und nicht nur diesem, sondern auch ihrer neuen Religion !”

Triumph und Niedergang

Bei seinem Tode wußte Gandhi das Schicksal Indiens in sicheren Händen. Wie sehr der Geist Mahatma Gandhis das politische Leben beeinflußt hatte, zeigte sich sehr bald bei der Formulierung der indischen Konstitution, welche ausdrücklich allen Minderheiten des Landes gleiche Rechte einräumte, jedem Bürger des Landes Freiheit in der Wahl seiner Religion zusicherte und allen Angehörigen der verschiedenen Religionen das Recht zugestand, ihren Glauben in der Öffentlichkeit auszuüben und auch zu propagieren. Das Wort „propagieren” löste von seiten der nationalistisch gesinnten und orthodoxen Gruppen der Hindus, welche den Hinduismus zur Staatsreligion erheben möchten, heftigen Widerstand aus. Der Höchste Gerichtshof, Indiens entschied jedoch den Streit mit der Beibehaltung des Wortes. Somit hatte Gandhis Geist in einer wichtigen Frage der Konstitution gesiegt.

Noch deutlicher machte sich dieser Geist bemerkbar, als 1954 in verschiedenen Gebieten Indiens Hetzkampagnen gegen das Christentum einsetzten, die sogar zu Morden und anderen Ausschreitungen führten. Wenn diese Christenverfolgung nur wenig außerhalb der Grenzen Indiens bekannt wurde, so beruht dies auf dem persönlichen Einschreiten des damaligen Ministerpräsidenten Pandit Nehru. In einer scharfen Rede vor dem Parlament lehnte er den Antrag christenfeindlicher Gruppen ab, welche die Ausweisung aller ausländischen Missionare und die Überwachung jeglicher Missionstätigkeit durch staatliche Behörden anstrebten.

Mit dem Tod Pandit Nehrus 1964 verlor Indien seinen letzten großen Führer und Nachfolger Gandhis. Der säkulare Charakter der indischen Union, welcher allein den Minderheiten des Landes Schutz gewährt, kam seitdem zunehmend unter heftige Angriffe von seiten fanatischer Hindugruppen und -Organisationen. Niemand in Delhi erhob wie Pandit Nehru 1954 seine Stimme, als der Staat Orissa das „Religionsfreiheitsgesetz 1967” annahm. In gleicher Weise schwieg Delhi, als im September 1968 der Staat Madhya Pradesh in Zentralindien den Maßnahmen Orissas folgte und ein ähnliches Gesetz rechtsgültig machte. Beide Gesetze haben zum Ziel, die Tätigkeit der Missionare zu unterbinden. Beide Gesetze machen die Tätigkeit der Missionare zu einem strafwürdigen Vergehen, welches mit einer Gefängnisstrafe bis zu zwei Jahren und einer Geldbuße bis zu 10.000 Rupien belegt werden kann. Mehrere Katechisten wurden bereits verhaftet. Gandhis Ideale der Gewaltlosigkeit und der Toleranz sind offenbar in den politischen Unruhen des Landes untergegangen und Nehrus Traum von einem säkularen Staat, welcher allen gleiche Rechte zugesteht, gerät mehr und mehr in Vergessenheit. Vielleicht ist die Zeit gekommen, in welcher das indische Christentum seine Feuerprobe bestehen muß.

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