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Mit ,Triebkraft' ins Atomzeitalter

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Es war im Jahre 194 J.

Fremde Heere überfluteten Mitteleuropa und brachten zu den entsetzlichen Verwüstungen, zum allgemeinen Chaos, zum Hunger und zur Verzweiflung die Geschlechtskrankheiten. Hunderttausende wurden damals infiziert, und es mangelte nicht nur an Medikamenten, es fehlte vor allem jene staatliche Ordnung, mit deren Hilfe diese Krankheiten eingedämmt werden können. In jenen furchtbaren Tagen des Zusammenbruchs und den nachfolgenden Monaten größten Elends stand man der katastrophalen Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten praktisch hilflos gegenüber, eine allgemeine Verseuchung Schien nicht mehr aufhaltbar zu sein. ' In dieser schier hoffnungslosen Zeit kam das Penicillin nach Europa.

Man hat schon vor hunderten von Jahren in manchen ländlichen Gegenden gegen eitrige Wunden verschimmelten Käse angewendet. Die ungeheure Entdeckung aber, daß nämlich Pilze Bakterien zu töten vermögen, machte man erst einige Jahre vor dem zweiten Weltkrieg. Und es wären sicher viele Jahre oder Jahrzehnte vergangen, ehe ein wirklich wirksames und billiges Antibiotikum zur Verfügung gestanden wäre, hätte man in den Vereinigten Staaten nicht die Tragweite der Entdeckung Sir Alexander Flemings während des zweiten Weltkrieges richtig eingeschätzt. Mit einem finanziellen Aufwand ohnegleichen wurde in einer Rekordzeit eine Industrie geschaffen, die sehr bald in der Lage war, größte Mengen der neuentdeckten Wunderdroge herzustellen. Der Krieg gab den Alliierten die Möglichkeit, in wenigen Jahren die umfassendsten Erfahrungen zu sammeln, und dabei machte man eine ganz entscheidende Entdeckung: Penicillin, so nannte man die Wunderdroge, wirkt nicht nur gegen eine Vielzahl bösartiger Eitererreger, es ist auch vollkommen wirksam gegen die Spirochaeta pallida, gegen die Erregerin der Syphilis.

Es dauerte immerhin einige Jahre, ehe man sich- davon überzeugen konnte, ..dann aber konnte es keinen Zweifel mehr geben: Penicillin kann eine Syphilis ausheilen! Man muß nur ausgiebig hoch und vor allem auch lange Zeit hindurch das Medikament verabreichen. Genaue Dosierungsbestimmungen wurden gefunden, und der Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten begann. Im Rahmen der amerikanischen Hilfslieferungen kamen Billionen von Penicillineinheiten nach Europa, und zusammen mit den aus der Not geborenen härtesten Maßnahmen gelang es in wenigen Jahren, die Geschlechtskrankheiten einzudämmen, vielfach sogar restlos auszurotten.

Die ungarische Revolution vor mehr als drei Jahren brachte den ersten Rückfall. Man registrierte da und dort ein leichtes Ansteigen der Neuerkrankungen, doch schien für irgendeine Besorgnis kein Grund vorhanden. Jene ungarischen Frauen, die sich auf leichte Weise Geld verschaffen wollten, hoffte man bald unter Kontrolle zu haben. Bis man sich allerdings nach einiger Zeit sagen mußte, daß auch in Ländern, wo gar keine Flüchtlinge hinkamen, eine allmähliche Zunahme zu bemerken war. Man wollte nur je Tatsache nicht in seiner ganzen Bedeutung zu Kenntnis nehmen, da es einfach unglaublich schien. Hat man nicht Antibiotika von unerhörter Wirksamkeit? Gibt es nicht Sal-varsan und Wismut, Malaria und Sulfonamide? Haben die Menschen nicht von all diesen Heilmitteln jede Menge zur Verfügung? Gibt es nicht eine vorbildliche ärztliche Versorgung in allen Zivilisationsstaaten? Wie kann sich denn eine Krankheit, die man restlos ausheilen kann, überhaupt noch ausbreiten?

So ungern man es wahrhaben will: die Erkenntnisse sind unwiderleglich. Von Jahr zu Jahr nehmen die Geschlechtskrankheiten wieder zu, wobei man sich über die erschreckende Tatsache vollkommen klar ist, daß nur ein Bruchteil der Neuerkrankungen überhaupt gemeldet wird. Über die rigorose Meldepflicht setzt man sich ja längst wieder großzügig hinweg, so daß die Gesundheitsbehörden überhaupt keinen Einblick haben. Das Penicillin, eine wahre Wunderdroge, wird heute mißbraucht bei Zahnpasten, Kaugummi und zur Konservierung, man wendet es bei den banalsten Infekten an, und die Folgen sind natürlich unausbleiblich: es gibt Überempfindlichkeiten beziehungsweise Resistenzen, das heißt, die Keime werden dagegen unempfindlich.

Man könnte somit als Ursache für das neuerliche und bedrohliche Ansteigen der Geschlechtskrankheiten anführen: die überflüssige und verantwortungslose Anwendung der Antibiotika bei leichten Erkrankungen, die ungenügende Dosierung bei Selbstbehandlungen, indem entweder zu wenig oder zu kurz das Medikament eingenommen wird. In jeder Apotheke kann man ja heute Penicillintabletten kaufen, und wie viele Menschen machen Sulfonamid- oder Penicillinkuren, wenn sie bloß Verdacht haben, es könnte eine Infektion erfolgt sein Ein Medikament, das wie keines in der Geschichte der Menschheit geholfen hat (bereits fünf Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges wurden durch das Penicillin mehr Menschen vor dem sicheren Tode gerettet, als der ganze Krieg Opfer gefordert hatte!), wurde immer mehr sinnlos und nutzlos angewendet und damit seiner Wirksamkeit allmählich beraubt.

Man könnte darin die Ursache sehen, aber die wirkliche Ursache liegt tiefer, wenngleich trotzdem mühelos erkennbar.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat es eine Generation gegeben, die so leicht und mühelos leben konnte wie die heutige. Es gibt Konsumgüter im Überfluß, eine komplette Sozialversicherung, eine kurze Arbeitszeit und einenv allgemeinen materiellen Wohlstand. Allen Menschen steht eine ausreichende Freizeit zur Verfügung, und die Motorisierung ermöglicht im Rahmen des Möglichen jede gewünschte Ortsveränderung. Inmitten der modernen Traumwelt steht der moderne Mensch einfach beziehungslos und erblickt lediglich im materiellen Streben seinen Daseinszweck. Und da dies — die jahrtausendalte Erfahrung lehrt es — niemals wirkliche Befriedigung schafft, strebt der moderne Mensch (besonders die jüngere Generation) nach einem Lustgewinn. (Man will ja schließlich was vom Leben haben!) Genuß aber kann gesteigert werden durch Suchtmittel und durch Sexualität. Daher die ständige Zunahme aller Genußmittel, des Alkohols, des' Nikotingenusses und vor allem des Kaffeegenusses und weiter die immer unverblümtere Betätigung des Sexualtriebes. Man hat Zeit, man ist motorisiert, man ist moralisch aller lästigen Bindungen ledig, und somit steht einer völligen Freiheit in der Sexualität nichts mehr im Wege. Das Ideal der modernen Frau ist die ungebundene, gepflegte Vertreterin des weiblichen Geschlechts mit eigener Wohnung und ständiger Bereitschaft zu sexuellem Abenteuer. Ob es sich jetzt um den Rummel mit Striptease, den Call-Ringen oder der standesgemäßen Freundin (oder Freundinnen) neben der legalen Ehefrau handelt, es gibt für die modernen Menschen offenbar keine Schranken. Dies erkennt man immer dann, wenn der Arzt im Falle einer venerischen Infektion nach der möglichen Verbreitung forscht. Da ergeben sich dann einfach ans Unwahrscheinliche grenzende Erkenntnisse. Innerhalb weniger Stunden oft kommt es zur Verbreitung in geometrischer Reihe, und der Arzt gewinnt Einblicke, die wohl keinem anderen Menschen möglich sind.

Aber genau so wie die Trunksucht von einst, geboren in der wirtschaftlichen Not, Sinnlosigkeit und Hoffnungslosigkeit des Daseins sich gewandelt hat, ebenso ist auch die Gesellschaftsschichte, die durch ihre sexuelle Freizügigkeit die , Geschlechtskrankheiten ausbreitet, eine andere geworden. Aus dem Notstandsalkoholismus von einst wurde der Wohlstandsalkoholismus der Gegenwart mit seiner Langeweile, negativen Daseinseinstellung und geistigen Verflachung. Und aus der Prostitution der untersten Schichten von einst wurde heute die Geheimprostitution in den gehobenen Gesellschaftsschichten. Und da man Geld hat und meist zumindest halbgebildet ist, so leitet man die Behandlung entweder selbst oder findet immer gegen gutes Geld einen Arzt mit völliger Verschwiegenheit.

Die sexuelle Freiheit setzt immer ein erhebliches Maß von Verantwortungslosigkeit voraus, und damit ist den Geschlechtskrankheiten der Weg gebahnt. Die modernen Menschen des beginnenden Atomzeitalters erblicken in der Befriedigung ihrer Triebe, ihrer Daseinswünsche den alleinigen Lebensinhalt. Die sexuelle Freiheit dünkt ihnen eine Selbstverständlichkeit, ein Recht sozusagen, das man durch ethische oder moralische Anschauungen nicht einengen darf. DleP wiedererstandene Syphilis mit ihrer latenten Drohung, ihrer zunehmenden Verbreitung aber ist der Preis, den man dafür bezahlen muß ...

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