6543376-1947_01_03.jpg
Digital In Arbeit

Monolog über Böhmen

Werbung
Werbung
Werbung

„Sie fragen nach meinen Ansichten über die gegenwärtige Epoche der böhmischen Geschichte? Das heißt, Sie wollen wissen, was ich als tschechischer Katholik, noch mehr, als tschechischer katholischer Priester zu jenen Ereignissen sage, die sich seit ungefähr anderthalb Jahren hier abspielen?“ Der alte Propst schwieg einen Augenblick. Seine Augen wanderten zum Fenster, blickten hinaus. Schwere Dezembernebel schlichen langsam und unheimlich über die Dächer der Häuser, die zum Fenster hereinblickten, und über die kahlen Bäume, die das Ufer des Flusses säumten. Kein Sonnenstrahl durchbrach diese Mischung von Lethargie und Schwermut. Das Barock der Probstei-kirche war das einzige Stück Fröhlichkeit in dieser traurigen Atmosphäre, gemindert durch die Riesenausmaße des Renaissancepalastes der Herzöge von Sagan, der vom Fenster aus unsichtbar, aber doch fast spürbar in der Landschaft lastete.

„Sehen Sie“, sagte der Probst, sich wieder umwendend, „ich bin jetzt bald 86 Jahre alt. Das heißt ich habe die letzten siebzig Jahre böhmischer Geschichte bewußt miterleben können, siebzig Jahre, die mehr bedeuten als in einem andern Land, denn in ihnen vollzog sich der Aufstieg des tschechischen Volkes. Als ich 1878 in das Seminar nach Budweis kam, wußte noch kein Mensch etwas von Masaryk, damals war Palacky noch unmittelbare Vergangenheit, war Rieger der ungekrönte König von Böhmen, gab es noch nicht einmal eine tschechische Universität. In diesen siebzig Jahren erlebte ich den Fall des „alten Riegers“, des großen Führers der gemäßigten Alttschechen, den Sieg der radikalisierten Jungtschechen und den Aufstieg Kramafs, den Aufstieg Masaryks, den Untergang der Habsburgermonarchic, die neue Republik, den Verlust der Randgebiete, die Hitlerherrschaft in Böhmen, dann die Befreiung und — die gänzliche Austreibung der Deutschen. Ich hatte in diesen sieben Jahrzehnten viel Zeit zum Nachdenken, warum soviel Haß und Feindschaft in unserem Land war. Am Beginn unserer Geschichte steht ein Ereignis, daß gleichsam ein Sinnbild ist für die Geschichte des darauffolgenden Jahrtausends — die Ermordung des heiligen Wenzel. Wir feiern ihn oft und gern, diesen Herzog, ohne daran zu denken, daß er von seinem eigenen Bruder ermordet wurde. Daß also der Haß von einem Bruder zum andern an der Schwelle unserer Geschichte stand, um in einem ganzen Jahrtausend nicht unterzugehen. Sie werden jetzt wohl sagen, daß ich die Tschechen und Deutschen, die in diesem Land gemeinsam wohnten, von einem christlichen Standpunkt aus als Brüder betrachte. Aber gerade das will ich nicht. Sie waren Brüder, weil sie im Sinne des alten Staatsbegriffes zusammen nur eine Nation bildeten, die eine böhmische Nation, eine angeborene Schicksalsgemeinschaft, die zwei Sprachen hatte, eine Nation in gemeinsamer Geschichte im gemeinsamen Land, aber auch infolge der starken Blutsverwandtschaft untereinander. Sicher kennen Sie die kleine Schrift des Historikers P e k a f „Vom Sinn der tschechischen Geschichte“, worin er daran erinnert, daß ein Viertel aller Tschechen deutsche Namen trägt und mindestens über die Hälfte deutsches Blut in sich haben. Man braucht sich nur die Namen der heutigen Regierung anzusehen: Gottwald heißt der Premier, Fierlinger sein Stellvertreter, Lauschmann ein anderer Minister. Der Führer der Alttschechen hatte den Namen Rieger. Und bei den Deutschen in Böhmen lagen die Verhältnisse ähnlich. Wie viele besaßen einen tschechischen Namen, wie viele hatten tschechisches Blut in sich. Und jeder haßte, wenn er die Tschechen haßte, einen Teil seiner Vorfahren, ohne deren Dasein er gar nicht existieren würde. Und ebenso hat jeder Tscheche, der die Deutschen verachtete, vielleicht einen Teil seiner Vorfahren verachtet, einen Teil seiner Eltern. Ich muß

lacnein, wenn aie aeutsenen oerer eseneem-schen Historiker sich bemühten, Karl IV. als einen Angehörigen ihrer Nation zu reklamieren. Ebenso erging es Przemysl Ottokar II. und Wallenstein. In Wirklichkeit dachten diese alle böhmisch, Feldmarschall Radetzky symbolisiert noch in seiner Person die Verschmelzung zweier Volksindividualitäten zu einer sieghaften Einheit. Der böhmische Hochadel und zumal große Männer in seiner Mitte, wie

Leo Thun, haben noch bis in die letzte Zeit in gleichem Sinne gedacht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelten sich die Begriffe. Deutsche und Tschechen gerieten auseinander. Diese Tragödie begann schon 1740, als Friedrich von Preußen Schlesien der böhmischen Krone entriß. Denn durch diesen Verlust wurde das Gleichgewicht der beiden Völker gestört, die Deutschen kamen in eine Minderheit. Die Furcht, von den zahlenmäßig stärkeren und kinderreicheren Tschechen verschluckt zu werden, war nur zu begreiflich. Deshalb die mit der Verfassungszeit beginnenden Versuche der Deutschen, immer wieder eine künstliche Mehrheit zu bilden, sei es durch ein besonderes Wahlsystem oder durch eine Verbindung mit anderen Völkern der Donaumonarchie, den Polen, Italienern, Rumänen. Auf der Flucht vor dem böhmischen Staat, in dem sie sich unsicher fühlten, wurden sie Zentralsten, ja sie wurden sogar — entgegen der föderalistisch gesinnten alpenländischen Deutschen, die Führer des österreichischen Zentralismus. Sie schlugen damit einen Weg ein, der sie diametral von ihren tschechischen Landesgrenzen wegführte, die das böhmische Landesrecht, das sogenannte „böhmische Staatsrecht“, als grundsätzliche Föderalisten vertraten. Damals wurden die Brücken zwischen beiden abgebrochen. Wäre dies nicht geschehen, wäre die alte Monarchie nie zum Sturze gekommen. Aber als wir dann die regierenden Herrn in dem eigenen Staate wurden, zeigte es sich, daß wir auch nichts gelernt hatten. Wir vergaßen ebenso, daß die Deutschen in Böhmen mit uns eine Lebensgemeinschaft bildeten, wie sie es vergessen hatten. Wir lebten an ihnen vorbei. Der psychologische Moment, die Deutschen auf Böhmen zurückzuführen, wäre nach dem ersten Weltkrieg günstig gewesen. Wir haben diesen Moment versäumt. Das war unsere Schuld. Darüber kommt man trotz allem Reden von Minderheitenrechten nicht hin-

weg. Wir haben damit die Deutschen politisch ausgebürgert und wunderten uns, als sie dann ihr Land, die Randgebiete mitnahmen. Aber Böhmen ist nicht teilbar, es bildet ein Ganzes. So holten sich die Deutschen zuerst den übrigen Teil Böhmens und dann die Tschechen wieder das ganze Böhmen. Ein Bruder versuchte dabei, den anderen zu erschlagen.

Sehen Sie, mit der Austreibung der Deutschen aus Böhmen beginnt ein ganz neues Kapitel unserer Geschichte: Unsere Abwendung vom Abendland. Als wir vor einem Jahrtausend in die Geschichte eintraten, schwankten wir Tschechen lange hin und her, wohin wir uns wenden sollten, nach dem Osten oder dem Westen. Wir haben uns schließlich für den Westen entschieden. Das hatte im Gefolge, daß wir die ganze Lebensform des Westens annahmen. Wir wurden lateinische Christen und wir gliederten uns in die politische Lebensform des Abendlandes ein, in das Imperium Romanum, dessen Oberhaupt Herrscher aus deutschen Geschlechtern waren. Auf drei Seiten waren wir von Deutschen umgeben. Wer anders als sie konnten durch die ganze Zeit hindurch

unsere Lehrmeister sein? Alles, was es an abendländisdien geistigen Gütern gab, haben wir durch ihre Hand empfangen, die Reform von Cluny ebenso wie den Humanismus, die Reformation ebenso wie die Gegenreformation, die Aufklärung ebenso wie den Nationalismus Herders. Nun plötzlich wollen wir nichts mehr vom Westen wissen, weil wir zu schlechte Erfahrungen mit ihm gemacht haben. Gegen die Deutschen sind wir eingenommen, weil sie uns zu unterdrücken versuchten, und das übrige Europa, so sagen wir, hat uns in der Konferenz von München ebenfalls im Stich gelassen. In unserer Ges'chichte hat es immer nur ein Entweder-Oder gegeben. Als wir sahen, daß der Westen sich von uns abwandte und gegen'uns war, drehten wir entschlossen um und wandten uns dem Osten zu. Was aber mit sich brachte, daß wir alles aus unserm Körper herausschneiden mußten, was uns an den Wester. klammerte. So konnten alle Deutschen, deren Vorhandensein in unserm Land ein sicheres Abziehen von dem Osten bedeutet hätte, aber auch alle Tschechen, die westlich eingestellt sind, bei uns keinen Platz mehr haben. Wir verfolgen ja nicht nur die Deutschen, sondern auch alle westlichen Tschechen, obwohl diese gegen die Nationalsozialisten gekämpft haben. Politisch und sozial denken wir heute östlich. Die Blickrichtung unserer Staatspolitik, die Enteignung des Privateigentums, der Sieg der kommunistischen Partei — dies sind die äußeren Zeichen unseres Eintrittes in die östliche Welt.

Vielleicht denken Sie jetzt, daß auch in mir der Tscheche den Katholiken überwiegt. Es ist nicht so. Wohl habe ich mich immer als Tscheche gefühlt, aber ebenso stark habe ich böhmisch gedacht. Immer habe ich die Deutschen dieses Landes als einen Teil dieser böhmischen Nation ange-

sehen und ihre jetzige Vertreibung als einen unersetzlichen Verlust betrachtet. Daß die Deutschen viele Fehler gemacht haben und aach schuldig sind? Sicherlich, sie waren dabei nicht allein. Ich habe nicht nur als Priester, sondern weil ich auch immer böhmisch dachte, also aus natürlichen Gründen, gegen den Haß und für den Frieden gepredigt. Aber dieser so' fruchtbare Boden war steinig und fast immer verschlossen für die Botschaft des Friedens. Das Elbe-Moldau-Becken war nicht umsonst der Schauplatz so vieler Kriege und Schlachten, wie kein anderes Gebiet Mitteleuropas, Und heute ist das Christentum mir eine dünne Schicht, genau so wie vor tausend Jahren. Nur wenn das ganze Land in seiner Substanz vom Christtum durchsäuert worden wäre, wäre es wohl anders gewesen.

Man sage nkht, daß wir Tschechen christlicher wären, wenn wir dem östlichen Ritus angehörten. Nicht nur der heilige Adalbert, der Lateiner, floh aus diesem Land aus Verzweiflung, daß es so unchristlich sich ge-bärdete, sondern auch der heilige Cyrill, der Christ des östlichen Ritus. Es gibt zwar keine Quellen, die belegen, warum dieser Heilige aus unsern Ländern ging und in Rom in ein Kloster eintrat, aber ich bin sicher, daß er dies ebenso wie der heilige Adalbert aus Verzweiflung tat.

Die Liebe zu Böhmen, zum ganzen Böhmen, ist ein großes Kreuz für jeden Christen dieses Landes, ein Kreuz, das selbst Heiligen zuweilen zu schwer wurde.' Dieser Heilige ist eine große Beruhigung für jeden Christen dieses Landes, der unter diesem Kreuz zusammenzubrechen droht.“

^SK^irf die Saat!

Die Furche ist offen, willig und gern, eine Wiege, zu bergen die fruchtbare Tat. Wirkel Dein Werk findet Gnade vorm Herrn: Wirf die Saat!

Nicht finde, nicht finde der schwarze Mäher, der Hunger, zu deiner Hütte den Pfad. Das Brot, das du schaffst, führt die Liebe näher — Wirf die Saat!

Bezwinge das Leben! Dich Sämann, umrauscht ein Hymnus der Hoffnung auf göttlichen Rat, ein Hymnus, dem liebend der Kummer selbst lauscht. Wirf die Saat!

Es küßt dich die Sonne, es streichelt die Stirne der Wind dir, Gott segnet dich früh und spat — Mensch Säer! Mensch Schöpfer! Vom Strand zum Firne reife du, goldene Saat!

Gabriela Mistral chilenische Dichterin, Trägerin des Nobelpreises ffir Literatur, 1945

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung