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Niederlndische Charakterkpfe

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Es gibt in Europa kaum ein Land, dessen Geistesleben in Vergangenheit und Gegenwart so stark von konfessionellen Gegensätzen und polemischen Streitigkeiten gekennzeichnet ist, wie Holland. Der klassische und berüchtigte Gegensatz im 17. Jahrhundert zwischen Arminninen und Gomaristen schuf nicht nur zwei theologische Systeme, die einander bis aufs Blut bekämpften, sondern auch zwei große staatspolitische Parteien, von denen die eine republikanisch und die andere monarchistisch war. Gestützt auf schein-theologischen Grundsätzen, entstand eine Zerstückelung, die das ganze öffentliche Leben der Niederlande anfraß und sich bis in den Handel, Verwaltung, Unterridit und Kultur durchsetzte. Wo man auch im Geistesund Kulturleben des 17. Jahrunderts hingreift, überall begegnet man dieser Giftschlange, die eine unübersehbare polemische Literatur hervorbradne und die in verbohrter Rechthaberei vor dem Leben und der Ruhe der besten Patrioten keinen Halt madite. Johan van Oldcnharnevelt, der „Vater des Vaterlandes“, fiel ihr auf dem Schafott zum Opfer, genau so wie die beiden Brüder Johan und Cornelis de Wit. Hugo Grotius wird durch sie zu lebenslänglichem Kerker verurteilt, und Boerhaves berühmtester Schüler, van Swieten, wurde es nicht gestattet, als Privatdozent in Leiden aufzutreten, weil er Katholik war. Dieser Konfessionalismus ließ weder Rembrandt noch Spinoza zur Ruhe kommen, und sogar der olympische Vondel mußte sich in einer großen Anzahl polemischer Gedichte dagegen wehren, weil er erst als Anhänger einer kleinen protestantischen Sekte und dann als Katholik ununterbrochenen Angriffen ausgesetzt war.

Es kann deshalb nur als ein Zeichen der unerhörten Stärke der „Sieben Vereinigten Provinzen“ angesehen werden, wenn sie an dieser Zerstückelung nicht zugrunde gegangen sind; ja es ist staunenswert, daß trotz Hader und Kontroversen eine geistige und auch kommerzielle Hochblüte in Holland aufkommen konnte, die nachher niemals mehr erreicht wurde, und daß auf allen Gebieten des Geisteslebens Persönlichkeiten auftraten, die auch für die Nachwelt ihre große Bedeutung behielten.

Joost van den Vondel gilt widerspruchslos als der größte holländische Dichter. Er ist — servatis servandis — unser Shakespeare in seinen zahlreichen Dramen, wie „Lucifer“, „Adam in der Verbahnung“ und „Josef in Dothan“; er ersetzt für uns Dante in seinen tiefen philosophischen und theolo-gisüien Visionen, wie der „Herrlichkeit der Kirche“, den „Altarmysterien“ und den „Betrachtungen über Gott und Gottesdienst“; er ist unser Goethe jn seiner zarten Lyrik, und er läßt uns Virgil fast vergessen, wenn wir zum Beispiel sein Epos „Konstantin“ lesen.

Aber gerade bei Vondel erfährt man, daß man, um ihn zu genießen, sich seine Gedankenwelt aneignen muß. Vondel ist heute, schwer zu verstehen, nicht nur weil er als Barock-Mensdi dem modernen Holländer ferne steht, sondern vor allem, weil seine Gedankenwelt in ihrer Tiefgründigkeit den meisten fremd ist.

Als Anhänger einer kleinen, ehrlidien protestantischen Sekte — Vondel war ursprünglich Mennonit — fing er schon bald an, die Richtigkeit protestantischer Dogmen, die oft eine ganz entgegengesetzte Erklärung fanden, zu bezweifeln, und nach langjährigem frommen Ringen und tiefen Studien vollzog er dann als fünfzigjähriger Mann den Übergang zum Katholizismus. Man kann sich vorstellen, was dieser Schritt für den als Dichter schon gefeierten Mann bedeutete, ausgerechnet in einem von konfessionellen Streitigkeiten zerstückelten Lande, wo der Spruch „liever Turksch dan Paepsch“ — „eher türkisch als römisch-katholisdi“ — damals bittere Wirklichkeit war.

Vondel hatte die unbarmherzige Lehre der kalvinstischen Prädestination abzulehnen gelernt und gewann nach und nach die Überzeugung, daß keine der dafür umgehenden protestantischen Erklärungen eine annehmbare Lösung zu bieten vermodite, daß aber das Problem von. Gottes Allmacht und der menschlidien Freiheit in der katholischen Lehre eine Antwort fand, die Verstand und Herz beruhigten, ohne das Geheimnis völlig zu lösen.

Vondel selbst faßte diesen Übergang als eine so ernsthafte Angelegenheit auf, daß nicht nur sein persönliches Leben und Empfinden dadurch eine völlige Umgestaltung erfuhren, sondern auch sein dichterisches Denken, Träumen und Wirken dadurch vollkommen beherrscht und durchleuchtet wurden. Vondel war nicht einfach Katholik geworden, um nebenbei Dichter zu bleiben, sondern er wurde der katholische Dichter schlechthin. Und gerade sein Beispiel zeigt, daß die katholische Weltanschauung auf einmal viel reichere Quellen für seine Inspiration eröffnete und seine schönsten Schöpfungen ermöglichte. Die katholische Lehre, die er mit seinem klaren Verstand, mit seinem tiefen Glauben und seinem zarten Gemüt erobert und errungen hatte, wurde seine neue Geisteswelt. Die Kirche, :hre Heiligen und Märtyrer wurden lebendige Gestalten, ja sogar die abgelegensten Glaubensmysterien erhielten eine so greifbare und lebensnahe Verbildlichung, daß man bis zu Dante gehen muß, um eine Parallele zu finden.

Von diesem Gesichtspunkt aus lernen wir Vondel als einen echten Holländer kennen, für den damals — und auch jetzt noch — eine konsequente Durchführung seiner Weltanschauung in Denken, Empfinden, Wirken und Handeln eine Selbstver-ständlidikeit ist. Und gerade dieser leidenschaftlich angeeignete und konsequent durchgeführte Gedankenbau ist einer der Hauptgründe, weshalb Vondel auch heute noch so schwer verstanden und so wenig gelesen wird. Seine reifsten Werke sind so stark vom katholischen Gedanken durdizogen, daß man über eine reiche gleichartige Erudition verfügen muß, um ihn verstehen und würdigen zu können.

In dieser Beziehung hat die katholische Literaturwissenschaft noch vieles nachzuholen und riditig zu stellen, was die neutrale Forschung nidit genügend hervorheben und erklären konnte? Und für die allgemeine Literaturwissenschaft kann es nur ein Gewinn sein, daß mit der Emanzipation der katholischen Wissenschaft in Holland die Vondelforschung einen höheren Aufstieg zu verzeichnen hat. Es ist eigentlich traurig, daß bis zur Gründung der Universität Nimwegen keine Hochschule in Holland eine eigene Lehrkanzel für Vondelforsdiung hatte, aber in den letzten Jahren ist sehr viel geschehen, und das Interesse ist so sehr gewachsen, daß nunmehr auch die Universität Leiden einen eigenen Lehrstuhl für Vondelstudien errichtet hat.

Trotzdem bleibt Hollands größter Dichter für viele seiner Landsleute ein Fremder. Eine zweite Erklärung hiefür ist, daß seine barodie Empfindungs- und Ausdrucksweise den Holländern fremd geblieben ist, so wie die ganze reiche, überschwängliche Blüteperiode des 17. Jahrhunderts ein „Luxus“ ist, den die holländische Phantasie nidit gerne mitmacht. In Österreich zum Beispiel hätte ein Vondel sicher mehr Anklang und Verständnis gefunden. Aber in einem Lande, wo es praktisch keine Barockarchitcktur gibt und wo die Malerei nach Rembrandts Apotheose in Stilleben, Landschaft und Genre-stüdeen aufging, wo jede sogenannte „Übertreibung“ als unpassend getadelt und für viele Zweck und Nützlichkeit beliebte Maß' Stäbe sind, in diesem Lande ist es, schwer, Begeisterung für Vondels ungebändigte Phantasie zu wecken.

Das einzige aber, was von ihm noch gerne gelesen wird, ist seine feine, zarte Lyrik; denn hier ist der Holländer von zarter Empfindsamkeit, so widersprechend dies auch auf den ersten Blick scheinen mag. Der sogenannte nüchterne Holländer ist nicht kalt. Im Gegenteil: sein Empfinden ist fein und tief. Er mag im Alltag nüchtern und sachlich wirken und vor allem in seinen Gesprächen versuchen, sein Innenleben zu verbergen, tatsächlich aber führt er, genau so wie der Engländer, ein tiefes Gefühlsleben, und auch der sachlichste Geschäftsmann hat oft das Bedürfnis, sich mit einm Bändchen Lyrik zurückzuziehen. Aus diesem reichen Nährboden ist jene wunderbare mittelalterliche Liebeslyrik entstanden, die über die Renaissance hinaus sich bis in die Neuzeit fortsetzte. Unc' es war vor allerr. die Neubelebung der niederländischen Poesie in den achtziger Jahren, die bezeichnenderweise unter englischem Einfluß stand (Shellv, Keats), der wir die herrlichste Lyrik zu verdanken haben.

Diese Seite des holländischen Wesens kommt auch bei Vondel zur Geltung. Auch wenn bei ihm das eigentliche Liebesgedicht fehlt, so hatte er doch ein starkes und inniges Gefühl für das Glück und die Schmerzen des Familcnlebens. Und es sind vor allem ceine Totenklagen, die uns zu Tränen rühren können.

Das holländische Volk verdankt es seinem Vondel, daß er seiner Sprache, die sich schon längst selbständig entwickelt hatte, jene klassische Wendigkeit, Geschmeidigkeit und Fülle verliehen hat, von der wir alle noch zehren. Es mag wohl sein, daß die Mehrzahl der Bevölkerung sich nur schwer mit ihrem größten Diditer befaßt, die großen Sdirift-steller aber lesen ihn mit Vorliebe und immer zu ihrem Vorteil. Es ist bezeichnend, daß zwei große Dichter des 19. und 20. Jahrhunderts, Bilderdijk ud Verwey, die Herausgabe von Vondels sämtlichen Werken unternommen haben und daß die bekannten Schriftsteller Molkenboer und van Duinker-ken die Vondelstudien in Nimwegen und Leiden in Händen haben. Und nicht zuletzt verdient es Erwähnung, daß die Jugend während der deutschen Besetzung immer wieder nach Vondels Kampfgedichten griff, und daß in den letzten Jahren viele VondelAnthologien erscheinen konnten. Denn wenn auch Vondel weltanschaulich gebunden und für viele nicht sofort verständlich ist, so ist doch zu hoffen, daß durch die Uberwindung des Konfessionalismus ein leichteres Verstehen ermöglicht wird. Und sdiließlich: Vondels Schätze sind so unermeßlich, daß jeder Suchende darin leidit Bereicherung finden kann. „Was Vondel groß madit, das ist an erster Stelle die unglaublidie Flohcit und Reinheit seiner poetischen Form, der Reichtum seines Wortschatzes, die Geschmeidigkeit seines Wortes, dessen funkelnder Glanz, die orchestrale Klangfarbe, der drängende und lebendige Rhythmus, die königliche Würde seiner Alexandriner und die elysisdie Leichtigkeit seiner lyrischen Strophen. Vondel weiß jeden Gegenstand in die Sphäre hoher Poesie zu erheben. Ein Hauch von Ewigkeit fehlt selten,“ (Huizinga.)

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