65000 Namen - © APA / Herbert Pfarrhofer   -   Ausschnitt aus der Mauer mit den 65.000 Namen der unter der NS-Herrschaft ermordeten österreichischen Jude, Ostarrichipark, Wien

Novemberpogrome 1938: Wegbahnung für den Judenmord

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Die Ereignisse des 9. November 1938 waren keine „spontane Volkserhebung“, sondern wurden vom NS-Regime geplant. Letzter Teil der Erinnerung an die Novemberpogrome.

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Die Ereignisse des 9. November 1938 waren keine „spontane Volkserhebung“, sondern wurden vom NS-Regime geplant. Letzter Teil der Erinnerung an die Novemberpogrome.

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Dass die Novemberpogrome von den Spitzen des NS-Regimes vorbereitet wurden, ergibt sich aus verschiedenen Fakten. Erstens hat in Davos 1936 der jüdische Medizinstudent David Frankfurter den Schweizer Statthalter der National­sozialisten, Wilhelm Gustloff, erschossen. Es kam zu einem Prozess, den die NS-Propaganda ausnutzte, aber es kam zu keinen ähnlichen Pogromen wie bei dem Attentat von Herschel Grynszpan vom 9. November 1938. Der Grund war vermutlich, dass 1936 die Olympischen Spiele in Deutschland stattfanden und man der Welt zeigen wollte, dass Deutschland friedlich und zivilisiert ist.

1938 war das nicht mehr der Fall, und der 9. November ist ja in Deutschland in mehrfacher Hinsicht ein historisch-bedeutender Tag: Am 9. November 1918 wurde zweimal die Republik ausgerufen, zuerst von Phi-
lipp Scheidemann und etwas später von Karl Liebknecht. Am 9. November 1923 initiierte Adolf Hitler mit seinen Spießgesellen den Marsch auf die Feldherrnhalle in München. Der Gedenktag für diesen Marsch wurde von Hitler und seinen Gefolgsleuten jährlich zelebriert.

Am 9. November 1938, anlässlich einer solchen Gedenkfeier, war Hitler im Hofbräuhauskeller in München und es war offensichtlich, dass er als einer der Ersten informiert wurde, dass der deutsche Diplomat Ernst von Rath, das Attentats-Opfer von Grynszpan in Paris, verstorben war. Im Gegensatz zu seiner sonstigen Angewohnheit, im „Hofbräuhaus“ eine Rede zu halten, tat dies Joseph Goebbels, und in dieser Rede gab er den Tod Ernst von Raths bekannt. Das deutsche Volk werde sich dieses vom Weltjudentum nicht gefallen lassen. Die Partei werde nichts unternehmen, um den gerechten Volkszorn zurückzuhalten. Das war ein Zeichen für die versammelten Parteiführer, Gauleiter und sonstigen wichtigen Leute der Nationalsozialisten; diese stürzten sofort zu den Telefonen und verständigten ihre Gruppen mit dem Hinweis, man solle die Aktionen gegen Juden als „spontane Volkserhebung“ darstellen.

SA-, SS- und NSDAP-Mitglieder sollten sich in ziviler Kleidung an diesen Aktionen beteiligen, damit diese Juden-Aktion als Reaktion empörter Deutscher und spontane Vergeltung ausgegeben werden könne. Tatsächlich war sie von Goebbels inszeniert, organisiert und gesteuert. Jetzt waren interessanterweise die SA-Leute sofort informiert, Gestapo und SS etwas später.

Die SA-Truppen ignorierten die Befehle, Zivilkleidung zu tragen und drangen in die Wohnungen ein, verprügeltem Menschen brutal – oft zu Tode –, vergewaltigten Frauen, zündeten Synagogen an und schändeten Friedhöfe. Massenkrawalle der Bevölkerung blieben jedoch aus. Etwa zwei Stunden später kamen dann SS und Gestapo und hielten zum Teil die SA-Leute zurück, weil diese Uniformen trugen.

Exzesse in Wien übertrafen alles

In Wien lief diese Aktion erst in den Morgenstunden des 10.November 1938 voll an. Die Exzesse in Wien übertrafen die im Altreich verübten Gewalttaten bei weitem. 42 Synagogen sowie eine Vielzahl von Bet- und Lernstuben wurden zerstört. Neun Gotteshäuser brannten in einer einzigen Straße der Leopoldstadt. In der Herminengasse wurden Tora-Rollen, Talmud-Folianten und Gebets-Bücher zu einem Scheiterhaufen aufgestapelt und angezündet. Der Wiener Mob tanzte auf ausgebreiteten Tora-Rollen. In der Seitenstettengasse wurde der Tempel nicht angezündet, aus Angst, dass das Feuer auf die umliegenden Gebäude übergreifen würde. Kultgegenstände wurden zertrümmert und das Inventar des Tempels komplett demoliert. Die Aktion im Seitenstetten-Tempel leitete Adolf Eichmann.

Synagogen im dritten Bezirk wurden unter Führung des späteren Mussolini-Befreiers Otto Skorzeny zerstört. Die Vereinssynagoge „Beth-Hagnesseth“ wurde devastiert und als Werkstätte benutzt. Das Vereinsbethaus in der Erdbergstraße 15, das sich im ersten Stock mit einer angeschlossenen Talmud-Tora-Schule befand, wurde weggesprengt. Die Bethäuser „Schomer Israel“ in der Hetzgasse 40, das Vereinsbethaus „Osedov“ („Man tut Gutes“ ) in der Radetzkystraße 27 sowie das Vereinsbethaus „Obere Donaustraße/Steingasse 18“ brannten aus.
In Wien wurden bei den November-Pogromen 35.000 Juden verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verbracht. Hunderte starben an den Folgen der Misshandlungen. In der Brigittenau wurden jüdische Frauen gedemütigt und sadistisch gequält. Sie hatten nackt mit erhobenem Bein zu tanzen; wenn sie sich weigerten, wurden sie von ihren Peinigern zusätzlich gequält.

Auch in anderen österreichischen Städten wurden Synagogen verbrannt, jüdische Wohnungen demoliert und Menschen ermordet. Insgesamt wurden in Wien 42 Synagogen, zahlreiche jüdische Friedhöfe durch Brandlegung und Wurf von Handgranaten zerstört.

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