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Nur zwanzig Jahre für Belgien?

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Der flämische Heimatdichter Ernest Claes erzählt aus seiner Schulzeit ein bedeutungsschweres Ereignis. Eines Tages erschien der Schulinspektor in der Klasse und unterhielt sich eine Weile mit dem Lehrer auf französisch. Offensichtlich war der Inspektor ein Brüsseler oder ein Wallone. Dann stellte er den Schülern eine Frage: „Kinder, was ist euer Vaterland?“ Es klang aber aus seinem Munde wie: Was ist euer Vatterlaand. Da war kein Zweifel mehr: ein Wallone. Und für den jungen Ernest, der schon Consciences „Löwe von Flandern“ gelesen hatte, war er gar ein „Lilienkerl“. Der Knabe hob den Finger. „Flandern, Herr Schulinspektor.“ Nachher gab es eine Tracht Prügel und die ersten Zeilen aus dem Lesebuch wurden dem Buben eingeschärft: „Belgien ist unser Vaterland.“

Sprachenkrieg: heftiger denn je

Das geschah vor siebzig Jahren. Heute scheint die Frage des Schulinspektors noch immer nicht völlig geklärt. Besonders in der Turbulenz von Wahlschlachten und Regierungskrisen treten die Meinungsverschiedenheiten grell zutage. Als ob die Sprachschwierigkeiten auf Kundgebungen und Kongressen, wo bei Reden und Debatten abwechselnd französisch und flämisch gesprochen werden muß (vorausgesetzt, daß der Redner letzteres überhaupt kann), nicht schon Ungemach genug verursachten, vergiften Demagogen in den Zeitungen der Extremen die ohnehin erhitzte Atmosphäre noch beträchtlich. Neuerdings tragen unversöhnliche Gegner ihre Zwistig-keiten sogar bei den Gottesdiensten aus. Der Bischof von Brügge versuchte vor kurzem, die Differenzen durch einen Kompromiß zu überbrücken. Er verordnete, daß in den Badeorten an der Küste während der Hochsaison die Predigt zu zwei Drittel in flämischer, zu einem

Drittel in französischer Sprache zu halten sei. In Ostende widersetzten die Flamen sich der Verordnung, fingen während des französischen Sermons laut zu beten an, und mehrere verließen nach einem Verweis demonstrativ die Kirche. Wenn der Touristenverkehr das Französische notwendig erscheinen läßt,

„warum dann nicht auch eine Predigt in englischer oder deutscher Sprache?“, fragte man quasi arglos. Der kleine Unterschied, daß es sich im einen Falle meistens um Landsleute, im andern durchweg um Fremde handle, wurde von den Streitsüchtigen einfach übersehen.

Weiter Weg zur Solidarität

Die Solidarität zwischen Flamen und Wallonen, welche die alte belgische Regierung zu fördern versucht hatte, indem sie die Sprachgesetze ein für allemal in einer neuen Verfassung verankern wollte, scheint von ihrer Verwirklichung noch weit entfernt zu sein. Auch bei der Regierungsformierung nach den Wahlen haben die flämisch-wallonischen Gegensätze eine Rolle gespielt. Und die neue Regierung wird die alten Fragen (Revision der Sprachgesetze, des Statutes von Brüssel usw.) irgendwie lösen müssen, bevor an die geplante Erneuerung des Grundgesetzes gedacht werden kann. Eine permanente Parlamentskommission wird sich diesen Problemen annehmen.

Fürs erste freilich kann man es schon als bedeutenden Fortschritt ansehen, daß Belgien nach einer Krise von neun Wochen endlich wieder eine Regierung besitzt. Die Lösung erfolgte übrigens genau so wie sie jedem Einsichtigen, der sich nach der schweren Wahlniederlage der Koalitionsparteien einen klaren Kopf bewahrt hatte, als die einzig mögliche von vornherein vorschwebte: Katholiken und Sozialisten fanden sich noch einmal bereit, die Schultern unter den ungefügen Staatskoloß zu stemmen.

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