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österreichische Slawistik

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Kaum ein Universitätsfach ist so organisch aus den besonderen Verhältnissen der alten Monardiie erwachsen und hat zu engst verbunden mit diesen seinen Sinn und seine Aufgaben gewandelt wie die slawischen Studien. Und gerade diese Disziplin bildet ein Ehrenblatt österreichischer Wissenschaft. Denn in österreidi und an der Universität Wien hat, angeregt durch den großen Aufschwung der germanischen Philologie zu Beginn des vorigen Jahrhunderts in Deutschland, die slawische Philologie — als die Wissenschaft von dem geistigen Leben der slawischen Völker, wie dieses in ihrer Spradie, Literatur und dem gesamten Volkstum und dessen historischer Entwicklung sich darstellt — nach System und Methode ihre erste große Gestalt gewonnen.

Genau vor hundert Jahren wurde an der Wiener Universität ein Lehrstuhl für dieses Fach begründet. Es war dies ein Ergebnis des Revolutionsjahres 1848, der staatsrechtlich anerkannten Gleichberechtigung aller Völker und Sprachen der Monarchie, ein erster großer Erfolg des an dem Vorbild der deutsdien Romantik und an den schwärmerisch slawenfreundlichen Ideen J. G. Herders erwachenden und seitdem unentwegt aufstrebenden Slawentums. Eine Entschließung des Ministers Graf Stadion berief Franz Miklosich, einen Slowenen, damals Amanuensis an der Hofbiblio-thek, auf diesen Lehrstuhl. Damit beginnt eine große Epoche dieser Wissenschaft.

Gewisse Fundamente waren für sie durch die Arbeiten J. Dobrovskys (Prag), B. K o p i t a r s (Wien), A. Vostokovs (Petersburg) und anderer wohl 6chon gelegt. Auf diesen baute Miklosich folgerichtig weiter. Sein Ehrgeiz war, das, was ein Jakob Grimm, Friedrich Dietz, Franz B o p p für die Philologie in Deutschland bereits geleistet hatten, nun auch für die slawische Philologie zu schaffen. Miklosich bat seine Aufgabe glänzend gelöst. Das Ergebnis seines Lebens war ein Grundriß der gesamten slawischen Sprachwissenschaft. Die Erforschung der Einzelsprachen krönte er durch das geniale Werk seiner Vergleidienden Slawischen Grammatik (4 Bde., 1852 ff.), ein Seitenstück zu Grimms Deutscher Grammatik. Seine großen Lexika sind seither unentbehrliche Flandbücher für jeden Slawisten. Bei seinen bahnbrechenden Forschungen zur slawischen Lehnwortkunde drang er tief ein auch in das Magyarische, Türkische, Alba-nisdie, Rumänische sowie in das so überaus komplexe Gebiet der Zigeunersprache und schuf Grundlegendes für die Philologie auch dieser damals noch kaum erforschten Idiome.

Miklosichs Arbeiten sind in 44 Bänden und in über 100 großen Abhandlungen niedergelegt. Es ist unmöglich, andere seiner vielen Arbeitsgebiete, slawische Volksdichtung, Ethnographie, slawische Kultur- und Rechtsgeschichte usw., hier auch nur zu streifen. Es liegt viel an der aus dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts entstandenen verhängnisvollen Entfremdung zwischen deutschem und slawischem Wesen, daß der Name Miklosich in der europäischen Wissenschaft nicht allgemein jenen Ruhm genießt, der seinem schier übermenschlich anmutenden Lebenswerk gebührt.

Es sollen die Leistungen der Slawistik in den slawischen Ländern selbst hier keineswegs verringert werden. Naturgemäß aber stand diesen ihre eigene Sprache immer am nächsten, was zu dem imposanten Ausbau einer speziellen Russistik, Polonistik, Bohemistik usw. führte. An den spezifisch altösterreichischen Aufgaben der Wiener Lehrkanzel war es gelegen, daß hier die Slawistik in einer universalen, alle slawischen Völker umfassenden Weise betrieben wurde, daß neben den Einzelsprachen hier das Altkirchenslawische und das Studium der ältesten Sprachdenkmäler im Mittelpunkt standen und in Wien die vergleichende slawische Grammatik ihre vornehme Pflegestätte hatte. Die „Wiener Schule“ der slawischen Philologie über das 19. Jahrhundert hinaus zu hödistem Ansehen geführt zu haben, war das Verdienst von Miklosichs Nachfolger Vatroslav Jagic.

Als Jagic, ein gebürtiger Kroate, 1885 nach Wien kam, ging ihm, von den Universitäten Berlin und Petersburg kommend, bereits ein internationaler Ruf voraus. Er übernahm hier ein gewaltiges Erbe, verwaltete es, entwickelte es in wesentlichen Teilen weiter und vervollständigte es zu dem Gesamtbau einer slawischen Philologie durch grundlegende Arbeiten zur Geschichte des slawischen Schrifttums und einen reichen Beitrag zur Altertumskunde.

Die überragende Stellung, die Jagic in Wien für sein Fach erlangte, beruhte auf seinem „Archiv für slawische Philologie“, mit dem er durch fünfundvierzig Jahre (1875—1920) diese Wissenschaft in internationalem Rahmen führte, sowie auf dem durch ihn an der Wiener Universität begründeten „Slawischen Seminar“, das in der Folge die erste Pflanzschule dieses Faches wurde. Das ungemein vielseitige, in seiner Fülle erstaunliche Lebenswerk Jagics kann hier auch nicht oberflächlich umrissen werden. Niemand war aber mehr berufen als er, in einer im Auftrag der Kaiserl. Petersburger Akademie der Wissenschaften verfaßten monumentalen „Geschichte der slawischen Philologie“ (Pbg. 1910, russ., 962 S. in 4) eine gewaltige Überschau über das ganze große Fach von seinen Anfängen an mit allen den vielen Einzelproblemen und allen sie bewegenden Persönlichkeiten zu geben, der sein ganzes Leben im Zentrum dieser Wissenschaften gestanden und sie in entscheidenden Dingen gelenkt hat.

In seinem Wiener Seminar hat Jagic eine unübersehbare Zahl von Schülern, zumeist österreichisdie Slawen, ausgebildet, die dann als Lehrer an den Mittelschulen der Monarchie wirkten oder auf Universitätslehrstühle ihrer Heimat gelangten. Und man kann den Geist altösterreichischer Kulturvermittlung nirgends besser erkennen als auf diesem Gebiet, das — ähnlich wie die Germanistik in deutschen Ländern — seither im Mittelpunkt des slawisdien geistigen Lebens steht. Durch Miklosich, Jagic, Universitätsprofessoren im staatlichen Auftrag, wurden Hunderte junger Kroaten, Tschechen, Slowenen in jener Disziplin geschult, die berufen war, in den Slawen die Liebe zu ihrer Sprache, Dichtung und nationalen Vergangenheit zu erwecken und so ein geistig vertieftes Nationalbewußtsein zu pflegen. Die Wiener Universität hat zu dem Aufstieg des Slawentums im 19. Jahrhundert Entscheidendes beigetragen. Das alte Österreich hat seine geschichtliche Aufgabe, die Kultur des Westens nach dem Osten zu tragen, in großmütiger Weise und — bis zur Selbstaufopferung erfüllt.

Das hohe Ansehen der Wiener Slawistik blieb auch unter Jagics Nachfolgern M. Resetar und V. Vondrak aufredit. Das Wiener Seminar behielt mit seiner damals berühmten, hinsichtlich Vollständigkeit einzigartigen Fachblibliothek seine internationale Anziehungskraft. Auch in Graz, wo seit 1870 ein slawisches Ordinariat bestand, das vorwiegend auf den Südosten ausgerichtet war, war die Slawistik gut bestellt.

Daß mit dem Untergang der Monarchie im Jahre 1918 die Wiener Slawistik in eine Krisis kam, ist begreiflich. Eine Blütezeit dieses Faches war damit notwendig zu Ende. Denn wenn auch die beiden Koryphäen der österreichischen Slawistik ausgezeichnet waren durch überragende Begabung und Arbeitskraft, so war doch kaum irgendwo ein so günstiger Boden für deren Entfaltung, als im alten Österreich und in dessen Hauptstadt, wo die schöpferischen Kräfte eines großen Reiches zusammenströmten, sich diesen Slawen die deutsche Kultur erschloß und sie reiche geistige und materielle Förderung empfingen.

Mit dem Jahre 1918 war dies zu Ende. Eine erste Folge war die nahezu völlige Auflösung des Personalstandes der Wiener Slawistik. Denn mit der Gründung der Nachfolgestaaten verließen die slawischen Studenten Wien, um nun an ihren Fleimat-universitäten zu studieren. Ebenso verließen auch ihre Lehrer Resetar und Vondrak ihre Wiener Lehrstühle.

Doch ließ die österreichische Unterrichtsverwaltung einen Wiederaufbau der Slawistik nicht aus dem Auge. Im Jahre 1922 wurde der in Baden bei Wien lebende ehemalige Dozent der Moskauer Universität, Fürst N. S. Trubetzkoy, auf den Wiener Lehrstuhl berufen. In ihm erhielt Wien wieder einen hervorragenden Slawisten. Seine persönlich erlebte Auffassung aller sprachlichen Dinge machte seine Vorlesungen zu Erlebnissen. Sein zu letzter Einfachheit und Echtheit geläutertes Menschentum zog alle in seinen Bann, die mit ihm näher in Berührung kamen. Als Forscher war er bahnbrechend für eine neue Auffassung der sprachlichen Phänomene vom Ganzen der Sprache her — für eine sogenannte strukturelle und funktionelle Sprachbetrachtung — und schloß bald einen Kreis namhafter Gelehrter zu einer „Internationalen Gesellschaft für Phonologie“ zusammen, die sich die Durchführung der neuen Prinzipien für die Sprachen der Welt zum Ziele setzte. Mitten in der Arbeit, die Grammatik der slawischen Sprachen in diesem Sinne neu aufzubauen, ereilte ihn 1938 ein allzu früher Tod.

Für das neue Österreich waren die innenpolitischen Motive dieser Lehrkanzel fortgefallen. Die Ausbildung von Slawisten für Mittelschulen kam wenig mehr in Frage. Unter Trubetzkoy reduzierte sich die Slawistik auf reine Sprachwissenschaft. Für die in den Notzeiten nach 1918 nach Brotstudien gehende deutschösterreidiische Jugend war sie eine zu theoretische Angelegenheit.

Seit dem Jahre 1939 wird die Slawistik an der Wiener Universität durch deutschgebürtige Fachleute vertreten und ist nach dem unglücklidien Zwischenakt des Hitler-Regimes seit dem Jahre 1945 wieder im Aufbau begriffen. (

Zur Lage der slawischen Studien in Österreich muß noch gesagt werden, daß gerade ihre schwere Zeit nach 1918 mit einem neuen großen internationalen Aufsdiwung dieses Faches, vor allem in den slawischen Ländern, zusammenfiel. Heute ist an den etwa 35 slawischen Universitäten gerade die Slawistik eine ehrgeizig gepflegte Disziplin. Die reichliche staatliche Förderung, die dort diesem Fach zuteil wird, bewirkte eine Intensivierung der Forschung, Spezialisierung in den Teilgebieten und damit eine schier unübersehbare, zum größten Teil hochwertige wissenschaftliche Publikation. Und während an der Universität Prag heute die slawisdie Philologie durch nicht weniger als fünfzehn Professoren und sechs Dozenten vertreten erscheint, muß in Wien ein einziger Professor mit dem in den dreißig Jahren seit Jagics Tod übermächtig angewadisenen Fach, das Sprachwissenschaft, Literatur- und Geistesgeschichte, slawische Ethnographie und Volkskunde, Altertumskunde und anderes umfaßt — und dies alles für zehn slawische Spradien und Völker —, irgendwie fertig werden.

Dabei ist zu bedenken, daß mehr denn je heute ein richtiges Verhältnis zu unseren slawischen Nachbarn eine der Lebensfragen Österreichs ist. Ein ungeahnter, epochaler Aufstieg hat sich seit fünfzig Jahren in der slawischen Welt vollzogen und eröffnet für die politische Zukunft Europas noch nicht absehbare Perspektiven. Österreich steht dieser Entwicklung als nächster Nachbar gegenüber. Wir müssen dem slawischen Aufstieg in seiner ganzen Tragweite und nach allen seinen inneren Kräften gerecht werden, wenn wir vor ihm bestehen wollen.

Doch die Erfahrung zweier Weltkriege, die nicht mehr zu übersehende Bedeutung der slawischen Länder im politischen und wirtschaftlichen Leben Europas, die problematische Stellung Österreichs am Rand der slawischen Weh und nicht zuletzt die unmittelbare menschliche Berührung, die viele junge Österreicher als Soldaten im letzten Kriege mit dem slawischen Volke hatten, ließ in den letzten Jahren auch bei uns, und eben in der Jugend, ein ganz lebendiges Interesse für die slawisch Welt entstehen.

Seit einigen Jahren sind die slawistischen Vorlesungen an unseren Universitäten ebenso besucht, wie zu Jagics Zeiten unter den ganz anderen Voraussetzungen der Monarchie. Die Kenntnis slawischer Sprachen, die Vorbedingungen für alle slawischen Studien, wächst bei uns von Jahr zu Jahr. Die Einführung slawischen Sprachunterrichts an Haupt- und Mittelschulen — ein vernünftigerweise unabwendbare Forderung unserer Schulentwicklung — macht schon gewisse Fortschritte. Und in den slawistischen Seminaren in Wien und Graz arbeiten bereits junge Doktoren, die gewillt und befähigt sind, sich auf die Universitätsdozentur dieses Faches vorzubereiten. Dies gibt die Gewähr, daß die Slawistik in Österreich einer neuen kräftigen Entwicklung entgegengeht, die ihrer großen Tradition würdig ist.

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