Progrom - © Foto: Getty Images / Hulton Archive

Pogrome in der Ukraine: Wegbereiter für den Holocaust?

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US-Historiker Jeffrey Veidlinger widmet sich im hervorragend recherchierten Buch „Mitten im zivilisierten Europa“ Pogromen in der Ukraine 1919–21. Zur These, diese Pogrome hätten die Schoa erst möglich gemacht, gibt es aber Widerspruch.

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US-Historiker Jeffrey Veidlinger widmet sich im hervorragend recherchierten Buch „Mitten im zivilisierten Europa“ Pogromen in der Ukraine 1919–21. Zur These, diese Pogrome hätten die Schoa erst möglich gemacht, gibt es aber Widerspruch.

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Der Erste Weltkrieg hat in der Ukraine nie so wirklich geendet. Viel eher ist er annähernd nahtlos in den Zweiten übergegangen. Und während sich die Mächte neu ordneten in Europa nach dem Ende dieses ersten so einschneidenden Krieges, während Monarchien untergingen, Nationalstaaten aufstrebten und radikale Strömungen von links wie von rechts die politische Landschaft prägten, war es die Ukraine, in der sich all diese Kräfte noch Jahre blutig aneinander rieben. Nur zur Veranschaulichung: Zwischen 1914 und 1921 verlor die Ukraine fast 20 Prozent ihrer Bevölkerung. Viele emigrierten, viele flohen, viele starben.

Die Ukraine war ein Schlachtfeld, auf dem das gefallene Zarenreich, die Bolschewiken, die Ukrainische Volksrepublik, die Westukrainische Volksrepublik, später die beiden nach Unabhängigkeit von Moskau strebenden ukrainischen Staaten in Allianz, die anarchistische Machno-Bewegung, Polen und Warlords versuchten, Land zu gewinnen, Beute zu machen und dem jeweils anderen den Hals umzudrehen. Ein Krieg mit mehr als einer Million Toten war das. Und wie er ausging, ist bekannt. Aber noch in den frühen 1930er Jahren sahen die Sowjets die Notwendigkeit, die renitente ukrainische Landbevölkerung durch Zwangskollektivierung auszuhungern – was dann als Holodomor (zwischen drei und vier Millionen Tote) in die Geschichte einging.

Alle haben sich schuldig gemacht

Der Historiker Jeffrey Veidlinger widmet sich in seinem Buch „Mitten im zivilisierten Europa“ einem eher weniger oft beachteten Phänomen in diesen turbulenten Jahren: Pogromen. Schätzungsweise 100.000 Juden starben in diesen Jahren bei rund 1000 antisemitischen Gewalttaten, die sich quer über das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine erstreckten. Seine These: Die Jahre der Gewalt, die Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung in ebendieser Epoche in der Ukraine hätten dem Holocaust erst den Weg geebnet. Als die Nazis gekommen seien, sei die Ukraine bereits eine Todeszone gewesen, die Jahrzehnte der Gewalt hinter sich gehabt habe, schreibt er. Die Pogrome hätten Gewalt gegen Juden als akzeptable Reaktion auf die Exzesse der Bolschewiken etabliert, so Veidlinger.

Und er betreibt in seinem spannend zu lesenden Buch durchaus keine Schwarz-Weiß-Malerei: Schuldig gemacht hätten sich dabei alle in der Ukraine. Ohne Ausnahme. Für die Bolschewiken seien Ju den für die verhassten Kapitalisten gestanden und entsprechend verfolgt worden; die ukrainische Nationalbewegung, die den Juden zuerst große Autonomie zugesprochen hatte, hätte Juden dann aber oft verdächtigt, mit den Bolschewiken gemeinsame Sache zu machen oder unter einer Decke mit polnischen Großgrundbesitzern zu stecken, und sie daher verfolgt; Warlords wollten ganz einfach Beute machen; für die Weißgardisten wiederum, die in der Südukraine versprengten Reste des zaristischen Regimes, seien Juden ganz einfach Christusmörder gewesen. Die Ironie an der Sache: Juden waren in allen diesen politischen Lagern vertreten.

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