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Preisgabe des Volksstücks?

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Überdenkt man die Spielpläne der letzten Thaterjahre, so sieht man sich versucht, unserem Volksstück lieber einen Nachruf zu halten, als nach seiner Erneuerung zu rufen, so abgestorben und eingesargt erscheint diese theatralische Kunstform. Dann aber erinnert man sich an ein Wort Richard Wagners, der Wien die „klassische Heimstätte des Volksstückes” nannte, wobei ihm wohl zunächst die Gestalten Raimunds und Nestroys vor- gesdhwebt haben mögen, mit denen das gesamte, unmittelbar dem Volksbewußtsein entwachsene Theater deutscher Zunge seinen Höhepunkt erreichte, vielleicht auch noch die so reich begabte Erscheinung Philipp Hafners, der ein halbes Jahrhundert früher sein kurzes Leben mit unerhörten Erfolgen krönte. Große Mahnung bedeutet es auch, wenn die Theaterforschung auf die kaum übersehbar vielen kleinen Orte des österreichischen Alpenlandes verweist, in denen volkstümliches Theater immer wieder aufflackerte, auf die Sterzinger Spiele, auf das Laufener Spiel von Adam und Eva, auf die gewaltige „Comedy vom Jüngsten Gericht” zu Altenmarkt bei Radstadt, auf die Kärntner Totentänze, auf die steirischen Paradeis- spiele in Wildalpen und Donnersbach, bi zurück auf die im Stift St. Paul aufgefundene Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, in deren 58 Versen uns das älteste der zahlreihen Neithart-Spiele und damit das erste deutsche Lustspiel entgegentritt. In lückenloser Folge entwickelt sich, von den Zeiten gewandelt und von Verfall nicht immer ungefährdet, die Vielfalt dieser Erscheinungen durch die Jahrhunderte endlich zu dem — allerdings nicht ganz eindeutig umgrenzbaren — Gesamtbegriff des österreichischen Volksstückes. Und dieser Entwicklung ein Ende zu bereiten, sollte gerade unserer Zeit Vorbehalten sein? „Wäre das Theater noch nicht erfunden, die Österreicher erfänden es”, sagte Laube. Nun, die Österreicher erfanden zwar nicht das Theater schlechtweg, wohl aber schuf sich das österreichische Volk mit erstaunlicher Sicherheit sein besonderes, das seiner Wesensart gemäße Theater und führte es zu zeitweilig hoher Blüte. Solches Erbe nun, wie sich kaum ein anderes Volk eines ähnlichen rühmen kann, sollte so wenig verpflichten, daß es leichthin preisgegeben werden dürfte?

Stets spärlicher werden die Beweise, mit denen das in den letzten Jahrzehnten schon häufig totgesagte Volksstück doch immer wieder sein Noch-Dasein bekundet. Mehrfache Versuche, ihm durch Wettbewerbe neue Dichter auf den Plan zu rufen, zeitigten meist nur dürftige Erfolge. Bis zum ersten Weltkrieg beteiligte sich auch das Land Niederösterreich regelmäßig an diesem Bemühen, bis sein „Volksstück-Preis”, durch die Geldentwertung hinfällig geworden, kurzerhand aufgelassen wurde, statt zeitentsprechende Aufwertung zu erfahren. Wenn im Jahre 1929 Dr. Karl Glossy in seiner Festschrift zum vierzigjährigen Bestände des Deutschen Volkstheaters, dem von seinen Gründern die besondere Pflege des Volksstückes als Hauptaufgabe vorgezeichnet worden war, feststellen mußte, daß sich in den Spielplänen dieser. Bühne das Volksstück immer seltener vertreten finde, so traf solcher Vorwurf weniger die Theaterleitung als das Publikum. Dieses spricht ja in jedem Theater, das seinen Bestand aus eigenen Mitteln bestreiten muß, schließlich doch das entsheidende Wort. Das Volksstück „zog” niht. Es wurde von seinem Publikum mehr und mehr im Stih gelassen und demzufolge auh von seinen Dihtern.

Hier nun erschiene es wohl geboten, sih mit dem Begriff „Volk” als Publikum auseinanderzusetzen, doch mag die Andeutung genügen, wie schwer sih das Verhältnis einer so vielfah geshihteten Masse zum Theater erfassen läßt, • wie verschieden geartet ihre Ansprüche an Unterhaltung, Belustigung und zuweilen auh Bildung sind. Noch um die Jahrhundertwende bereitete die Antwort auf soldie Fragen wesentlich geringere Schwierigkeiten. In den Vorstädten hatte sih das wohlhabende Bürgertum ein Theater um das andere errichtet, versorgte sie ausreihend mit Publikum und bestimmte demgemäß weitgehend ihre Spielpläne, während in den Hoftheatern noch der Adel den Ausshlag gab. Nun aber begann in zunehmendem Maß auh der „kleine Mann”, das Heer der Angestellten und der Arbeitershaft, ihren Anspruch an das Theater anzumelden. Ließ sih auh niht annähernd so etwas wie ein „Programm” finden, das auf dieses neue Publikum Bedaht genommen hätte, so wurde doch soviel klar, daß nun alle die wienerischen Volksstücke, in denen das behagliche Leben der „Hausherren vom Grund” und der Seidenfabrikanten vom Shottenfeld nur durh reht besheidene Konflikte getrübt zu werden pflegte, langsam ihren Boden verloren. Andererseits erwies sih aber auh die Annahme, daß damit die Sorgenwelt der „niederen Stände” auf dem Theater vermehrtes Verständnis gewinnen müsse, im allgemeinen als Irrtum: das „Arme-Leut-Stück” brachte leere Häuser. Ein Beispiel für viele: Im Jahre 1901 verdankte das neue Kaiser-Jubiläums-Stadttheater einen seiner größten Erfolge dem ausgezeichneten, wie von einem Schimmer Raimundshen Geistes geadelten Volksstück „Mutter Sorge” des Wiener Lehrers Rudolf HaweL Als sih etlihe Jahre nah dem Weltkrieg das Deu she Volkstheater dieses Kleinods erinnerte und es unter Friedrich Rosenthals Regie in einer sehr shönen Aufführung wieder auf die Bühne brahte, konnte es damit nur ein knappes Dutzend shleht besuchter Häuser erzielen. Es nimmt niht wunder, daß Erfahrungen solcherart der Pflege des Volksstückes immer mehr Abbruch taten und ihm schließlich nur noch ein gewisses Daseinsreht zubilligten, wenn große Volks- shauspieler, anerkannte Lieblinge des Publikums, in seinen Dienst traten, Girardi vor allem und die Niese. Seit sie uns weggestorben sind gleih einem Dr. Tyrolt und einem Thaller, wird der Verfall des Volksstückes auf dem Wiener Theater immer offenkundiger. Seine zeitgemäße Erneuerung ist versäumt, und allmählich fehlt ihm auh der Nahwuhs an Darstellern. Das Gesellschafts- stüdc füllt die Lücke, auh Operette und Film sind die Nutznießer seines Shwindens. Ihre hochentwickelte Kunst der Ausstattung befriedigt die Schaulust freilih mit weit üppigeren Bildern, und niht ohne Wehmut erinnern wir uns daran, daß uns die Anfänge des Volksstückes in die armseligen „Kreuzerhütten” zurückführen, in denen auf dem Wiener Graben und auf dem Mehlmarkt die Wanderkomödianten ihre Kunst darboten oder in dörflichen Scheunen, auf Tennen und Anger.

Heute gilt das Volksstück vielfah als eine völlig überalterte Form der Bühnenkunst, dankbares Objekt für die Theaterfor- shung und für die Volkskunde, die seine uralten Masken und Spielrequisiten in die Museumsvitrinen stellt. Nimmt man gewisse Gebilde der Volksstückgattung aus, denen ihr dichterischer Rang oder die überzeugende Kraft einer Idee dauernde Gültigkeit sichern, so muß man in der Tat zugeben, daß das heutige Theater mit dem gesamten übrigen Bestand an Volksstücken nichts Richtiges mehr anzufangen weiß. Die Voraussetzungen, aus denen sie einst ihre Wirkung bezogen, treffen niht mehr zu, die Themen und Probleme, die Konflikte im öffentlihen und häuslichen Leben, die damals das Interesse fesselten, sind bedeutungslos geworden, der Witz, der damals unfehlbar zündete — einen „sicheren Lacher” nennt ihn die Theater- sprahe —, geht heute unverstanden oder mitleidig belächelt vorüber. Selbst Erfolgsstücke von unebstreitbarem dichterischem Gehalt, die Jahre hindurch die Spielpläne bereicherten, sind auf dem heutigen Theater niht mehr vorstellbar, so „Das grobe Hemd” von Karlweis, darin ein reicher Fabrikant seinem Sohn den gewissen Salonsozialismus, der damals bei manhen jungen Leuten zum guten Ton gehörte, durh vorgetäushte Verarmung geschwind abgewohnt, oder Viktor Leons „Gebildete Menschen”, darin die Herzensgüte des steinreihen, aber ungebildeten Bruders sih siegreih durchsetzt gegen den Bildungsdünkel des armen. Dem Volksstück shlägt das Verweilen und Beharren im Vergangenen niht gut an, die Bühne fordert von ihm, daß es ihr das Leben heutiger Menschen auf die Bretter bringt. Wohl finden wir an seinem langen Entwicklungsweg dauernde Monumente seiner Art als Marksteine aufgerihtet, aber die lebendige Beziehung zum Volk schafft ihm doch nur die Spiegelung in der jeweiligen Gegenwart. Daraus bezieht es den bunten Reiz seiner steten Wandlung im Laufe der Jahrhunderte, die Vielfalt seiner Themen und Stilarten vom Totentanz bis zur Kasperliade, seinen Reichtum an Formen und Gestalten.

Vom Schicksal der rashen Vergänglihkeit bleiben auh fast alle die dörflichen Schauspiele Anzengrubers niht ausgenommen, die übrigens von Kennern des Bauerntums niemals als echt empfunden wurden. Hingegen hat sein Wiener Volksstück „Das vierte Gebot”, das er selbst ein „warnendes Spiegelbild” nennt, mit der Mahnung an die Eltern, „auh danah zu sein”, daß ihnen die Kinder Ehrfurcht erweisen können, an Wuht bis auf den heutigen Tag nihts eingebüßt, weil seiner moralishen Tendenz, seiner erzieherischen Absiht zeitlose Bedeutung zukommt.

In ähnlichem Sinn mähen auh Shönherrs „Kindertragödie” und Rudolf Holzers mit dem Raimundpreis ausgezeichnetes Volksstück „Gute Mütter” das Verhältnis zwishen Eltern und Kindern zum Gegenstand ihrer dramatischen Komposition. In der Betonung einer erzieherischen Grundidee erkennen wir stets eines der besonderen Merkzeihen des guten Volksstückes, und „Der Alpenkönig und der Menschenfeind” sowie „Der Verschwender” bieten uns die erhabensten Beispiele dieser Art.

Das Volksstück als Begriff ist so wenig überlebt wie das Leben selber. Es hat bloß in der rashen Verwirrung und Zersplitterung der Zeit die Fühlung mit dem Volk verloren wie das verlaufene Kind die Mutterhand. Nihts falscher als die Meinung, die stillen, ereignislosen, die behaglihen und genießerischen Jahre seien so reht die Blütezeit des Volksstückes gewesen. Gerade in solhen Zeiten verflachte es gerne in die Niederung der „Lokalposse”. Solche Jahre waren es, in denen in Wien etlihe tausend Male „Der Böhm in Amerika” gespielt werden konnte, der mit dem wirklihen Volksstück noch weniger gemein hat als ein öder Gassenhauer mit einem shönen Volkslied. In bewegten Zeitläuften aber, wenn politische oder weltanshaulihe Meinungsgegensätze die Gemüter in Spannung hielten oder soziale Fragen nah Lösung drängten, meldete sih niht selten im Volksstück die Volk - stimme zu Wort, freilih bisweilen auf recht einseitige Art. Mit seinem vielgespielten „‘s Nullerl” wußte Karl Morre die Aufmerksamkeit eindringlih auf das traurige Los de. gealterten Landdienstboten hinzulenken, für die er auh im steirischen Landtag sch Stimme erhob. Unserer Zeit aber, wahrhaftig nicht arm an bedrängenden Nöten, flammenden Fragen und Schicksalschweren Entscheidungen, von denen kem Stand und kaum eine einzige Familie unbetroffen bleiben, sind noch keine Dichter erstanden, um von der Bühne herab dem Volke das zu sagen, was :hm in solcher Stunde wohl mehr nützen könnte als oberflächliches Salongeplaudcr und noch so geistreiche Erörterung abseitiger Probleme.

Wird ein zeitgemäß erneuertes Volksstük die Aufgaben erkennen, die ihm heute gestellt sind, und die Möglichkeiten nützen, die sich ihm gerade jetzt bieten? Wird es ein altes Erbe antreten oder endgültig preisgeben?

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