Putin: Eingriff in die Geschichte
Putins Schrift über die Ukraine liest sich wie ein Text aus zaristischen Zeiten. Aber nur ein demokratisches Russland wird ein friedliches Russland sein. Ein Zwischenruf.
Putins Schrift über die Ukraine liest sich wie ein Text aus zaristischen Zeiten. Aber nur ein demokratisches Russland wird ein friedliches Russland sein. Ein Zwischenruf.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat sich im Sommer des Vorjahres in einem ausführlichen Artikel mit der Ukraine beschäftigt („On the Historical Unity of Russians and Ukrains“ vom 12. Juli 2021, nachzulesen unter en.kremlin.ru). Dieser Artikel wurde vielfach kritisiert, selbst die Tatsache seiner Veröffentlichung in westlichen Medien. Dabei handelt es sich um ein sehr interessantes Dokument, gerade weil man davon ausgehen kann, dass es nicht der Präsident allein in seinen knappen Mußestunden verfasst hat. Es ist ein Werk seiner Kanzlei, geprüft von historisch und diplomatisch versierten Fachkräften.
Bei all der berechtigten Kritik, die dieser Text erfahren hat, wurde ein, wie ich meine, wesentlicher Punkt übersehen: Putins Schrift liest sich – zumindest was den Zeitraum bis 1917 betrifft – wie aus dem Schulbuch eines zaristischen Gymnasiums. Ja, man kann die russische Geschichte so beschreiben und so wurde es ja auch gemacht. Aber es ist eben die Perspektive und die Sichtweise des 19. Jahrhunderts, die einem hier entgegentritt, die imperiale Märchenstunde von anno dazumal. Längst obsolete Begriffe wie „Kleinrussland“ und „Neurussland“ feiern da fröhliche Urständ, ohne dass der prominente Autor bedenkt, dass es (neben anderem) eben auch diese paternalistische Attitüde war, die dem russischen Imperium schon einmal den Todesstoß versetzt hat.
Weltbild des 19. Jahrhunderts
Die Verfolgung von Geschichtswissenschaftlern, das Umschreiben der Schulbücher auf Geheiß der Regierung, all das blieb im Ausland weitgehend unbeachtet, weil man diese Maßnahmen nur für eine weitere Marotte eines autoritären Regimes hielt. Im Grunde aber für irrelevant. Leider wissen wir nicht, was im Kreml, diesem Meisterwerk italienischer Handwerkskunst, zwischen dem französischen Präsidenten Macron, dem deutschen Bundeskanzler Scholz und Putin besprochen wurde. Sollten sie Präsident Putin gefragt haben, was er am Tag nach der Siegesparade in Kiew mit der Ukraine vorhabe, so könnte er ihnen geantwortet haben: Die nächsten Wahlen fälschen, die Parteien auflösen, das Parlament entmachten und die freie Presse abschaffen. Die Ukraine wäre dann das, wofür sie schon im 19. Jahrhundert gehalten wurde. Eine freie Fläche zwischen Moskau und dem Schwarzen Meer. Eine Poststation auf dem Weg zur Hagia Sophia, wo sich Russlands historische Mission dereinst glorreich erfüllen wird. (Im Geschichtsbuch lautet das nächste Kapitel dann „Krimkrieg“, aber das überspringen wir jetzt.)
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