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SINGENDES SÜDTIROL

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Vom Brenner südwärts fährt man heute in ein singendes Land. Das war nicht immer so, wenn auch in Südtirol von alters her gern musiziert wurde. Der Ruf seiner Blaskapellen ist ein altbegründeter und reicht weit über Tirol hinaus. Zither und Hackbrett, das „hölzerne G'lacht“, sind auf den Almen daheim. Auch gesungen wurde natürlich schon immer in der Heimat Walthers von der Vogelweide und Oswalds von Wolkenstein, davon zeugen die Volkslieder aus allen Gauen. Zum Chor zusammengefaßt, zur Mehrstimmigkeit gegliedert und damit künstlerischen Zielen zugänglich wurde der Gesang vor allem in der Kirchenmusik. Diese hat auch die bedeutendsten Südtiroler Komponisten hervorgebracht, schon im 16. Jahrhundert Leonhard Lechner, in unserer Zeit Magnus Ortwein, Ignaz Mitterer, Vinzenz Goller, um nur drei zu nennen. Mittelbar gehören auch die Nordtiroler Joseph Lechthaler, dessen Musikstudium bei Ortwein in Meran begann, und Karl Koch, der durch zehn Jahre die Kirchenmusik an der Stadtpfarrkirche in Bozen leitete, in diesen Kreis. Der Domchor Brixen bildete mit den Stadtpfarrchören Bozen und Meran die Spitze der Südtiroler Kirchenmusikpflege, der die anderen Chöre bis in die Dörfer hinein (oder hinauf, denn viele liegen über tausend Meter) im Rahmen ihrer freilich oft recht bescheidenen Mitteln nacheiferten.

Dann aber kam eine Zeit, da das kleine Land zwischen zwei großen Völkern und Kulturen gleichsam eingeklemmt war, von der einen durch Stamm- und Sprachfremdheit, von der anderen durch Staatsgrenzen getrennt, und geistig zu ersticken drohte. Wohl bliesen die Kapellen, sangen die Chöre ihre Ämter, doch es kam nichts Neues mehr hinzu, es blieb alles beim alten, bald nicht mehr Zeitgemäßen, die Entwicklung eilte an der Abgeschlossenheit des Landes vorbei. Sie aufzuholen, bestand wenig Aussicht, und — wen wundert's — wenig Initiative. Denn der geistige Neuaufbau eines Landes, das, seiner größeren Hälfte entrissen, nirgends mehr verwurzelt war und gleichsam in der Luft hing, konnte nur ganz allmählich geschehen und ist heute noch nicht völlig vollzogen. Politische, wirtschaftliche, soziale und nationale Grundlagen bilden den Unterbau für geistiges Leben; eben dieser Unterbau mußte nach dem Chaos des Zusammenbruchs nach den beiden Weltkriegen immer wieder neu und mühsam geschaffen werden. Da die Kunst unter solchen Unsicherheiten und Wirren am meisten leidet, die Musik aber von allen Künsten die zarteste ist und am ersten untergeht, ist es in diesem Sinne das besondere Verdienst der Kirchenmusiker an den genannten Kirchen, die übernommenen Werte gewahrt, die bestehende Tradition gepflegt und vor dem absoluten Untergang gerettet zu haben: des Domkapellmeisters von Brixen, Alverä. der Stadtpfarrchorleiter in Bozen, Oberpertinger, und in Meran Baurschafter sowie des Brixner Domorganisten Frontull, der sich um die Orgeln des Landes kümmerte.

In dieser'Zeit tauchte der Name Oswald Jaeggi in Südtirol auf. Er war Choralmagister im Kloster Muri-Gries und übernahm dazu den Kirchenchor. Schweizer von Geburt, Benediktiner aus Einsiedeln, Musiker bis in die Knochen, war er erst Schüler von Otto Riepl gewesen, hatte dann in Rom bei Refice und Casimiri studiert und „den Doktor gemacht“. In seiner Heimat begann man ihn bereits als Komponisten ernst zu nehmen, in Südtirol bald als Chorerzieher. Die Proben wurden länger und strenger, das Repertoire vielfältiger, die Propriumsgesänge genauer und reichhaltiger, der Gesang gepflegter, und alles wurde irgendwie anders. Das sprach zunächst sehr — gegen ihn, doch gewann er besonders von seiten der Jugend rasch Verständnis. Man spürte, daß mit ihm die neue Zeit in den Chorgesang kam. Und so wurde der Chor größer, beweglicher, sein Musizieren lebendiger. Und wenn es in der ersten Zeit seines Wirkens häufig genug Kollisionen mit der eingefleischten Tradition gab, wuchs doch über alle Mißverständnisse hinweg eine neue Sing- und Musizierfreude heran, die immer weitere Kreise zog und bald im Kirchenchor allein nicht mehr befriedigt werden konnte. So wurde der „Kammerchor Leonhard Lechner“ gegründet, in dem sorgfältig ausgewählte Stimmen zu einem singenden Ensemble vereint wurden, das sich und seinem Leiter inzwischen einen europäischen Namen gemacht hat. Eiserne Zucht und wenn nötig halbtagelange Proben haben diese Leistungshöhe aufgebaut und den Kammerchor Leonhard Lechner in die Spitzenreihe gestellt, so daß heute, um die kontinuierliche Arbeit zu gewährleisten, längst nicht mehr alle Einladungen zu Konzertreisen angenommen werden können. Daß auch der Kammerchor in großer Anzahl geistliche Werke musiziert, liegt einerseits in der neuen Musik begründet, die sich wieder mit Vorliebe diesem Gebiet zuwendet, anderseits aber im engeren Kreise der Kirchenmusik, deren liturgische Sendung alles ausschließt, das nicht unmittelbar dem Gottesdienst angehört. So hat der Kammerchor bisher außer kleineren Chorwerken das Oratorium „Die Seligen“ von Joseph Haas und die „Passion“ von Baumann gesungen, der Kirchenchor Messen von Krenek, Brunner, Pfiffner, Jaeggi und anderen. Es ist selbstverständlich, daß zu gewissen Werken und Anlässen beide Chöre vereint wirken.

Der Kammerchor Leonhard Lechner blieb nicht allein. Er ist heute bereits zu einem Bestandteil der „Kantorei Leonhard Lechner“ geworden, der außer ihm ein Kinderchor angehört und eine Kindersingschule, die von Professor Johanna Blum geleitet wird, der bereits international bekannten Organistin des Grieser Pfarrchors und Professorin am Bozentr Konservatorium. Allein das Wirken Oswald Jaeggis zieht immer weitere Kreise. Der Rundfunk hat ihn längst geholt, nicht nur zu Aufnahmen des Kammerchors, sondern als Mitgestalter, Betreuer der Radiomesse, Buchbesprecher und Schallplattenreferenten. Die Diözesanpräsides von Bozen und Brixen rufen ihn zur Gestaltung ihrer Singtage und -kurse, und vom Bischof wurde ihm die Herausgabe des Blattes „Der Kirchensänger“ übertragen. In der Tat viel für einen einzigen Menschen, und es gehört schon die unverwüstliche Vitalität, die ihn auszeichnet, dazu, dies alles zu bewerkstelligen, ohne auf irgendeiner Seite schlapp zu machen; und gewiß auch ein Temperament wie das seine, das zwischen Liebenswürdigkeit und Grobheit alle Saiten klingen läßt; und eine geistige Kraft vor allem, die Gnade ist.

Zur kürzlich begangenen Feier seines fünfzigsten Geburtstages konnte Oswald Jaeggi denn auch die Freude erleben, daß in einer Sendung der Kammerchor Leonhard Lechner, der Kinderchor, der Knabenchor des Vicentinums Brixen, und der Mädchenchor von Meran Kompositionen von ihm sangen. Nicht weil es seine Werke waren, mag ihn mit der größten Freude erfüllt haben, sondern vielmehr noch der Beweis, welch breite Basis sein unermüdliches Wirken für das singende Südtirol bereits gewonnen hat, wie es Professor Dr. Knapp in seiner Würdigung eingehend ausführte. Das Erklingen seiner Werke war nicht allein erobertes Neuland der Musik, sondern in weit höherem Sinn der Dank des Landes für das neue klingende Leben. Er aber wehrte bescheiden ab, denn der Mensch Jaeggi, mit Humor und Demut begabt, steht immer hinter seinem Werk, nie vor ihm. Er ist Priester und weiß, daß alles menschliche Wirken von der Gnade Gottes kommt, die wohl beglückt, aber noch mehr verpflichtet. Diese Verpflichtung ist sein treibendes Moment, das ihn zu Milde und Strenge formt, mit Hintansetzung persönlichen Wohlergehens, denn er könnte es wohl leicht bequemer haben, wenn er diese Verpflichtung nicht als heiligen Auftrag in sich trüge. Das mag auch heute noch gelegentlich zum Mißverständnis seiner Persönlichkeit führen, Gegner gibt es immer und überall, und nur das Bewußtsein des „höheren“ Auftrags läßt sie ertragen. Eine Hilfe 'ind wirkliche und bewährte Freunde, an denen es ihm nicht fehlt, vor allem jedoch die Großzügigkeit an Verständnis und Unterstützung von seiten seiner Oberen, des — leider kürzlich verstorbenen — Abtes Stephan sowie seines Nachfolgers.

Nun ist es natürlich nicht so, daß alles musikalische Leben in Südtirol auf die Formel Oswald Jaeggi zu bringen ist. Er ist kein Wunderkind und weiß sehr genau, wie begrenzt allei menschliche Wirken ist. Zweifellos gibt es genug Entfaltung, die mit seinem Namen nichts zu tun hat, Konzerte verschiedener Veranstaltungen, die ihm nicht verbindlich sind. Aber einen der ersten (und fortwirkenden) Beweise erbracht zu haben, daß es in Südtirol die Möglichkeit gibt, das neue musikalische und daher geistige Leben hereinzutragen, ist sein Verdienst. Wenn heute in den Dörfern des Landes die Kirchenmusik erneuert wird, wenn neue Musik gemacht wird (man muß hier nicht an die Zwölftöner denken), so sind es großenteils seine Schüler, die dort die Atiregung geben und die Impulse zu praktischer Arbeit, die sie oft persönlich leisten. Wenn die Jugend zum Volkslied des Landes und qn da .schrittweise, zur Kunst^aj-deri unsterblichen WeHcn unserer Meister Kiiigeftifirt wird, sirtd es seine Helfer, die dies tun. Wenn die Gottesdienstgestaltung von der gewohnten Schablone zu neuen musikalischen Formen und Wirkungen kommt, war und ist es ohne sein Beispiel nicht möglich. Und schließlich werden durch eine so stark belebende Kraft auch die fernsten Punkte noch angestrahlt und in das Wirkungsfeld gezogen.

udem ist Oswald Jaeggi durch seine Verbindung nach Nord und Süd zum geistigen Mittler berufen. Als Basler ist er durch Abkunft und Erbe dem deutschen Kulturkreis zugehörig, durch sein Studium in Rom und seinen jahrelangen Aufenthalt in Italien dem mediterranen verbunden. Seine Mitgliedschaft in der Bozener „Künstlermesse“, die keine nationalen Grenzen kennt, beweist dies. Deutlicher beweisen es oft rührende Briefe von Dorforganisten und Sängern, die ihm für seine Anregungen danken. Seine Beziehungen zum Bozner Haydn-Orche-ster, wo Deutsche und Italiener Seite an Seite musizieren, sind die besten. Die „Meraner Passionsspiele“ sollten sich hingegen einmal mit seinem „Spiel vom deutschen Bettelmann“ beschäftigen. Jaeggis Name als Komponist hat heute internationale Bedeutung. Dennoch scheint für Südtirol seine Bedeutung als belebender Arm und vermittelnder Geist nicht geringer.

Mitten in seine Arbeit, aber auch in seine Beliebtheit hinein leuchten die Verse einer fröhlichen Seele:

Komponieren ist zu loben und beinah ein Sakrament, aber schwitzend sind die Proben, meistens auch der Dirigent.

Nicht poetisch ist die Pforte seines Mundes überhaucht, nur die Prosa hat der Worte solche, die er hier gebraucht.

Gewiß eine Art Kritik; aber spricht nicht die Freude des Mitarbeitens überzeugend zwischen den Zeilen?

Man singt wieder in Südtirol, und wenn man auch immer gesungen hat, man singt anders; freudiger, hungriger nach neuen Werken. In den Priester- und Lehrerseminaren, in den Volks- und Oberschulen, in privaten Zirkeln und in Chören in und außerhalb der Kirchen ist man beflissen, den Gesang wieder in Einklang mit dem Leben zu bringen. Man singt zur Feier und man singt bei der Arbeit. Lieder genug gibt es wieder, ein- und mehrstimmige Gesänge, Chorwerke, Oratorien, Messen und Propriumsgesänge die Fülle. Und die das Neue ablehnen und am Alten festhalten — sei's drum! Sie klingen auch mit im vielstimmigen Konzert, das sich zu einem gewaltigen Jubilate Deo steigert in einem katholischen Land.

Singen macht frei. Lebensfreude, Lebenswille, Lebensmut drückt sich im Gesang aus. Man hört es in Südtirol. — Vom Brenner südwärts fährt man in ein singendes Land.

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