6611136-1954_52_08.jpg
Digital In Arbeit

Sinkiang — Weltzentrum im Werden

Werbung
Werbung
Werbung

Immer näher rückt die chinesische Provinz Sinkiang dem Brennpunkt der Weltgeschichte. 1,728.000 Quadratkilometer, ein Sechstel des ganzen chinesischen Festlandes umfassend, zählt die Provinz, nur von 4 Millionen Einwohnern, einem Fünfzigste! der Bevölkerung Chinas, bewohnt, in dreizehn Minderheiten zerfallend, deren großer Anteil neben den Chinesen Mohammedaner (Wee-wu-dsu) sind. Und dieses volkarme Land, größer als ein Zehntel Europas, ist von je reich an fruchtbaren Ländereien, die vielfach ein jahrtausendaltes Bewässerungssystem berieselt, mit großen Weideplätzen und vor allem mit ungeheuren Bodenschätzen, besonders Erzen, Kohle und Erdöl. Kenner des Landes glauben, die einstige Stätte des Paradieses nach Sinkiang verlegen zu können und also Sinkiang für die Wiege der Menschheit zu halten. Ich will dazu keine Stellung nehmen. Sicher ist aber, daß Sinkiang seinen Dornröschenschlaf beendet und seine Weltbedeutung begonnen hat, besonders wegen der ungeheuren Bodenschätze. Es ist daran, eines der Länder- und Industriezentren der Welt zu werden.

Die Bedeutung Sinkiangs wird erst ganz in Erscheinung treten, wenn die Transasia- tische Eisenbahn fertiggestellt ist, deren Bau 1954 auf chinesischer Seite bis zum Erdöl-

feld Yungchang gediehen ist und damit das größte Hindernis des Berglandes von Wu-chau-lin überwunden hat. Wenig bekannt dürfte sein, daß der Sowjetstaat schon seit einigen Jahren eine Zweigstrecke vom Balkaschsee aus — Abzweigungen von der Transsibirischen Eisenbahn — nach Sinkiang hineingebaut hat, zunächst um die Bodenschätze von Sinkiang erfassen zu können. Seit 1954 besteht zwischen China und der Sowjetunion eine vertragliche Vereinbarung, der zufolge die Transasienbahn gemeinsam gebaut wird. Man wird nicht überrascht sein dürfen, wenn in zwei bis drei Jahren — jetzt sind noch fast 2000 km zu bauen — die Transasienbahn fertiggestellt und die Verbindung nach Innerund Ostasien um Tausende von Kilometer verkürzt ist.

Das Rennen um Sinkiang ist schon im Gange. Die Großstaaten der Welt sind durch ihre großzügige Wirtschaftsspionage über die Bedeutung von Sinkiang schon seit einigen Jahren unterrichtet. Rußland ersah frühzeitig die Größe des Preises, um den es hier für den kräftigen Zugriff geht. England kam von Indien her und unterhielt ein Generalsekretariat in Südsinkiang. Der Japaner schaute von Mandschukuo aus über die Mongolei nach Sinkiang, und Amerika glaubte über China und mit China auch Sinkiang zu erreichen. Es kam anders. Der Russe war der nächste und auch der diplomatisch Geschickteste. Während die Sowjetunion die umliegenden Staaten zunächst noch in Ruhe ließ, saßen ihre Vorposten bereits mitten in Sinkiang. Schon in den dreißiger Jahren hatten die Sowjets in Sinkiang das Heft in der Hand. Der chinesische Gouverneur Shenschetsä war von Nanking und der chinesischen Regierung Tschiangkaischeks weit entfernt, und die Sendboten Moskaus waren nahe; er geriet vollständig unter sowjetischen Einfluß. Er hatte seinen russischen Gouwen (Berater) und tat nur, was ihm befohlen wurde. Wir erlebten es dann, daß Shenschetsä hunderttausende den Russen unliebsame Elemente „liquidierte", darunter seinen eigenen Bruder. Schon Ende der dreißiger Jahre unterhielten die Sowjets ein blühendes Transportunternehmen nach Kansu, weswegen dann auch alle Ausländer an der großen Seidenstraße als unliebsame Zeugen verschwinden mußten. Die kirchlichen Instanzen, darunter Msgr. Loy und seine Missionäre, wan- derten damals in die Gefängnisse oder wurden ausgewiesen.

Dann kam der Deutsch-Russische Krieg. Als die Deutschen vor Moskau standen, verschwanden die Sowjetbehörden aus Sinkiang. Shenschetsä, der chinesische Gouverneur, bekam Luft. Er lud die Nationalchinesen nach Sinkiang ein, die auch tatsächlich an Stelle der Russen fast ganz Sinkiang besetzten. Shenschetsä, der Massenmörder von Sinkiang, wurde dafür nach Chung- king beordert und Landwirtschaftsminister im Kabinett von Tschiangkaischek. Seine letzte Tat in Sinkiang soll gewesen sein, daß er vom Flugzeug aus in Tihua seinen eigenen treuen Diener erschoß, um keinen Augenzeugen seiner Untaten überzulassen.

Im Jahre 1949 wurde Sinkiang, bisher nationalchinesisch, von den Rotchinesen „friedlich be freit“. Ein Großteil der Behörden ging zu den neuen Herren über, die anderen wurden bald kurzerhand erledigt. (Ich saß mit vielen Offizieren und Beamten aus Sinkiang im Gefängnis.) Im Jahre 1950 war Maotsetung bei Stalin, und, so leid es ihm tat, er mußte ganz Sinkiang den Russen abtreten und zur Ausbeutung überlassen. Die chinesischen Zeitungen berichteten von einem chinesisch-sowjetischen Abkommen, und man suchte den Nutzen darzutun, der daraus entstanden sei.

In der Folgezeit wurde in chinesischen Zeitungen oft über den Fortschritt Sinkiangs berichtet. Ich folge hier den Berichten aus der führenden chinesischen Zeitung „Jen min je bao“, vom Herbst 1954, um ein Bild vom jetzigen Sinkiang zu geben:

Wie überall in China wurde auch in Sinkiang die Landverteilung durchgeführt. Die Ländereien waren eingeteilt in 9 Chuän-tchü (Regierungsbezirke), 54 Hien (Kreise) und 1520 Hiang (Landgebiete). In diesen Gebieten erhielten 70 Prozent der BevölkerungeigenesLand. Bei dieser Maßnahme wurde die Religionsfreiheit nicht angetastet. In 990 Hiang (Landgebieten) wurden enteignet: 3,168.317 Morgen Land. Es war das Land von Großgrundbesitzern, die zum Teil vom Volksgericht zum Tode verurteilt oder ins Gefängnis geworfen wurden. Nur die ganz Harmlosen erhielten fünf Jahre Beaufsichtigung.

Verstaatlicht (cheng shou) wurden außerdem noch 4,166.048 Morgen Land. Es war das meist Land von Religionsgemeinschaften. Dieses Land wurde an 451.820 Familien verteilt. Pro Kopf erhielt durchschnittlich jeder 2,3 Morgen Land.

Im Jahre 1953 zählte man in Sinkiang 20 Millionen Morgen anbaufähiges Land, seit 1949 um 4,100.000 mehr. Der Getreidebau wurde stark vermehrt. In den vier Jahren waren mehr als 100.000 alte und mehr als 63.000 neue Ackergeräte vom Staat verteilt worden. Landwirtschaftliche Arbeitsgemeinschaften (Hu dschu dsu) zählte man 1954 bereits 58.713. Auch hat man schon 14 Konsumvereine. Unter Mithilfe der Rotarmisten schuf man mehr als 50;000 neue Bewässerungsanlagen. 3 0.0 00 km Kanäle zur Bewässerung der bebauten Flächen wurden neu geschaffen. Sinkiang kann jetzt 5 Millionen Morgen Land bewässern.

Es wurde keine Verteilung der Herden vor genommen. Die Viehzüchter — meist Angehörige der Minderheiten — wurden nicht beunruhigt. Der Hebung der Viehzucht wurden sogar erhebliche staatliche Mittel zugewendet. Besonders geachtet wurde auf Seuchenbekämpfung, Einführung der Stallfütterung, Züchtung besserer Wollträger, Maßnahmen, die man bisher nicht gekannt hatte. Tierärzte wurden ausgebildet, bereits heuer (1954) besitzt Sinkiang 57 tierärztliche Institute, die auf Staatskosten arbeiten. Die Bevölkerung erhielt Jagdflinten und Wolfsfallen, um die Wolfsplage zu verringern. Tatsächlich wurden in einem Jahr (1953) auch 8900 Wölfe gefangen.

Wie fast überall in China war auch in Sinkiang vor 1948 die Erziehung rückständig. Heute hat Sinkiang eine Hochschule der Minderheiten, die den Bildungsbedürfnissen von elf Stämmen dienen und vor allem die künftigen Beamten erziehen soll. Sie hatte im letzten Semester 860 Studenten. In ganz Sinkiang gab es 1954 69 Mittelschulen mit insgesamt 25.369 Schülern, das sind 160 Prozent mehr als im Jahre 1949. Die Zahl der Elementarschulen hat sich verdoppelt.

In ganz Sinkiang bestehen jetzt (1954) 115 Verbandsstellen (Dscheng liau shuo) und 400 amtlich bestellte Wanderärzte für ärztliche Betreuung der Bevölkerung und Behandlung kranker Bauern. (Sie haben nebenbei andere Aufgaben!) Viel geschah zum Schutz von Mutter und Kind. In vier Jahren wurden 3840 Hebammen herangebildet oder neu geschult.

Leider hat Rotchina eine Legion von Strafgefangenen, besonders politischen Häftlingen, den Russen nach Sinkiang geliefert. Im Jahre 1951 sah ich, wie monatelang diese armen Menschen schwer gefesselt auf Lastautos nach Sinkiang geschafft wurden. Sie arbeiten meist in den Industriebetrieben der Russen in Sinkiang. Es fehlt dem neuen chinesischen System, das sehr große Bereiche des Privateigentums unangetastet gelassen hat, bei allen seinen Schattenseiten nicht an Leistungen, mit denen es uralte Versäumnisse sozialer und kultureller Art nachholt. Was aber aus Sinkiang wird, dessen wird die Welt in wenigen Jahren zum Staunen gewahr werden, wenn die Transasienbahn fertiggestellt wird.

Noch eines sei gesagt: Sinkiang wie auch ganz China ist kein russisches Problem. Es scheint nur vorläufig so

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung