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Soziale und soziologische Mission der landwirtschaftlichen Genossenschaften

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Vor siebzig Jahren hat es auf dem Lande keine Genossenschaftsbewegung gegeben. Die wenigen ländlichen Genossenschaften waren damals ohne Bedeutung für das sterbende Bauerntum, das bis in seine letzten Lebensgrundlagen schwer erschüttert war; innerhalb von etwa zwanzig Jahren war der zehnte Teil der bäuerlichen Betriebe zwangsversteigert, ein weiteres Zehntel als lebensunfähig erkannt worden, weitere zwei Zehntel sahen nach Hilfe aus, um einer sonst unausbleiblichen Krise zu entrinnen.

Einsichtige fanden auch eine plausible Erklärung für diesen Notstand: die unaufhaltsame Entwicklung der Erwerbs- und Geldwirtschaft verlangte vom Bauern die Umstellung von der bloßen Selbstversorgerwirtschaft zur Marktwirtschaft. Diese Umstellung stieß auf größte Schwierigkeiten: die Bedingungen zur Erlangung von Betriebskredit waren äußerst hart und drückend; den städtischen Sparkassen galt in der Regel der kleine und mittlere Bauer nicht für kreditfähig. Die Geldmakler aber verlangten für Personalkredit ein bis zwei Prozent pro Woche. Durch den völligen Mangel einer systematisch betriebenen bäuerlichen Wirtschaftsberatung waren die Bauern — seit 1848 — ganz auf sich allein gestellt, hier aber wieder bot die dürftige Schulbildung durch weite Schulwege und frühe Inanspruchnahme der Kinder auf dem elterlichen Hof nur geringe Aussichten auf wirtschaftlichen Fortschritt. Die überseeische Konkurrenz und steigende Einfuhren von Mehl und Mahlprodukten aus dem Osten machten den Getreidebau im eigenen Land zu einem dauernden Verlustgeschäft.

Doch alle diese Erkenntnisse ließen einen Ausweg aus dem unsagbar tragischen Dilemma unter der Vormachtstellung des ökonomischen Liberalismus, der alle Poren der Wirtschaft durchdrang, kaum finden. In den Landesregierungen wurden Enqueten gehalten und immer wieder die Suche nach Rettungsmöglichkeiten aufgenommen. Eine Feststellung mag den Ernst der Lage aufzeigen: Im heutigen Oesterreich waren während einer Generation 68.000 Bauernhöfe unter den Hammer gekommen.

In. den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte eine rasante Gründungswelle für landwirtschaftliche Genossenschaften ein. Ueber Anregung und unter dem Schütz öffentlicher Stellen waren noch vor Ende des Jahrhunderts allein in Niederösterreich 450 bäuerliche Kreditgenossenschaften — heute nach ihrem Gründer Raiffeisenkassen genannt — errichtet worden. Damit aber war die Kreditbeschaffung für Bauern, Handwerker und Gewerbetreibende auf dem Lande “auf eine solide Grundlage gestellt. Der Geldwucher war landauf landab in kurzer Zeit völlig ausgefegt.

Endlich konnte der eiserne Pflug angeschafft werden, in der alten Dreifelderwirtschaft hatte der hölzerne Pflug, der nicht tiefer als zwölf Zentimeter griff, vollauf genügt. Kartoffeln, Rüben, Klee verlangten eine Bodenbearbeitung von doppelter Tiefe. Zugpferde wurden eingestellt, hochwertiges Saatgut kam zur Verwendung, durch Erhöhung des Rinderstandes konnte die Belieferung der Industriezentren mit Milch, Butter, Käse größere Einnahmen bringen. Kunstdünger, Futtermittel, Schädlingsgifte, Baumaterialien, kurz alle notwendigen Betriebserfordernisse konnten mit den billigen Raiffeisendarlehen beschafft werden. So wurden die bäuerlichen Kreditgenossenschaften die erste realfundierte Hilfe für die bedrängte Bauernschaft.

Eine neue bedeutende Wirtschaftshilfe brachten die Milchgenossenschaften, die in größerer Zahl zu Beginn des Jahrhunderts ihren Betrieb aufnahmen. Durch die Tätigkeit der Milch- und Molkereigenossenschaften stiegen bei gleichbleibendem Konsumpreis die Milcherlöse für den Bauern im groben Durchschnitt um 75 Prozent.

Gleichzeitig mit den Milchgenossenschaften haben die Lagerhausgenossenschaften die Tätigkeit aufgenommen. Unter Führung des Bauernfreundes Prälat Bauchinger hatten sich 1898 erstmals in Pöchlarn siebzig Bauern zu dem Entschluß durchgerungen, ihr Brotgetreide der Spekulation zu entziehen und gemeinsam den Absatz ihres Körndls zu organisieren. Der Wurf gelang. Auch beim Bezug von Betriebsmitteln und landwirtschaftlichen Bedarfsartikeln beschritten die Bauern den Weg der Selbsthilfe. Beim waggonweisen Bezug konnten ohne Belastung der Einzelbezieher Futter- sowie Düngemittel auf ihren Gehalt untersucht werden. Die Wahl der Bezugsquelle, günstige Konditionen beim Großbezug, die Möglichkeit einer individuellen Beratung der Mitglieder gaben der Genossenschaft — der nun zur wirtschaftlichen Großkraft zusammengeschlossenen Bauernschaft — einen mächtigen Auftrieb Die Vorteile eines Großbetriebes wurden durch die Gemeinschaft

auch dem wirtschaftlich Schwachen, auch dem Kleinbauern, zugänglich.

Dies gilt auch für die Winzergenossenschaften, für Weide- und Viehzuchtgenossenschaften, für gemeinschaftliche Harzverwertung, für Brennereien und viele andere. Nicht Resolutionen und Subventionen haben den Bauernstand gerettet - es war die organisierte Selbsthilfe, die Selbstoffenbarung der potenzierten Kraft der Gemeinschaft.

Das Großartige und Wertvolle an dieser Kraftenfaltung liegt in der Doppelnatur der Genossenschaft begründet. Neben der materiellen Förderung und Sicherung der bäuerlichen Wirtschaften haben die Genossenschaften eine Welle sozial-ethischer Prinzipien zur Geltung gebracht.

Zwei auseinanderstrebende Kräfte verlieren ihren Stachel: der Individualismus, der in seiner überspitzten Form die Gesellschaft mißachtet; der Kollektivismus, der die Gesellschaft verödet. Dem Herrenbauer und dem Herdenbauer wird der fatale Stachel der Uebertreibung und der Einseitigkeit genommen; in der Genossenschaft werden beide ein zugkräftiges Paar. Der Eigennutz und der Fremdnutz werden fruchtbringend in ihrer Verbindung; in glücklicher Egänzung und Wechselwirkung erfüllen sie Aufgaben von dauerndem Wert.

Eine neue Dorfgemeinschaft entstand. Eine gesunde Demokratie wurde durch die Genossenschaft herbeigeführt: Gleiches Recht! Gleiche Verantwortung! Die Verantwortung wird in letzter Instanz auf die Schultern aller Mitglieder gelegt. Es geht immer um die Sache der Mitgenossenschafter und gleichzeitig um die eigene. Eigeninteresse und Allgemeininteresse kann hier nicht getrennt werden. Den wirtschaftlichen Vorteil, den die Genossenschaft dem einen gewährt, kann sie dem anderen nicht vorenthalten. Auch die Mitgliedaufnahme darf nicht gesperrt werden; jeder neue Aufnahmswerber soll in den gleichen Genuß des einmal errungenen Vorteils kommen.

Eine tiefe Verankerung findet die Ethik in der genossenschaftlichen Wirtschaftsform auch durch ihr institutionell begründetes Bestreben, daß jeder Arbeitende in den Genuß seiner Arbeitsleistung, in den Genuß der Früchte seiner Arbeit gelange. Arbeitsloses Einkommen ist bei der Genossenschaft verpönt. Die schweißtreibende

Arbeit soll ihren gerechten Lohn erhalten.

Durch die Genossenschaften wurden die Vorteile des Großbetriebes auch den wirtschaftlich Schwachen zugänglich und eine natürliche Bedarfsdeckung angestrebt und erreicht. Durch die Genossenschaften werden alle Vorrechte auf

arbeitsloses Einkommen illusorisch und nur gerechte Preise angestrebt.. Durch die Genossenschaft wurden auch geistige Werte untermauert, innere Werte, die durch Bildung und Erziehung zum Gemeinsinn, durch Selbstverwaltung und Eigenverantwortlichkeit und durch selbstgewählte Ordnung* eine sichere Grundlage zur Persönlichkeitsentwicklung bieten.

Diese echten sozialwirtschaftlichen Werte wurden zu Tragpfeilern einer genossenschaftlichen Wirtschaftsordnung, die gerade durch ihre christliche Grundhaltung und Zielsetzung einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Rettung der Wirtschaftsfreiheit geleistet hat.

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