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Tagebuch einer Seele

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(In jugendlicher Begeisterung, die Ausdrucksweise noch stark beeinflußt von „frommer Literatur“, faßt der 16jährige Seminarist mit rücksichtsloser Strenge gegen sich selbst seine „Vorsätze“.)

Durch die Gnade Gottes und meiner heiligsten Mutter Maria bin ich vom unschätzbaren Wert der heiligen Reinheit überzeugt, deshalb habe ich mit Einwilligung meines Seelenführers in diesen heiligen Exerzitien diese Vorsätze gefaßt und mir vorgenommen, sie aufs gewissenhafteste zu befolgen. Ich habe sie — durch die Hände jener drei engelgleichen Jünglinge, meiner besonderen Beschützer: Aloysius von Gonzaga, Stanislaus Kostka und Johannes Berchmans — der Jungfrau der Jungfrauen geweiht, die sie segnen und mir die Gnade gewähren möge, sie in Taten umzusetzen.

1. Da ich zutiefst überzeugt bin, daß die heilige Reinheit eine Gnade Gottes ist, und ich ohne diese Gnade nicht anders kann, als die Reinheit verletzen, werde ich vor allem anderen auch hier die Demut als starke Grundlage nehmen; denn ich mißtraue mir selbst und setze mein ganzes Vertrauen auf Gott und auf die heiligste Jungfrau Maria. Deshalb werde ich dem Herrn jeden Tag um die Tugend der Reinheit bitten und mich Ihm besonders in der heiligen Kommunion empfehlen — Ihm, der in - der Eucharistie mir „frumentum electorum et vinum germinans virgines“ (Zach. 9, 17) bereitet. Die Königin der Jungfrauen werde ich zärtlich lieben; die Prim des kleinen Marianischen Offiziums, das erste Ave des Angelus sowie das erste Gesätz des Rosenkranzes werde ich stets der Erwerbung und der Bewahrung der heiligen Reinheit widmen. Auch den heiligen Josef, den keuschen Bräutigam Mariens. werde ich zu Hilfe holen, indem ich zweimal täglich das Gebet „O virginum custos“ zu ihm spreche. Und ich werde die drei schon genannten jungen Heiligen verehren und mich bemühen, ihre Reinheit in mich überströmen zu lassen.

2. Ich werde danach streben, meine Gefühle streng abzutöten, indem ich sie in den Grenzen des christlichen Anstandes halte. Zu diesem Zweck will ich vor allem die Augen fasten lassen, die der heilige Ambrosius als heimtückische Fangnetze und der heilige Antonius von Padua als Seeräuber bezeichnet, und aus diesem Grunde werde ich, so gut Ich kann, die Menschenmassen bei Festlichkeiten und so weiter meiden;sollte ich aber gezwungen sein, an solchen Festen teilzunehmen, dann werde ich mich so benehmen, daß nichts, was mich auch nur im entferntesten an jenes der heiligen Reinheit entgegengesetzte Laster gemahnt, meine Augen verletze, die ich deshalb bei derartigen Gelegenheiten immer auf den Boden heften werde.

3. Große Zurückhaltung werde ich auch üben, wenn ich durch die Stadt oder andere bevölkerte Orte gehen muß. Niemals will ich Plakate. Vignetten, Geschäfte ansehen, die indezent sein könnten; denn der Ekklesiastiker sagt mit Recht: „Noli circumspicere in vicis civitatis, nec oberraveris in plateis illius“ (IX, 7).

Und auch in den Kirchen werde ich, abgesehen von einer erbaulichen Haltung bei den heiligen Zeremonien, niemals meine Aufmerksamkeit auf die Schönheiten jedweder Art — wie Gemälde, Schnitzereien, Statuen und andere Kunstwerke — richten, in welchen, wenn auch nur wenig, das Gesetz des Anstandes verletzt sein könnte.

4. Bei Frauen jeder Art, auch wenn sie verwandt oder heiligmäßig sind, werde ich besondere Vorsicht walten lassen, jede Vertraulichkeit sowie ihre Gesellschaft und ihr Gespräch fliehen, vor allem, wenn es sich um junge Frauen handelt. Niemals werde ich ihnen ins Gesicht sehen, eingedenk dessen, was der Heilige Geist lehrt: „Virginem ne conspicias, ne forte scandalizeris in decore illius““ (Ekkl. 9, 5). Niemals werde ich ihnen auch nur die geringste Vertraulichkeit zeigen, und wenn ich gezwungen bin, mit ihnen zu sprechen, werde ich trachten, mich eines „sermo durus, brevis, prudens et rectus“ zu bedienen.

5. Niemals werde ich frivole Bücher oder die Schamhaftigkeit verletzende Figuren in meinen Händen oder mir vor Augen halten, und wo immer ich derlei gefährliche Gegenstände finde, werde ich sie zerreißen oder verbrennen, auch wenn sie in Händen meiner Kameraden sind, es sei denn, durch solch ein Vorgehen könnte noch größeres Übel entstehen.

6. Abgesehen davon, daß ich in meinen eigenen Reden ein Beispiel höchster Sittsamkeit geben will, werde ich trachten, in meiner Familie jedes der heiligen Reinheit nicht gemäße Thema von den Gesprächen fernzuhalten, und ich werde niemals erlauben, daß — besonders in meiner Gegenwart — von Liebeleien gesprochen werde, daß — wer immer — ungehörige oder unanständige Worte fallenlasse oder Liebeslieder gesungen werden. Ich will immer liebevoll jede Unanständigkeit bei anderen rügen und, falls die Betreffenden nicht davon' Abstand nehmen, so werde ich mich entfernen, um dadurch mein lebhaftes Mißfallen auszudrücken. Im Seminar werde ich in dieser Beziehung besonders gewissenhaft sein und mein Augenmerk darauf richten, keine Vorlieben und Sympathien unter den Kameraden aufkommen zu lassen und alle jene Handlungen und Worte zu vermeiden, die, mögen sie in der Welt auch gestattet sein, einem Kleriker nicht anstehen.

7. Bei Tisch werde ich mich weder beim Reden noch beim Essen gierig oder unmäßig benehmen. Ich werde mir hier immer eine kleine Abtötung auferlegen und, was den Wein betrifft, sogar mehr als bescheiden sein, denn der Wein ist genauso gefährlich wie die Frauen: „Vinum et mulieres apostatare ficiunt sapientes“ (Ekkl. 19, 2).

8. Auch hinsichtlich meines eigenen Körpers werde ich größte Zurückhaltung üben, bei jeder Gelegenheit, bei jeder Regung meiner Augen, meiner Hände, meines Geistes und so weiter, sei es in der Öffentlichkeit oder privat. Deshalb muß ich die Gelegenheit zu derlei Regungen meiden, und seien sie noch so unschuldig. Am Abend vor dem Einschlafen werde ich den Rosenkranz der seligsten Jungfrau um den Hals nehmen und die Arme über die Brust kreuzen und ich werde trachten, mich noch am Morgen in dieser Stellung zu befinden.

9. Immer und überall werde ich mich daran erinnern, daß ich rein wie ein Engel sein muß, und mich so betragen, daß mein ganzes Wesen, meine Augen, meine Worte, mein Verhalten jene heilige Schamhaftigkeit ausstrahlen, die den Heiligen Aloysius, Stanislaus und Johannes eigen war, die so sehr gefällt, die uns Ehrerbietung einträgt und Ausdruck eines keuschen Herzens, einer keuschen Seele ist, wie Gott sie so sehr liebt.

10. Ich werde nie vergessen, daß ich niemals allein bin, auch wenn ich es bin: daß mich Gott und mein Schutzengel sehen, daß ich immer Kleriker bin. Wenn mir die Gelegenheit kommt, die heilige Reinheit zu verletzen, so werde ich mich mehr denn je augenblicklich an Gott, Maria und meinen Schutzengel wenden und das mir vertraute Stoßgebet sprechen: „Unbefleckte Jungfrau, hilf mir.“ Und dann werde ich an die Geißelung Jesu Christi denken und an die novissima, zu deren Gedächtnis der Heilige Geist sagt: „Memorare novissima tua et in aeternum non peccabis“ (Ekkl. 7, 40).

20. Februar 1903

(Jugendlicher Überschwang kennzeichnet die Worte des 22jährigen Theologiestudenten in Rom anläßlich des 25. Regierungsjubiläums Papst Leos XIII.; die letzten Zeilen aber verweisen schon auf das Herzensanliegen des künftigen weltversöhnenden Papstes.)

Heute dies magna. Unser Heiliger Vater hat das 25. Jahr seines Ponti-fikats vollendet. Die katholische Welt hat sich zu seinen Füßen eingefunden, um ihm ihre Glückwünsche, ihre Ergebenheit darzubringen anläßlich des großen Ereignisses, das sich in 19 Jahrhunderten nur zweimal zugetragen hat (Anm. Pius IX. 1846—1878). Es ist eine Tatsache, die zum allergrößten Staunen Anlaß gibt und in einer so skeptischen Welt den Finger Gottes in Seiner Kirche beinahe mit Händen greifen läßt: ein Papst, der, als er die Tiara annahm, dem Tode nahe galt, widerstand der verzehrenden Zeit fünf Lustren lang, erfüllte die Erde mit seinem glorreichen Namen, und während seine Verfolger dahingingen, während deren hochmütige Häupter vor dem Felsen, auf dem sein apostolischer Stuhl sich erhebt, zerschmetterten und einer nach dem anderen in die Grube sank, überlebt er alle in wunderbarer Jugend trotz seiner 93 Jahre und verkündet den staunenden Völkern die Großtaten Gottes. Im frenetischen Beifall, mit dem heute die lombardischen Pilger, würdig ihrer Tradition, den verehrungswürdigen Greis voll Dankbarkeit grüßten, im Beifall, der zu den Klängen des Ambrosianischen Lobgesangs majestätisch unter der Kuppel Michelangelos aufstieg, widerhallte wahrhaftig der Begeisterungssturm der Völker, der glühende Pulsschlag der Menschheit, die unsagbar glücklich war in der Freude dieses seit langem erwarteten Tages. Auch ich vereine meine Stimme der der Welt, auch ich habe für den großen Papst gebetet, heute, inmitten der Menge, am Grab des heiligen Petrus. O Leo, Leo, mögen meine Gebete zum Himmel steigen, fruchtbar an Segen, an Wohlergehen, an Sieg für dich und dein Werk; mögen dich, wenn auch verschmolzen mit dem allgemeinen Beifall, die bescheidenen, aber glühenden Wünsche eines jugendlichen Herzens erreichen — eines Herzens, das du nicht kennst, das dich aber verehrt, das dich mit der Zuneigung eines Sohnes liebt und dir unbezwingbare Anhänglichkeit, unerschütterliche Ergebenheit verspricht. Der Herr möge dich erhalten, o Leo, zum besten der Kirche und des Vaterlandes, zur Glorie und zu den Siegen Christi in seinem Volk. Gott möge nicht aufhören, mit deiner ätherischen Gestalt jenen mächtigen Hauch göttlichen Lebens zu verschmelzen, durch den unseren nach Glück dürstenden Seelen klarere Horizonte der Gerechtigkeit und der evangelischen Liebe erschlossen werden. Er mache dich glücklich auf Erden in der Liebe deiner Söhne, in der Verehrung für den apostolischen Stuhl, in den üppigen Früchten des Wirkens der Kirche. Er errette dich vor deinen und Seinen Feinden und lasse dich wenigstens von ferne das leuchtende Morgenrot des großen Friedenstages schauen, wenn vor deinem Thron, den ein Vater und nicht so sehr ein Herrscher einnimmt. Sieger und Besiegte in jenem irdischen Kampf um den Triumph der Wahrheit und der Liebe brüderlich einander umarmen mögen, während du deine zitternde Hand erheben wirst, sie zu liebkosen und sie zu segnen. „Tu es Petrus: tu es Christus.“

19. September bis 22. Oktober 1906.

(Pilgerfahrt ins Heilige Land.)

Ich scheide von Kana, doch nicht ohne einen Herzenswunsch hier zu lassen. In Kana hat Jesus Sein erstes Wunder gewirkt, den ersten Beweis Seiner Göttlichkeit erbracht. Aber von den etwa 1300 Bewohnern Kanas sind die meisten Mohammedaner, die anderen schismatische Griechen und nur sehr, sehr wenige, nämlich ungefähr 50, sind katholisch, und — wie mehr oder weniger alle Katholiken in Palästina — sind auch diese keine guten Katholiken und gar nicht eifrig. Möge der Herr bewirken, daß der neue Altar, der heute feierlich geweiht und dem „Mysterium initii signorum Jesu“ bestimmt wurde, alle diese verstreuten Seelen um sich rufe und sie in der Einheit des katholischen Glaubens und in eifriger stetiger Ausübung christlichen Lebens um sich versammle. (30. September.)

(Jerusalem. Pontifikälamt, gehalten von Sr. Exzellenz Bischof Radini Tedeschi.) Und nachdem Seine Exzellenz von der Bestürzung der frommen Frauen vor dem wegge-wälzten Stein gesprochen hatte, die jenem Gefühl des Erstaunens und des Schmerzes vergleichbar ist, das die aus fernen Ländern hierherkommenden Christen bei der Unordnung, der Konfusion der Menschen und Dinge, der Sprachen, der Riten und der Konfessionen rund um das Heilige Grab empfinden, ließ er diesen Worten einen mächtigen Anruf an den triumphierenden Christus folgen, Er möge wiederkehren im Blitzstrahl Seiner Glorie über dem weggewälzten Stein, nicht um zu zerstreuen, sondern um zu bekehren, auf daß vor allem hier, aber auch im ganzen Orient, auf den Steppen Rußlands und auch in Afrika das Echo des „unum ovile et unus pastor“ widerhalle ... Gerührt hingen die Augen aller an den Lippen des Bischofs, vereinten sich alle seinem Herzen in dem einen Gefühl und in dem gemeinsamen Wunsch, daß alle getrennten Brüder wahrhaft in den Schafstall zurückkehren mögen.

Und warum sollte sich, bei einmütiger Zusammenarbeit der ganzen Christenheit, der Wunsch von heute nicht in die Realität von morgen verwandeln? An uns ist es jedenfalls, den so wunderbar ausgedrückten Wunsch aufzunehmen und ihn zu pflegen; alles übrige liegt bei Gott — in der Gewißheit, daß das Wort Christi Wahrheit werden wird, vor allem hier in Jerusalem: „Unum ovile et unus pastor!“ (4. Oktober.)

(Wird fortgesetzt)

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