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Thomas Morus

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Man könnte nicht sagen, daß im letzten Jahrhundert des Mittelalters Englands Lage vielversprechend war. Noch war es England im engsten Sinne des Wortes, der unruhige Nachbar Schottland hatte noch für Generationen ein selbständiges staatliches Leben vor sich, und Irlands Abhängigkeit war kaum mehr als nominell. Die alte Machtposition der englischen Könige auf französischem Boden war seit der Zeit der Jeanne d'Arc zu Ende, jenseits des Kanals lag nun ein mächtig aufstrebender französischer Nationalstaat. Im Inneren Englands aber tobte der Kampf der Rosen, dessen Schrecken Shakespeare allen kommenden Zeiten überliefert hat.

Englands geographische Position im Mittelalter war nicht günstig, der große Verkehr ging durch den Süden und die Mitte Europas, die britischen Inseln lagen gbidisam am westlichen Ende der zivilisierten Welt — „randständig“ nennen das die modernen Geographen.

Da schuf die Entdeckung der Neuen Welt einen fundamentalen Wandel. Nicht die kolonialen Mächte der frühen Neuzeit wurden ihre dauernden Gewinner, sondern England, das nun plötzlich der vorgeschobenste Posten Europas für alle Unternehmungen ins Weltmeer war und langsam zwar, aber sicher reifte die Gunst der neuen Lage heran.

Auch im Inneren brachte das sterbende Mittelalter die große Wende. Die früheste der neuzeitlichen Dynastien Englands, seine größte zugleich, kommt zur Herrschaft, die walisischen Tudors, und der erste von ihnen, der siebente Heinrich, bringt dem Land das nötigste und köstlichste Gut: den inneren Frieden.

Wenige Jahre vor dem Beginn der Herrschaft der neuen Dynastie ist in London 1478 als Sohn eines Richters Thomas Morus geboren. Zunächst neigte er zum geistlichen Stand, es soll sein Beichtvater gewesen sein, der ihm sagte, er sei zum politischen Leben bestimmt. So ging er den juristischen Weg seines Vaters.

Die insulare Lage hat England auf die Dauer nie gehindert, wichtiges Glied der geistigen Gemeinschaft Europas zu sein. Schon im späten Mittelalter stellte es diesem Roger Bacon, den Doctor mirabilis, und Duns Scotus, den Doctor subtilis, und etwas später, neue Entwicklungen vorwegnehmend, John Wiclif, und schon strahlen seine beiden ältesten Hochschulen ihren Ruhm aus, Oxford und Cambridge. Den neuen Strömungen, die am Festland in Wissenschaft und Kunst gewaltig emporstiegen, öffnete nun England bereitwillig die Pforten, Humanismus und Renaissance fanden raschen Eingang. In Oxford erwuchs eine eigene Humanistengruppe, die „Oxford reformers“. Der große Mittler zwischen Nord und Süd, zwischen London und Florenz ist John Colet, enge Beziehungen bestanden zwischen ihm und Morus. Die beiden Fürsten der neuen Kultur, die vom Festland nach England kamen und es unendlich bereicherten, Erasmus von Rotterdam und der jüngere Holbein, sind Gäste Morus' gewesen, und wie der letztere der Nachwelt sein Bildnis überlieferte, hat der erstere in seinem Haus das „Lob der Torheit“ geschrieben.

Drei Sparten könnte man im Dasein Morus' hervorheben: Religion, Politik, Wissenschaft. Die erstere ist ihm Grundlage seines Lebens. In eigentümlicher Einheit hat er den heiteren Genuß, dem er im diesseitsfreudigen Zug seines Zeitalters huldigte, mit einer gewissen Askese zu paaren gewußt. Seine ersten Vorlesungen — in der Londoner Laurenzkirche — galten der „Civitas Dei“ des hl. Augustinus. Diese waren — wie bezeichnend für den Politiker! — jenen Büchern zugekehrt, in denen die Rede ist vom Verhältnis des staatlichen Lebens der Römer zu ihrem religiösen. Und doch ist in der Freiheit des humanistischen Zeitalters dieser di ristliche Schriftsteller auch Übersetzer des Spötters Lukian!

Der Geschichte seines Landes hat Morus seine Feder gewidmet, politisch ausgeriditet,doch wieder der jüngsten Vergangenheit zugekehrt, handelt er von dem Vorgänger Heinrichs VII., Richard III. Er sucht den Mittler zu machen zwischen seiner Heimat und dem italienischen Humanismus, er übersetzt die Biographie des Florentiners Pico da Mirandola, der zwischen Plato und Aristoteles zu vermitteln strebte. Das Schwergewicht seines Schrifttums ist bei der lateinischen Sprache. Seine englischen Schriften sind noch in seinem Jahrhundert in seiner Heimat gesammelt herausgegeben worden, seine lateinischen sind erst in der Mitte des nächsten Jahrhunderts in Frankfurt am Main in Gänze erschienen.

Ganz früh, sechsundzwanzigjährig, ist Morus ins englische Parlament getreten. Nach langen inneren Wirren pflegt die ordnende Staatsgewalt zumeist eine feste Hand zu zeigen, und so trug auch das Tudor-Regime starke autoritäre Züge, die durch die Einwirkung des auf dem Festland aufkommenden Absolutismus noch verstärkt wurden. Hier sieht der Historiker die ganze Überlegenheit der Tudors gegenüber den folgenden Stuarts: sie verstanden den Genius Englands und kannten die Grenzen ihrer Macht, sie schonten zum mindesten die Form des Parlaments, keiner von ihnen wurde vom Thron gestoßen, sie alle sind mit dem Kopf am Leib zu Grabe getragen worden.

Freilich war das Parlament gefügig genug, auch gegen königliche Steuerforderungen. Es war der junge Abgeordnete Morus, der sich kühn gegen ein allzuviel Heinrichs VII. wendete, er hat sich damit für eine Zeit die Möglichkeit politischer Geltung verwirkt, schon verstand er im Vorspiel tragischen Ausgangs für seine Überzeugung zu leiden.

Er nahm dann Dienste der Stadt London, und als vertraut mit den ökonomischen Interessen der Vaterstadt, wurde er in das reiche, blühende Land jenseits des Kanals gesendet, er ging zu wirtschaftlichen Verhandlungen nach Flandern. Dort sah er ein reiches städtisches Leben und erhielt schon etwas Berührung mit großen Kreisen europäischer Politik. Schon war er umworben von Heinrich VIII. und er ist schließlich in dessen Dienste getreten. Ein steiler Aufstieg begann, er wurde Speaker, das heißt Präsident des englischen Parlaments, er wurde in den Adelsstand erhoben und er erlangte schließlich die Würde des Lordkanzlers als erster Laie in diesem Rang. Hier aber lag die Wende seines Schicksals. Er war wie andere große Humanisten ein scharfer Kritiker der religiösen Zustände seiner Zeit, wünschte aber wie seine Gesinnungsgenossen den Weg der Reform innerhalb der Kirche zu gehen und so wendete er sich publizistisch gegen Luther. Als Heinrich VIII. aus persönlichsten Beweggründen heraus die Religion seines Landes ändern wollte, da ist Morus unbeugsam geblieben. Freilich“, es war nicht die Idee der Gewissensfreiheit späterer Jahrhunderte, die ihn trieb, er war in seiner staatsmännischen Praxis keineswegs tolerant. Wie die Mehrzahl der Menschen seiner Zeit in allen Lagern, hat er für die Freiheit seiner Richtung gekämpft, für diese aber hat er sein Leben gegeben: an einem Julimorgen 1546 fiel im Tower sein Haupt Ranke hat gesagt, er starb „als Märtyrer der Ideen, durch die England an die kirchliche Gemeinschaft des Abendlandes nnd die Autorität des Papsttums geknüpft gewesen war“.

All das Erzählte sichert Morus einen Rang in der europäischen Geschichte. Aber sein dauernder Ruhm liegt auf einer kleinen Schrift.

Einer der feinsten Schilderer der englischen Geschichte in unserer Sprache, der kürzlich verstorbene Hermann Oncken, hat einmal gesdirieben: „Seitdem es unter Menschen ein Denken über den Staat gibt, hat man das Bild des richtigen, idealen Staates entworfen.“ In die Reihe der Denker über Staat und Gesellschaft ist nun Morus 1516 mit seiner Schrift „Utopia“ getreten, deren Druck in Löwen Erasmus überwachte. Auf einer Insel wird nach rationalen Prinzipien ein Idealstaat errichtet, Arbeitsmittel und Arbeitsertrag sind gemeinsam, Goldbesitz verpönt. Sechsstündige Arbeitszeit genügt, um alle vor Mängeln zu schützen. Zwei Jahre ländlicher Arbeit wechseln für jeden Utopier. Glänzend eingerichtete Spitäler sorgen für die Gesundheit, der Unheilbare wählt auf den Rat von Priester und Am den freiwilligen Tod. Die reichliche Freizeit wird in erhabener musisdier Freude zugebracht. Freilich ruht der Wohlstand zum Teil auf Sklavenarbeit und für die Sicherheit des Landes sorgen zunächst Söldner und Verbündete und erst zuletzt die eigenen Bürger. Bei Übervölkerung wird gewaltsame Unterwerfung von Kolonien als berechtigt angesehen.

Morus war hier kein völlig neuer Schöpfer. Piatos großes Denken über den idealen Staat leuchtete ihm voran und die spätmittelalterliche politische Literatur Englands bot manche Anregung. Auch die Zeitgenossen haben viel über Staat und Gesellschaft nachgedacht. Gleichzeitig schuf Macchiavelli seinen „Principe“, gleichzeitig waren Jean Bodin und Claude de Seyssel in Frankreich tätig, von anderen Voraussetzungen her erschien auf deutschem Boden Luthers Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“. Eine reiche Nadifolge der „Utopia“ erstand, vom „Sonnenstaat“ des Dominikaners Campanella an bis zum „Rückblick aus dem Jahr 2000“, den 1887 der Amerikaner Bellamy ersdieinen ließ, und bis in unsere Tage. Der ganzen literarischen Gattung aber hat Morus den Namen Utopia aufgeprägt.

Eine unmittelbare Auswirkung der „Utopia“ brachte der deutsche Bauernkrieg 1525 und das Interesse für sie ist im modernen sozialistischen Lager durch Kautzky und Vorländer dokumentiert worden. Die deutsche Wissenschaft der letzten Jahrzehnte (Gerhard Ritter, Oncken, Brie) ist mit großem Erfolg ihrer Entstehung und ihrer Deutung nachgegangen. Sie hat besonders das spezifisch Englische im Inselreich Utopia aufgezeigt. Der Vorwurf des Engländers Allen, daß Morus in seiner Heimat zu viel vernachlässigt worden sei, trifft nicht mehr voll zu. Einer der bedeutendsten englischen Historiker der Gegenwart, G. M. Trevelyan, eine Zeitlang auch Unterrichtsminister in einem Kabinett der Labour Party, spricht von dem Jahrhundert, das mit Morus beginnt und mit Shakespeare endet.

Verschieden ist die Frage beantwortet worden, ob Morus mit der,.Utopia“ein volles Programm gemeint hat oder ob es sich ihm um ein geistvolles Spiel der Phantasie gehandelt hat. Für letzteres waren ihm die Probleme zu ernst, und gegen.ersteres spricht neben anderem schon die Praxis seines poli-tisdien Handelns. Aber indem die Schrift aus tiefem menschlichen Empfinden und aus sdiarfer, sehr berechtigter Kritik an den ■wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen des damaligen Englands erwuchs, Bt sie in ihren realen wie in ihren phantastischen Teilen ein lauter sozialer “Weckruf und kommt zu neuer geschichtlicher Bedeutung in einer Zeit, wo in England ein gewaltiger sozialer Umbau in einem ihr nicht fernen Sinn versucht wird.

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