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Tote Stadt am Taygetos

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Wanderer, kommst Du nach Sparta, so sage ihnen, daß Du uns hier liegen sähest, wie das Gesetz es befahl.

Herodot, S. Buch, Vers 223 bis 228.

1.

Beschwerliche, unendlich weite Wege führen von den Thermopylen über Berge, hohe Pässe, unwirtliche Täler und steinige Ebenen nach dem fernen Lakonien. Wie viele antike Pilger und Reisende mochten sie wohl durchwandert haben? Heute wie damals ist die Ebene des Eurotas, zwischen den mächtigen Gebirgen des Taygetos und des Parnon von der übrigen Welt abgeschnitten, und auf sich gestellt, fristen Kultur und Leben seiner Bewohner ein einsames, selbstgenügsames Dasein. Das alte Sparta brauchte keine Burgen und Befestigungen, die Tapferkeit seiner Männer und die erschreckende Unwirtlichkeit der hohen Berge ringsum waren ihm Schutz genug.

Obwohl Eisenbahnen und Flugzeuge heute bis zum letzten und stillsten Winkel der Erde vorgedrungen sind — nach Sparta führt immer noch eine einzige, kühn angelegte Straße, die seit Jahrtausenden dem von der Natur vorgezeichneten Weg folgt. Es sind nicht so sehr die spärlichen Ruinen des antiken Sparta, die als Ziel dieser Reise locken, als vielmehr die gespenstische Ruinenstadt Mistra an dem Ausläufer des Taygetos, deren jähes Entstehen und Aufblühen dem mittelalterlichen Sparta, damals Lakedaimonia genannt, das letzte Leben entzog.

Als sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts die Ritterschaft des christlichen Abendlandes noch einmal zum Kreuzzug gegen den Islam sammelte, wurde das auf ihrem Weg nach dem Gelobten Land durchquerte Reich der Romäer ihre erste Beute. Lateinisches und griechisches Christentum standen sich, nicht achtend der aus dem Osten herannahenden Katastrophe, feindlich gegenüber. Niemals, so scheint es, wird der byzantinische und griechische Mensch die von eigennützigen Motiven getragenen Eroberungspläne der adeligen Franken — das waren für ihn alle Abendländer, Franzosen, Burgunder, Italiener, Deutsche und Spanier — vergessen können. Über 100 Jahre währte die Herrschaft freibeuterischer fränkischer Feudalherren auf dem Peloponnes und im nördlichen Griechenland. Obwohl die byzantinischen Kaisergeschlechter der Paläologen und der Kantakuzenen mehrmals ihre Macht zurückerringen konnten, hatte der Zweifrontenkrieg allmählich ihre Widerstandskraft zum Erlahmen gebracht. Mit dem Fall von Konstantinopel (1453) begann für Griechenland eine bittere, fast ein halbes Jahrtausend währende türkische Fremdherrschaft. Doch griechischer Geist und griechisches Denken waren nicht tot. Abendländische Universitäten pflegten und lehrten ihn, und an den Schriften eines Plato und eines Aristoteles erbaute sich die geistige Elite Europas. Hölderlin und Byron, an griechischem

Denken und griechischem Geist gewachsen, haben diesen ihren Dank gezollt, der eine als Dichter, der andere als Freiwilliger in den griechischen Befreiungskriegen, in denen er am 19. April 1824 bei Missolunghi gefallen ist.

2.

Der Sohn eines fränkischen Freibeuters, Wilhelm II. von Villehardouin, konnte bereits im Jahre 1245 mit Zustimmung des byzantinischen Kaisers die Nachfolge seines Bruders als Fürst von Achaja antreten. Der von seinen Vorgängern im Herzen von Morea — wie der Peloponnes seit dem 12. Jahrhundert genannt wurde — errichtete fränkische Feudalstaat war in ständiger Fehde mit aufständischen griechischen Patrioten, mit Anhängern der byzanti-’ nischen Dynastien oder mit slawischen Stämmen, die sich in tiefen Gebirgsschluchten verschanzt hatten. Um eine solche Gruppe von feindlichen Slawen,

die Skortiner, zu bekämpfen, wurde auf dem 600 Meter hohen Gipfelplateau eines Ausläufers des Taygetos 1248 von Wilhelm von Villehardouin eine Burg nach durchaus abendländischem Vorbild angelegt. Der Berg hieß in der Vulgärsprache Mysisthra, die Burgunder verballhornten diesen Namen zu Mistra, auf provenzalisch „Die Beherrscherin”. Bereits vierzehn Jahre später mußte die Burg nach einer verlorenen Schlacht dem byzantinischen Kaiser Michael VIII. Paläologos übergeben werden. Von hier aus betrieben die Byzantiner zähe die vollständige Vertreibung der Franken aus der Morea. An den Abhängen unterhalb der Burg entstand innerhalb weniger Jahrzehnte eine sich über 400 Meter Steilhang erstreckende Stadt, die unter Kaiser Manuel Kantakuzenos 1349 Sitz der Despoten von Mistra wurde. Feste Mauern, dreifach — um Burg, Oberstadt und Unterstadt — gezogen, mit massiven Türmen und mächtigen Toren boten in den unruhigen Zeitläuften den Bewohnern, die sich — beinahe über Nacht aus dem in der Ebene ungeschützt gelegenen Lakedaimonia flüchtend — hier ansiedelten, Schutz.

Wechsel voll war so die abrupt beginnende Geschichte dieses Ortes, der im 13. Jahrhundert als fränkische Bürg seinen Anfang nahm, sich in den folgenden zwei Jahrhunderten zu einer blühenden byzantinischen Stadt entwickelte, 1460 von den Türken unter Mahomet II. erobert wurde und im ausgehenden 17. Jahrhundert nach einem erfolgreichen Aufstand unter der Führung Francesco Morosinis 22 Jahre in venezianischem Besitz verblieb. Während der Befreiungskriege (1821 bis 1830) kam es zu einem grausamen Massaker der türkischen Bewohner Mistras durch die Einheimischen, und Ibrahim Pascha ließ als Gegenmaßnahme die Stadt anzünden. Von den Bewohnern verlassen, ist Mistra seither dem Verfall preisgegeben, und außer den acht Nonnen des

Panatanassaklosters gibt es niemanden, der neues Leben in die Straßen und steilen Pfade, Häuser-, Kirchen- und Palastruinen bringt.

3.

Gespenstisch tauchen die Ruinen aus dem tiefhängenden Nebel des Taygetos auf, wenn sich der Autobus durch, die fruchtbare Ebene des Eurotas mit ihren uralten Ölbaumwäldern und Orangenhainen dem Fuß des Gebirges nähert. Kein Einheimischer setzt seine Fahrt im Autobus, nachdem das moderne Dorf Mistra am Rande der Ebene erreicht ist, fort; nur den Fremden zuliebe wird die Route der Verkehrslinie bis zur Eingangsrampe der Ruinenstadt geführt.

Die hohen Mauern der Unterstadt — dem Volksviertel von Mistra — mit ihren weitläufigen Klosteranlagen und winzigen Privatkapellen neben den Ruinen bescheidener Häuser nehmen mich auf. Weder Tiere noch Menschen begegnen mir, als ich auf der kugelsteingepflasterten Hauptstraße, die nicht mehr als zwei Meter breit ist, Stufe für Stufe hinaufsteige. Hohe Eukalyptussträucher, wilde Orangenbäume mit gaübitteren Früchten säumen den Maultierweg und füllen die Gärten ehemaliger Wohnhäuser. Efeu rankt sich an zerfallenem Mauerwerk hoch, das sich plötzlich zu einem geräumigen, gotisch anmutenden Arkadenraum weitert, dessen luftige Bogengänge, über einem jähen Steilhang aufgebaut, einen wundervollen Blick auf die zu Füßen der Bergstadt sich breitende Ebene von Sparta gewährt.

Eine kleine Pforte in der sanft gelbrötlich schimmernden Mauer lockt mich in einen kleinen Vorhof, von dem ein weiteres Tor in den Arkadenhof des erzbischöflichen Palastes und der Metropolitankirche von Mistra führt. Schon in der Spätantike war hier eine Klostersiedlung, und überall begegnen mir antike Überreste, Spolien im byzantinischen Mauerwerk, Säulen und Kapitelle im Inneren der Kuppel- baSiliken, und Blumenfriese unter den Emporen.

Eine griechische Nonne, die mein Kommen von der Höhe ihres Klosters beobachtete, eilte auf leichten Füßen den schmalen, jäh in die Tiefe führenden Pfad von der Bergesmitte herunter, um mir die Kirchen aufzuschließen. Die Wände der dreischiffi’’en Basilika sind über und über mit Fresken bedeckt, deren Thema, Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, in endlosen Variationen auch in den anderen Kirchen und Kapellen der Stadt anzutreffen sind. Die Nonnen des Panatanassaklosters haben seit Jahrzehnten mit liebevoller Sorgfalt die kostbaren Fresken von Übertünchungen befreit und restauriert. Aus dieser stillen Arbeit der Kirchenbetreuung und aus der Unterweisung junger Mädchen der umliegenden Dörfer im Sticken und in der Näharbeit besteht ihr Tagewerk.

Rechts der Ikonostasis, der Bilderwand, die in östlichen1 Kirchen das Allerheiligste vom Raum der Gläubigen trennt, steht der schön geschnitzte Bischofssitz; die Bilder wand selbst trägt in traditioneller Anordnung die Bilder Christi und Johannes des Täufers, der Erzengel Michael und Gabriel, der Muttergottes und des Kirchenpatrons, hier des heiligen Demetrius. Ein Fresko mit Christus als Pantokrator füllt die Wölbung der Kuppel, die das Himmelsgewölbe symbolisiert, wie überhaupt die Malerei byzantinischer Kirchen Teil der Liturgie ist. In der Mitte des Hauptschiffes ist im Boden ein Reliefstein mit dem dreifach gekrönten Doppeladler, dem byzantinischen Kaiserwappen, eingelassen. Der Legende nach soll an dieser Stelle der letzte byzantinische Kaiser, Konstantin IX. Paläologos, am 6. Jänner 1449 gekrönt worden sein. Von Mistra zog er zum letztenmal zur Verteidigung Konstantinopels aus, und während die Türken die Hauptstadt erstürmten, fiel er in der Schlacht.

4.

In einem Flügel des bischöflichen Palastes wurde ein kleines Museum eingerichtet, das die historischen und künstlerischen Zeugnisse Mistras birgt und vor dem endgültigen Verfall schützt. Ein Architrav mit dem Monogramm der Isabella von Lusignan, der Gemahlin Kaiser Mathäos Kanta- kuzenos, die als „Despina des Despo- tats von Morea” an seiner Seite regierte, liegt hier neben Grabsteinen byzantinischer Würdenträger, jüdischer Händler aus der Judenstadt vor den Toren, und endlich auch der türkischen Bewohner: sie alle erinnern an die wechselvollen Geschicke des Ortes. Ein Flachrelief mit einem thronenden Christus, aus dem Peribleptos- kloster am südöstlichen Ende der Unterstadt, gibt Zeugnis für eine einst hier blühende Bildhauerschule.

Gemeinsam setzen wir den Weg fort, vorbei an der kleinen Grabkirche der Evangelistria, in deren Narthex und Seitenkapellen die leeren Grabstellen byzantinischer Kirchenwohltäter zu sehen sind, zum großen Komplex des Brontochionklosters mit den Kirchen Afendiko („Die Herrschaftliche”) und des heiligen Theodoros. Das Brontochiorkloster war zur Zeit der Hochblüte Mistras nicht nur das reichste und vornehmste der Stadt, in dessen Kirchen die Despoten ihre letzte Ruhestätte fanden, sondern seine Mauern beherbergten seltsamerweise auch die neuplatonische Philosophenschule des Plethon.

Georgios Gemistos Plethon, der Sohn eines geistlichen Würdenträgers am Hofe von Konstantinopel, früh wegen seines offen zur Schau getragenen Heidentums aus der Hauptstadt verbannt, fand hier in Mistra, unter dem Schutze seines einstigen Schülers, des späteren Kaisers Theodoros II. Paläologos, in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine ungestörte Wirkungsstätte. Begeistert sammelten sich die Söhne griechischer Aristokraten um ihn, dessen Schriften, der Ideologie Platos folgend, zum letztenmal ein System hellenischer Philosophie und Theologie verkündeten. Seine Anwesenheit als Vertreter der byzantinischen Wissenschaft auf dem Konzil von Ferrara-Florenz (143 8) war vielleicht ausschlaggebend für das Scheitern der damaligen Unionsbestre- bungen zwischen der römisch-katholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche, denn Plethons Bestreben galt allein einer Wiederbelebung althellenischen Geisteslebens.

5.

Auf schmalen Pfaden geht es bergauf, auf halber Höhe des Berges nimmt uns das Kloster der Panata- nassa, der heiligen Gottesgebärerin, auf; an der mit einer Mauer verkleideten Felswand zieht sich ein langgestreckter Hof, an dessen Talseite der niedere Wohn- und Schlaftrakt der Nonnen liegt. Dieser einfache Bau ruht auf einem massiven Steinsockel, der auf die Felswand aufgesetzt wurde, um Raum zu gewinnen. Rechts über dem Tor des Klosters, auf der nächsthöheren Terrasse, steht die bizarre Kirche mit einer Loggia an der Talseite. Diese Loggia und der anschließende Glockenturm betonen das Filigrane des Baukomplexes; in einem mehr als 45gradigem Winkel zieht sich der Klostergarten den Hang bergauf und innerhalb der Klostermauern ragen dunkelgrüne Pinien und Zypressen zum Himmel.

Durch das Monemvasische Tor betrete ich die Oberstadt, mit dem ehemaligen, längst nicht mehr bewohnten Palast der Despoten; die Mauern beider Stockwerke stehen auch heute noch. Der große Platz vor dem Palast, in türkischer Zeit als großer Basar eingerichtet, ist das einzige ebene Terrain der ganzen Bergstadt. Die vielen Einzelgebäude, der Thron- und Empfangssaal des Palastes, auf mächtigen Gewölben ruhend, mit den anschließenden Wohn- und Schlafgemächern, der Küche und den Vorratshäusern, bilden - ohne die erst in der Türken-

zeit in einer Ecke des Platzes errichtete Moschee — ein einzigartiges Beispiel byzantinischer Profanarchitektur. An den Resten eines türkischen Bades vorbei, ersteige ich die nächste Terrasse, wo sich die Palastkirche der Hagia Sophia — der Weisheit Gottes — über dem ehemaligen Regierungsviertel erhebt. Überaus zierlich, wie bei allen byzantinischen Kirchen Griechenlands, sind die Maße des Gotteshauses, in dem Kleopa Malatesta, die Gattin Theodoros II., und Magdalena Tocco, Gemahlin Konstantin Dragazes Pa- läologos, bestattet wurden.

Der hallende Ton meiner Schritte läßt mich plötzlich aufhorchen, und durch ein kleines Loch im Boden ent decke ich, daß ich mich auf dem Dach einer riesigen Zisterne befinde, in der wohl das Regenwasser für den Palast gesammelt worden ist.

6.

Weiter führt mich mein Weg, an kleinen Palastruinen vorbei mit über Konsolengesimsen freischwebenden Balkons, den Maultierpfad, der sich öfter durch Arkaden schlängelt, deren Wölbungen die Mauern der Häuser tragen, bergan. Der Maultierpfad mündet in einen schmalen Steig, der an schwindelnden Abgründen vorbei zur Burg strebt. Ein scharfer Wind, mit eisigen Regentropfen gemischt, peitscht mir ins Gesicht. Immer hoheitsvoller wird das Bild der Ruinenstadt unter mir, immer näher scheinen die gewaltigen, schneebedeckten Gipfel des Taygetosmassivs und die Konturen der Hügel von Sparta zu verschwinden in dunstiger Ferne. Als ich mich auf dem nun breiter werdenden Rampenweg dem Burgtor nähere, türmen sich vor mir die 700 Jahre alten Mauern des Zwingers. Ein unübersehbares Gewirr von Mauern durchzieht die Vorburg, an deren Südostecke der mächtige, runde Bergfried auf ragt. Die Oberburg, mit Palast und Kemenate, Burgkapelle und Wachtturm, steht am äußersten Rand des Plateaus, und von allen Seiten droht, in die Tiefe blickend, Absturz in felsige Unendlichkeit.

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