6742049-1966_45_06.jpg
Digital In Arbeit

Umbruch in Südtirol

Werbung
Werbung
Werbung

Wenn man die wirtschaftliche Entwicklung Südtirols seit seiner Eingliederung in Italien verfolgt, stellt man immer wieder eines fest: Von allen Wirtschaftszweigen war bei uns seit eh und je die Landwirtschaft der ausgeprägteste. Während sich in den europäischen Nachbarländern die Industrie und das Gewerbe stark entwickelten und aufblühten, blieb die Mehrheit der Südtiroler in der Landwirtschaft tätig. Dieses Verharren oder dieser Entwicklungssti’lstand darf nun in keiner Weise als Unvermögen der Südtiroler Bevölkerung ausgelegt werden, sondern er ist vielmehr auf die sattsam bekannten politischen Umstände zurückzuführen, unter anderem auch auf die Tatsache, daß unser Volk vielfach daran gehindert wurde, gewerbliche Berufe zu ergreifen, ja daß viele Berufe den Angehörigen der deutschen Volksgruppe nur unter erschwerten Bedingungen oder überhaupt nicht zugänglich waren.

Zwei „Explosionen“

Wie sich die Verhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg endlich besserten, kam schließlich zum Ausbruch, was so lange zurückgedämmt war: Mußte man während des Krieges froh sein, Bauern zu haben, die die allerwichtigsten Nahrungsmittel liefern konnten, so war man plötzlich nicht mehr auf sie angewiesen, als sich die Grenzen öffneten, ein schwunghafter Handel aufkam, Ein- und Ausfuhr mengen- und wertmäßig enorm anstiegen. Zwei der wirtschaftlichen Entwicklung dieser Epoche eigene Merkmale wirkten sich in besonderem Maße auf die oben skizzierten Verhältnisse Südtirols aus:

Durch die Liberalisierung des Güterverkehrs zwischen den Ländern des Westens konnte die Arbeitsteilung rasch voranschreiten. Güter, die anderswo billiger hergestellt wurden, konnten eingeführt werden, es lohnte sich nicht mehr, diese Güter selbst zu erzeugen. Das während des Krieges allgemein ge- handhabte Autarkiestreben (Selbstversorgung) verlor seine Berechtigung.

Als zweite bedeutende Erscheinung ist das Entstehen des Massenoder Sozialtourismus zu nennen.

Diese modernen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erscheinungen wirkten nun auf Südtirol, das ja mehr als andere Länder in einem Entwicklungsstillstand verharrt war, ein und lösten den plötzlichen Ausbruch der unnatürlich zurückgedämmten Kräfte aus:

Das Gespenst Landflucht

Unsere Landwirtschaft wurde plötzlich vor umwälzende Probleme gestellt: Sie mußte sich umstellen, das Produktionsprogramm revidie ren und den völlig veränderten Verhältnissen anpassen, sie mußte rationalisieren und mechanisieren, um die Kosten zu senken und konkurrenzfähig zu werden. Sie war darauf angewiesen, den teuersten Produktionsfaktor, die menschliche Arbeitskraft, soweit als möglich durch die organisatorische und technisch-mechanische Hilfe zu ersetzen ohne dais Produktionsergebnis zu schmälern. So kam es notgedrungen zu einem Abbau aller unnötigermaßen in der Landwirtschaft zurückgehaltenen Arbeitskräfte.

Durch den Kontakt mit den Urlaubsgästen und Ferienreisenden wurden uralte bäuerliche Lebensformen mit den Verhaltensweisen und Bedürfnissen einer modernen pluralisitiischen (Industrie-) Gesell schaft konfrontiert. Geregelte Freizeit, sicheres Einkommen, Entfaltungsmöglichkeiten im Beruf sowie die „Accessoires“, Auto, Rundfunk- und Fernsehapparate usw., trugen über die härteren und genügsameren Lebensweisen in der Landwirtschaft einen raschen Sieg davon und sogen bäuerliche Menschen in die Städte.

Und heute?

Wir befinden uns daher heute in einem Umstrukturierungsprozeß, der nicht langfristig und organisch, sondern plötzlich und abrupt einsetzte und daher zu ernstlichen Schwierigkeiten und Schäden führte:

Von 1951 bis 1961 verlor die Landwirtschaft 13.511 Arbeitskräfte, das heißt jeder fünfte landwirtschaftlich Tätige hängte seinen Beruf an den Nagel und suchte anderswo sein Fortkommen.

Dazu kam, daß etwa 20.000 Jugendliche von 1951 bis 1961 ins Erwerbsalter hineinwuchsen und einen Arbeitsplatz brauchten.

kräften allerdings nicht besetzt werden.

In dieser Situation ergaben sich zwei grundlegende Erfordernisse, um die bedrohliche Lage zu meistern:

Es war einmal nötig, so rasch wie möglich Arbeitsplätze zu schaffen, die qualitativ nicht so hohe Anforderungen stellten und daher der geringsten beruflichen Ausbildung der vielen Arbeitsuchenden Rechnung trugen. So ist das Landes- assessorat für Industrie und Handwerk seit einigen Jahren bemüht, als Sofortmaßnähme die Ansiedlung von Industriebetrieben in Südtirol zu betreiben.

Ferner war es erforderlich, die verfügbaren Arbeitskräfte so schnell als möglich beruflich umzuschulen, um sie in die Lage zu versetzen, auch qualitativ höhere Stellen der gewerblichen Wirtschaft ausfüllen zu können.

Morgen

Im Grunde genommen besteht die wirtschaftliche und soziale Proble matik Südtirois in einem „Quaniti- täts-“ und „Qualitätsproblem“. Wenn es heute noch erforderlich ist, im Zuge von Sofortmaßnahmen dem Quantitätsproblem Rechnung zu tragen, indem die zu schaffenden Arbeitsplätze an die Qualifikation der Arbeitsuchenden angepaßt werden, so soll es ein langfristiges Ziel sein, die Arbeitskräfte beruflich auf die Erfordernisse der Wirtschaft gründlich vorzubereiten, also das Qualitätsproblem zu lösen!

Der Südtiroler Raumordnungs- plan, der dieses Jahr noch vom Landtag verabschiedet werden soll, sieht die Erreichung der volkswirtschaftlichen und sozialen Ziele Süd- tirolis (Vollbeschäftigung, Stabilität des Haushalts, stetiges Wirtschaftswachstum, Bildung breitgestreuten Eigentums, Erhöhung des Pro-Kopf- Einkommens) auf hauptsächlich drei Wegen vor:

Erhaltung der Landwirtschaft.

Intensivierung des Fremdenverkehrs.

Erweiterung der Industrie.

Auch die Industrie übt einen enormen Anreiz im Sinn des Zubringergedankens auf andere Wirtschaftszweige, wie Handel und Handwerk, aus.

zahl der landwirtschaftlich Erwerbstätigen wird weiter zurückgehen, und da es praktisch auszuschließen ist, daß einmal aus der Landwirtschaft abgewanderte Arbeitskräfte früher oder später wieder in diesen Wirtschaftszweig zurückkehren, wird der Personalmangel in der Landwirtschaft in Zukunft noch größer werden. Die Aufgabe, die unseren Bauern gestellt ist, besteht also darin, den immer größer werdenden Mangel an menschlichen Arbeitskräften durch Rationalisierung, Einsatz von Maschinen usw. auszugleichien.

Innerhalb der nächsten zehn Jahre werden etwa 25.000 neue Arbeitskräfte in den gewerblich ! Wirtschaftszweigen unterzubringen sein, und zwar ins Erwerbsalter hineinwachsende Jugendliche sowie ,aus der Landwirtschaft ausscheidende Kräfte. In der Industrie, in Handwerk, Handel und Gastgewerbe, kurz überall in der gewerblichen Wirtschaft wird von den Arbeitskräften ein bestimmtes Maß von beruflicher Ausbildung verlangt, das von der Hilfskraft über die Anlern- und gelernte Kraft bis zum Meister reicht. Und besonders die Eigenart der Südtiroler Wirtschaft ist es, daß sie hauptsächlich gelernter und ausgebildeter Kräfte bedarf. Richtlinie für die nähere Zukunft sollte daher sein, die weichenden Erben aus der Landwirtschaft sowie den gewerblichen Nachwuchs so früh und gründlich als möglich auf ihre späteren Berufe vorzubereiten.

Die wichtigste Forderung lautet daher: Berufsausbildung, Berufsausbildung und wieder Berufsausbildung!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung