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Vom Mittelalter zur Volksdemokratie

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Mitten im Herzen Asiens, zwischen den Eisgipfeln des Himalaja und den Sandwüsten des Nordens liegt Tibet, das höchste Land der Erde. Hier auf dem „Dach der Welt“ leben nicht mehr als vier Millionen Menschen, teils als nomadisierende Viehzüchter, teils als Bauern oder Priester. So bekannt die Friedfertigkeit und Unabhängigkeit des kleinen Volkes auch waren, es lebte doch nicht friedlich und abgeschlossen genug, als daß nicht schließlich eine kommunistische Armee gekommen wäre, um es zu „befreien“.

Tibet (die Eingeborenen nennen es „Böt“), ein recht unwirtliches Gebiet, das im Durchschnitt mehr als viertausend Meter über dem Meer liegt und nur stellenweise ein wenig Gerste hervorbringt, hat seine große Zeit lange hinter sich. Vor fast tausend Jahren bildete sich hier unter indischem Einfluß eine eigenwillige Hochkultur, und die Macht des tibetanischen Königreiches erstreckte sich eine Zeitlang sogar südwärts bis fast zum Golf von Bengalen. Als seine Macht jedoch verfiel, war Tibet häufig Ziel feindlicher Heere, die, hatten sie erst die unbändigen Ströme und unweg samen Gebirge überschritten, bei der recht friedfertigen Bevölkerung nur auf wenig Widerstand stießen. So war es auch, als der Mongolenkaiser Kublai Khan das Land unter die formelle Oberhoheit Chinas brachte, die fortan durch einen „Amban“, einen offiziellen Gesandten in Lhasa, aufrechterhalten wurde. Trotzdem blieb Tibet in seinen inneren Angelegenheiten weitgehend selbständig. Seit 1641 wurde das ganze Land von einem Priesterkönig, dem Dalai Lama beherrscht, der im neuerbauten Potala, der herrlichen Palastburg zu Lhasa, residierte. Dem dreizehnten Dalai Lama gelang es schließlich im Jahre 1912, unmittelbar nach der chinesischen Revolution, den „Amban“ und seine chinesischen Soldaten aus Lhasa zu vertreiben. Längere Zeit unterhielt Tibet freundliche Beziehungen mit Indien und Großbritannien. Anläßlich der Niederlagen Tschiang Kai-Scheks erklärte die Regierung in Lhasa 1949 den endgültigen Austritt Tibets aus dem chinesischen Staatenverband.

Aber bereits kurze Zeit später verkündete Tschu Teh, der Oberbefehlshaber der rot chinesischen Armee, „die chinesische V olks- armee wird Tibet befreien“.. Und hatten frühere chinesische Einmischungen nur die Herstellung einer chinesischen Oberhoheit über dieses weltferne „Land des Schnees“ bezweckt, so ging es diesmal um eine wirkliche Eroberung, eine volksdemokratische „Neuordnung“ Tibets. Im Herbst 1950 begannen die chinesischen Truppen zu marschieren. Alles, was Tibet dem Angriff entgegenstellen konnte, waren ein paar Gewehre und eine Telegraphenleitung nach Indien.

Ein Bericht der tschechischen kommunistischen Zeitung „Aufbau und Frieden“ (23. Jänner 1953) schildert den Ueberfall, wie ihn die Propagandaabteilung Mao Tse Tungs in Peking sah, in jenen Wendungen, die wir bereits kennen: „Die Volksarmee trat ihren großen Marsch an und die Imperialisten verloren ihr Spiel. Die politischen Armeekommissare organisierten Brigaden der Freundschaft und Verständigung fnit dem tibetanischen Volk. Viele Einheimische glaubten, Mao Tse Tung sei Tibetaner, denn sie waren nicht fähig zu begreifen, daß ein Ausländer ein so großes Interesse für das Wohl ihres Volkes haben könnte. Den Höhepunkt der Befreiungsfeierlichkeiten bildete die Unterzeichnung eines Vertrages der Regierung der Volksrepublik China mit der tibetanischen Regierung über Maßnahmen zur friedlichen Befreiung Tibets. In diesem historischen Dokument vom 23. Mai 1951 ist festgelegt, daß Tibet ein untrennbarer Bestandteil Chinas sein soll und die chinesische Volksregierung das soziale System, die Gewohnheiten und die Religion des tibetanischen Volkes voll und ganz respektieren wird.“

Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Bald nach der großen Siegesparade, die die Chinesen mit Trommeln, Transparenten und Führerbildern in Lhasa veranstaltet hatten, machten es sich die dreißigtausend chinesischen Besatzungssoldaten für die nächsten Jahre in Tibet bequem, was für das arme Land eine große Last darstellte. Der Dalai Lama, der beim Einmarsch der chinesischen Kommunisten nach Süden geflohen war, ließ sich zwar wieder dazu bewegen, in die „Verbotene Stadt“ Lhasa zurückzukehren. Da er sich jedoch weigerte, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, entkleideten ihn die Chinesen allmählich eines großen Teils seiner weltlichen und religiösen Amtsbefugnisse. Seit alten Zeiten hatte es in Tibet eine Rivalität zwischen dem Dalai Lama in Lhasa und dem Pantschen Lama, dem Abt des Klosters Taschi Lunpo (das in der Nähe von Schigatse liegt) gegeben. Diese Rivalität wurde nun von den Chinesen ausgenützt, indem sie aus China einen ihnen gefügigen Pantschen Lama herbeiholten und ihn als den „Zweiten lebenden Buddha“ gegen den Dalai Lama ausspielten. Der Pantschen Lama hat heute praktisch die Oberhoheit über ganz Westtibet. Große Machtbefugnisse übertrugen die Chinesen auch einer von ihnen zusammengesetzten „Volksregierung“.

Ohne sich viel um den Vertrag zu kümmern, begannen die Kommunisten mit der Schulung und „Aufklärung“ der Bevölkerung. In Kursen und an Hand von praktischen Beispielen wird der Bevölkerung jetzt erklärt, daß ihre Religion ein Aberglaube sei. Während aber früher die Tibetaner mit ihrem Buddhismus glücklich und friedlich lebten, werden sie heute von den Chinesen zu Straßenbauarbeiten — vor allem zur Errichtung der großen Heerstraße von China nach Lhasa — eingesetzt und für den revolutionären „Friedenskampf“ geschult.

Auch das soziale Gefüge Tibets wird von den Chinesen umgewandelt. Ihre „Volksregierung“, die unter dem Vorsitz des „fortschrittlich gesinnten“ Kalun Ngabou Ngawang Jigme eng mit den chinesischen Militärbehörden zusammenarbeitet, nahm gewaltige soziale Veränderungen vor. Vorläufig bedienen sich die Kommunisten dabei noch der Angehörigen der alten Herrscherklasse zu Propagandazwecken. So entsandten sie zum Beispiel zum kommunistischen Friedenskongreß, der im Dezember 1952 in Wien tagte, als Delegierte die — Schwester des Dalai Lama. Nach ihrer Rückkehr durfte sie erklären: „Jetzt bin ich noch mehr von der großen Kraft des Weltfriedenslagers beeindruckt. Ich liebe mein Mutterland noch inniger. Ich bin mir der entscheidenden Rolle bewußt, die mein Land bei der Verteidigung des Weltfriedens zu spielen hat.“ Und beim Tode Stalins wurde der Dalai Lama — der jetzt gerade zwanzig Jahre alt ist — veranlaßt, eine Gedächtnisfeier abzuhalten, die angeblich von 20.000 Lamas besucht wurde.

Sehr hart traf viele Tibetaner eine andere Maßnahme der Chinesen: die Zentralisierung des tibetanischen Außenhandels und die Schließung der meisten Pässe, die nach Indien führen. Früher einmal ging der größte Teil der tibetanischen Ausfuhr — Steinsalz und Wolle — nach Indien, das dafür Stoffe, Getreide und Tee — der zusammen mit Butter das Hauptgetränk der Tibetaner ist — liefert. Nun errichteten die Chinesen in Tibet ein Exportmonopol für Wolle und kauften sie durch eine Filiale der chinesischen Nationalbank in Lhasa auf. Zahlreiche Grenzlandbewohner sind dadurch arbeitslos geworden. Das Ziel der Chinesen ist es, Tibet wirtschaftlich und politisch völlig vom Ausland abzuschneiden und ganz von China abhängig zu machen.

Für Besucher aus Indien und Europa ist Tibet heute ein doppelt verbotenes Land geworden, nach Norden und Osten aber stehen seine Grenzen weit offen für Waffenlieferungen und Truppennachschub aus China und Rußland. Tibet, das in der von Kriege» zerrissenen Welt noch der letzte, stille Zufluchtsort war, ist heute eine Bastion auf dem Vormarschweg der Kommunisten nach Süden. Das fromme Mittelalter ist in Tibet der Volksdemokratie gewichen, der Frieden den Friedenskongressen und die Freiheit der Befreiung durch die chinesische Armee. Dafür ist die Indien beherrschende Bastion fest in der Hand der chinesischen Kommunisten, die aus ihr ungeachtet aller Freundschaftsbeteuerungen im gegebenen Augenblick in die Gangesebene niedersteigen werden.

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