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Vom Verstehen und Mißverstehen

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Vorn 15. bis 16. Oktober 1954 tagte in Wien der Ausschuß „Terminologie“ der Internationalen Normenorganisation (ISO).

In einer englischen Zeitschrift konnte man vor einiger Zeit folgende satirische Zeichnung finden: Ein Lord, dem sein Diener bereits die fünfte Glühbirne reicht, versucht vergeblich, einen passenden Ersatz für seine Lampe zu finden. Ueber solche Vorfälle kann man heute nur noch lächeln. Jedermann ist es eine Selbstverständlichkeit, daß man nur in den .nächsten Elektroladen gehen muß, um, ohne viel zu suchen, eine passende Glühbirne zu erhalten. Niemand wundert sich heute darüber, daß man ohne Umsteigen im selben Waggon von Konstantinopel bis Ostende fahren kann, weil die Geleise in allen Ländern dieselbe Spurweite haben. Diese und viele andere Annehmlichkeiten des täglichen Lebens verdanken wir der Idee der Vereinheitlichung der Ausführungsformen von industriellen Erzeugnissen. Ohne diese, unter dem Namen Normung bekannten Bestrebungen würde keine Schraube zu ihrer Mutter, keine Glühbirne in ihre Fas- »ung passen.

Dank dieser Normung ist auch der wirtschaftliche Verkehr und der wissenschaftliche und technische Erfahrungsaustausch über alle Grenzen hinaus viel, viel leichter, teilweise sogar erst möglich geworden. Die Ereignisse der letzten Jahrzehnte haben die Länder und Kontinente einander räumlich sehr nahe gebracht. Dabei sind aber die Schwierigkeiten der gegenseitigen Verständigung, besonders der rein sprachlichen, größer geworden. Diese Schwierigkeiten fordern dringend eine Abhilfe, soll der räumlichen und wirtschaftlichen Annäherung die geistig-seelische folgen. Wir müssen uns verstehen, wir dürfen uns nicht mißverstehen 1

Vor gar nicht so langer Zeit fiel die erste Atombombe in der Geschichte der Menschheit auf Hiroshima. Sie wäre, so wird erzählt, vielleicht nicht abgeworfen worden, hätte eine amerikanische Presseagentur eine japanische Meldung richtig übersetzt und dadurch die Bereitwilligkeit der Japaner, ein Alliierten-Ultima- tum anzunehmen, ins Gegenteil verkehrt. Mag diese Geschichte vielleicht auch nicht ganz wahr sein, so zeigt sie doch eindringlich die Gefahren des sprachlichen Mißverstehens. Nicht ganz so schlimm, aber immer noch schlimm genug ist ein solches Mißverstehen im wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und technischen Verkehr.

Man wird meinen, daß in diesem Falle ein gutes Wörterbuch seine Dienste leisten wird. Nötigenfalls muß eben ein Fachmann zu Rate gezogen werden. Damit findet man aber leider doch nicht das Auslangen.

Die Sprachen anderer Völker klingen nicht nur anders, sie sind auch Ausdrucksmittel eines durch Geschichte und Kultur bedingten anderen Denkens. Während z. B. der Deutsche den Oberbegriff „Schnecke" verwendet, sind im Französischen nur die Unterbegriffe „Nacktschnecke" (limace) und „Weinbergschnecke"(escargot) volkstümlich. Der Oberbegriff „gastėropode"gehört dem Bereich der wissenschaftlichen Sprache an. Andere Begriffe sind in den verschiedenen Sprachen verschieden häufig. Je nachdem, ob sie dutch ein Stammwort (z. B. englisch „bolt") oder durch eine Wortzusammensetzung repräsentiert werden («. B. deutsch „Durchsteckschraube"). Eine große Gefahr birgt auch die in verschiedenen Sprachen auftretende Aehnlichkeit von Ausdrücken, die nicht dasselbe bedeuten (Pseudo- Internationalität). Ein „editeur" ist im Englischen kein „editor"sondern ein „publisher".

Selbst in der eigenen Muttersprache ist es oft schwer, für einen bestimmten Gegenstand den richtigen Ausdruck zu finden, zumal die Standessprachen wieder große Unterschiede zeigen. Der Ingenieur spricht von ejner „Fühllehre", der Monteur aber von einem „Spion“.

Gute Wörterbücher, die diesen Schwierigkeiten voll Rechnung tragen, sind leider selten.

Als man daher vor ungefähr zwei Jahrzehnten daranging, diesen Uebeln zu steuern, begnügte man sich nicht nur damit, die Lexiko-

graphic zu verbessern, sondern man versuchte auch durch Vereinheitlichung bzw. Normung des nationalen Fachwortschatzes eine grundlegende Besserung herbeizuführen. Die Normung sollte auch hier helfen, Mißverständnisse zu beseitigen.

Grundlegend war die Erkenntnis, daß man sich auf die Fachsprachen beschränken müsse. Ein Eingriff in die Gemeinsprachen wäre durch die diesen eigenen, zäh wirkenden Beharrungstendenzen von vornherein aussichtslos gewesen. Die Fachsprachen jedoch zeigen sich dem Versuch zugänglich, die nationalen Begriffe und Begriffssysteme einander näherzubringen und anzupassen. Dieser Vereinheitlichung der Begriffe folgt die Eindeutigkeit der Termini auf dem Fuße.

Dieser Zielsetzung muß naturgemäß auch die lexikographische Aufzeichnung des vorhandenen Fachwortbestandes gerecht werden. Sie liefert ja auch die Voraussetzungen für eine systematische Terminologiearbeit. Im Wörterbuch der Gegenwart und der Zukunft muß daher viel mehr als bisher Gewicht auf eine einwandfreie Begriffsbeschreibung und -abgrenzung (Definition) gelegt werden. Durch eine nach der Bedeutung der Begriffe gewählte systematische Anordnung des gebotenen Wortschätze und durch einheitliche lexikographische Zeichen, die die Abhängigkeit der Begriffe voneinander (Unter- und Oberbegriffe) klar zum Ausdruck bringen, muß diese Präzision in der Darstellung unterstützt werden. Durch bildliche Darstellung und durch Verweisung auf andere im selben Wörterbuch definiert« Begriffe können die Deutlichkeit und das Verständnis noch wesentlich gesteigert werden.

Von einer Gruppe österreichischer Fachleute unter der Leitung von Dr.-Ing. E. Wüster wurde vor wenigen Wochen die erste Stufe der Arbeiten an einem Wörterbuch der Werkzeug- maschinen-Elemente abgeschlossen. In diesem, im Auftrage der Europäischen Wirtschaftskommission (ECE) bearbeiteten Wörterbuch wurden, neben vielen anderen, auch die oben erwähnten Grundsätze angewendet und den Begriffsverschitdenheiten im Englischen, Französischen und Deutschen Rechnung getragen. Das Manuskript, bei dessen Ausarbeitung ebenfalls neue Verfahren erprobt wurden, geht nun Mitarbeitern in England und Frankreich zu.

Es erweist sich nämlich immer mehr als notwendig, Fachwörterbücher nicht durch privat« Autoren und Verlage ausarbeiten zu lassen, sondern durch die berufenen nationalen und internationalen Fachverbände und Normenausschüsse. Diese Erkenntnis ist schon eindeutig durchgedrungen. In einer ebenfalls von Oesterreichern unter der Leitung von Doktoringenieur E. Wüster zusammengestellten Bibliographie wurden über 1500 genormte Fachwörterbücher und Fachwortlisten registriert. Diese Bibliographie wird zu Beginn des kommenden Jahres von der UNESCO veröffentlicht werden.

Alle die hier genannten Grundsätze und Richtlinien bedürfen eines eingehenden Studiums und einer sorgsamen Erprobung. auf nationaler und internationaler Ebene, ehe sie Für den allgemeinen Gebrauch freigegeben und empfohlen werden können.

Diese Studienarbeiten begannen bereits 1936, als im Rahmen der Internationalen Vereinigung der nationalen Normenorganisationen (ISA) ein Fachkomitee ISA 37 „Terminologie" eingesetzt wurde. Die vielversprechenden Arbeiten dieser Komitees führten 1938 zum Entwurf eines Bulletins über die Gestaltung von Fachwörterbüchern und der bei ihrer Ausarbeitung notwendigen Verfahren. Der zweite Weltkrieg unterbrach diese Normungsarbeit.

Nach dem Krieg konnten diese Arbeiten erst im Jahre 1951 wiederaufgenommen werden. Im Jahre 1952 tagte in Kopenhagen zum ersten Male das Technische Komitee ISO TC 37 „Terminologie" (Grundsätze und Koordination) im Rahmen der Weltnormenorganisation (ISO). Es beschloß, die Arbeiten von ISA 37 fortzuführen und jene allgemeingültigen Regeln und Richtlinien auszuarbeiten, die eine einheitliche Klarstellung und Abgrenzung der Begriffe, Auswahl und Bildung von Fachausdrücken und Definitionen sowie eine einheitliche Gestaltung von genormten Fach-Wörterbüchern gestatten. Neben Oesterreich, dem das Sekretariat anvertraut worden ist, arbeiten zwölf weitere Länder in diesem Komitee mit. In der vom 13. bis 16. Oktober in Wien veranstalteten 2. Tagung ist nun das in Kopen hagen beschlossene Arbeitsprogramm in Angriff genommen worden. Es wird noch einige Zeit dauern, bis diese Arbeiten greifbare Erfolge aufzeigen. Aber es ist wieder ein Weg mehr vom Mißverstehen zum Verstehen.

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