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Wahrhaftig ein Mann

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Von Thomas Mann gibt es ein wenig bekanntes Wort über Walt Whitman. Es ist nachzulesen in dem ebenfalls viel zu wenig bekanntgewordenen Buch „Spektrum. Amerika“ (Herausgeber Wulf Stratowa unter Mitarbeit von Ernestine Wels, Manutiuspresse, Wien 1964), einem Sammelband, in welchem 141 Dichter und Denker, unter ihnen 14 Nobelpreisträger, aus 16 europäischen Ländern über Amerika von 17T6 bis in die jüngste Gegenwart eine Fülle hervorragender Arbeiten veröffentlichen. Thomas Mann also sagt über Walt Whitman: „Für mich ist sein Werk ein wahres Gottesgeschenk, denn ich sehe wohl, daß, was Whitman Demokratie nennt, nichts anderes ist, als was wir, altmodischer, Humanität nennen; wie ich auch sehe, daß es mit Goethe allein dennoch nicht getan sein wird, sondern daß ein Schuß Whitman dazugehört, um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen: zumal sie viel gemeinsam haben, die beiden Väter, vor allem das Sinnliche; die Sympathie mit dem Organischen...“

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Von Thomas Mann gibt es ein wenig bekanntes Wort über Walt Whitman. Es ist nachzulesen in dem ebenfalls viel zu wenig bekanntgewordenen Buch „Spektrum. Amerika“ (Herausgeber Wulf Stratowa unter Mitarbeit von Ernestine Wels, Manutiuspresse, Wien 1964), einem Sammelband, in welchem 141 Dichter und Denker, unter ihnen 14 Nobelpreisträger, aus 16 europäischen Ländern über Amerika von 17T6 bis in die jüngste Gegenwart eine Fülle hervorragender Arbeiten veröffentlichen. Thomas Mann also sagt über Walt Whitman: „Für mich ist sein Werk ein wahres Gottesgeschenk, denn ich sehe wohl, daß, was Whitman Demokratie nennt, nichts anderes ist, als was wir, altmodischer, Humanität nennen; wie ich auch sehe, daß es mit Goethe allein dennoch nicht getan sein wird, sondern daß ein Schuß Whitman dazugehört, um das Gefühl der neuen Humanität zu gewinnen: zumal sie viel gemeinsam haben, die beiden Väter, vor allem das Sinnliche; die Sympathie mit dem Organischen...“

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Soweit Thomas Mann. Ein großer Vergleich aus berufenem Munde! Man kann ihn sogar in die rein physische Erscheinung des größten deutschen und des größten amerikanischen Dichters (als welcher er vielen gilt) übertragen: Napoleon sagte über Goethe, als er ihn sah: „VoiDÄ un homme!“ — und Präsident Lincoln, als er vom Fenster des Kongreßhauses aus Walt Whitman vorbeigehen sah, das gleiche: „Wahrhaftig, ein Mann!“ Beide Dichter waren Pracfatgestaliten und in ihren besten Mannesjahren, populär ausgedrückt, blühend gesunde Optimisten. Und gar Walt Whitman, der, geboren am 31. Mai 1819 in West Hills auf der New York vorgelagerten Insel Long Island, das Glück hatte, 70 Jahre lang den rasenden Aufschwung des amerikanischen Kontinent im 19. Jahrhundert mitzuerleben und mitzudichten. Er wurde der lyrische, hymnische und doch sehr realistische Dichterprophet einer neuen Welt, die man nicht lumsonst in jeder Beziehung ganz allgemein die Neue Welt nannte. Er machte begeistert das freilich sehr blutige Wer-

den der USA mit, obwohl er der absolute Gegner jedes Krieges war. Darum nahm er nicht direkt am Sezessionskrieg (1860 bis 1865) teil, wohl aber indirekt im schönsten Sinne: als reifer Mann jahrelang Verwundetenpfleger ohne jedes Entgelt in den überfüllten Hospitälern, der Tröster und Helfer vieler tau-sender Opfer (eine Million forderte der Bruderkrieg, hie feudal, hie demokratisch, zwischen dem Süden und Norden). Er, der „Samariter mit dem Bngelsgesicht“, errettete aEein durch seine gütige Menschlichkeit viele vom Tode, nachdem sie von den Ärzten aufgegeben worden waren. Anlaß dazu war die Nachricht von der Verwundung seines eingerückten Bruders, er eilte auf die Schlachtfelder, fand ihn jedoch schon wieder genesen vor. Wa/lt aber, der „gute graue Walt“, wie man ihn seines frühzeitig ergrauten kurzen Vollbartes und des ständig getragenen grauen Schlapphutes über dem eon-nenroten Gesicht nannte, blieb unter den Krüppeln und Siechen: er hatte seine zweite große Lebensaufgabe gefunden.

Die erste war ihm, fünf Jahre vorher, mit seinem Gedichtbuch „Leaves of gross“ („Grashalme“), 1855, gelungen, das bis zu seinem Tod am 26. März 1892 in Camden bei Philadelphia, zehn Auflagen, immer wieder um neue Gedichte vermehrt, erlebte. Es blieb sein eigentliches Hauptwerk. Allerdings, leicht war ihm sein dichterischer Erfolg wahrlich nicht geworden. Die erste Auflage, teilweise von ihm selber gesetzt und gedruckt, was ihm als gelernten Schriftsetzer nicht schwerfiel, wurde kaum verkauft. Die ihn völlig mißverstehenden Kritiker taten das Buch als „Eselei“, „Verbrechen“, „Blasphemie“ ab.

Nur zwei waren es, die ihn sofort richtig einschätzten, bis an sein Lebensende zu ihm hielten und schließlich die Anerkennung in aller Welt durchsetzten: der Philosoph Ralph Waildo Emerson, längst berühmt, und der Journalist O'Connor, etwas später auch Thoreau. Emerson schrieb ihm einen enthusiastischen Brief und besuchte ihn alsbald; er fand „etwas Großes und Kolossali-sches“ an ihm und gratulierte ihm zum „Beginn einer großen Laufbahn“. In der Tat wurde er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Europa das große lyrische Ereignis (nachdem Freiligrath schon 1868 einige seiner Gedichte ins Deutsche übersetzt hatte); ohne Walt Whitman sind mehr oder weniger undenkbar Verhaeren, Claudel Wolfe, Kipling, Majakowski (mit dem er das Rhetorische, auf die Massen wirkende gemeinsam hat), Johannes V. Jensen, Dauthendey, Kazantzakis, Giono, Laxness und die Österreicher Werfe! sowie der zu Unrecht vergessene Robert Müller. Sein bedeutendster Übersetzer wurde Johannes Schlaf, sein bis heute bester Biograph Henry Bryan Binns (beide 1907). Das anfängliche Mißfallen Unberufener galt nicht nur dem Inhalt der

„Grashalme“, sondern vor allem ihrer Form, man schalt sie barbarisch (darauf war Whitman stolz), animalisch, prosaisch und nicht poetisch. So lauteten noch die zurückhaltenden Urteile. Es waren endlos lange Verszeilen Ohne jeden Reim — den verachtete er ebenso wie das Prokrustesbett abgezählter Versmaße; es waren leidenschaftlich pulsierende freie Rhythmen eines dichterischen Revolutionärs, der, allein dem Sinn Untertan, nicht von außen, sondern von innen gestaltete. Wenig bekannt ist, daß er gestand, ohne seine leidenschaftlichen Opernbesuche hätte er niemals die „Grashalme“ schreiben können, und in der Tat wirken sie wie brausende Choräle oder besser wie eine ungeheure Symphonie. Auch in den Naturlauten der Meeresbrandung, des Windes, des Vogelsangs fand er jene Harmonie, in die auch das unscheinbare Wachstum des schlichfesten Grashalmes einbezogen ist. Ein Grashalm war für ihn „Gottes herabgefallenes Taschentuch“, von der Allseele durchdrungen wie alles im Kosmos. Seine Gedichte sind untergeteilt in' „Kinder Adams“, „Salut au monde!“, „Ein Gesang der Freuden“, „Ichsinge den Leib, den elektrischen“, „Wandervögel“, „Seetrieb“, „Trommel-

schläge“ usw., alle nichts weniger als romantisch-sentimental, sondern männlich und kraftvoll. Es steht heute fest, daß er das erste moderne Gedichtbuch überhaupt schrieb. Und endlich erkannte man ihn, wie H. B. Binns betont, als religiösen Mystiker, der sein Bestes von der Bibel, den Psalmen, den Litaneien, Homer und Shakespeare gelernt hatte und es magisch-suggestiv auf das moderne Volksleben anwandte. Nicht umsonst stammt er aus dem guten Haus einer bibelfesten Quäkerfamilie, die Farmer und Handwerker stellte, der Vater Yankee, die Mutter Holländerin; und er selber, von bäurischer Konstitution, war keiner körperlichen Arbeit abhold. Nach dem Tode des Vaters wurde er wie dieser Zimmermann. Seit früher Jugend war er meist Journalist und der persönliche Freund einfacher Leute aus dem Volk, die er, obwohl niemals wohlhabend, mit praktischen Geschenken unterstützte. Als alter Mann war er halb gelähmt von Schlaganfällen, eine Folge seiner aufreibenden Samanitertätlgkeit, aber immer frohgemut und tolerant, und seine letzten Lebensjahre verschönten sorgende Freunde und der Ruhm, den er noch als hinfälliger Greis in vielen Vorlesungen bekräftigte.

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