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WIE LEGENDEN ENTSTEHEN

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Die Legende stellt die Ereignisse nicht dar, wie sie waren, sondern wie sie gelesen werden sollen. Zumeist dient sie der Verherrlichung, so mit der Fahne des Siegers von Aspern auf dem allerschönsten Denkmal Wiens. Zu den Kräften, welche das nationale Erwachen beschleunigen, gehörte der auf der Legende beruhende Mythos, welcher bei allen Völkern anzutreffen ist. Die Engländer als Handelsvolk haben mit Zahlen nachzuweisen versucht, daß Napoleon durch Baumwolle, die Hauptquelle ihres Nationalvermögens, besiegt wurde, und es abgelehnt, aus dem unter Wellington sich brav schlagenden „Abschaum der Erde” Helden zu machen. Die mit englischen Subsi- dien besoldeten österreichischen und preußischen Truppen, die nicht weniger gewaltsam in eine Uniform gesteckt wurden als die Bayern, Württemberger, Badener und Sachsen, welche auf der anderen Seite für la libertė kämpften, waren wie diese gute und schlechte Soldaten, aber keine Freiheitshelden für ein einiges Deutschland. Napoleon wurde nicht vom Freiheitsgeist der unterjochten Völker zur Strecke gebracht. Aber die Legende des Freiheitskampfes erblühte und überwucherte den Boden der Tatsachen. Sieger und Besiegte, sie brauchten im Zeitalter des Patriotismus und Nationalismus eine Legende, und die Wahrheit hüllt sich in Schweigen, um nicht als vaterlandfeindlich gebrandmarkt zu werden. Jedes Volk hat seine Legenden, und es gibt so viele Weltgeschichten, als es Völker gibt. In jeder wirkt die Legende als treibende Kraft, und in dem durch sie geschaffenen Mythos äußert sich der nationale Wille.

Ein Pariser Journalist, Balison de Rougemont, erfand am Kaffeehaustisch in der Rue Feydeau, um die bittere Pille von Waterloo den Lesern des „Journal general de France” zu versüßen, die schöne Antwort, die General Cambronne den Briten zurief, als sie ihn aufforderten, die Waffen zu strecken: „La garde meurt et ne se rend pas.” Der Befehlshaber der Garde hat ein anderes, kurzes Wort gebraucht, das man schicklich mit „le mot de Cambronne” umschreibt. Statt des Ausspruchs wird der Autor genannt, von den Franzosen Cambronne, von den Deutschen der Götz, Sascha Guitry hat die Anekdote zum Vorwurf eines köstlichen Einakters gewählt, der zugleich mit dem Fallen des Vorhanges endlich das Wort verrät: „Merde.”

Dasselbe Wort in seiner italienischen Form erinnert an eine Episode der . österreichischen Geschichte, die sich in Genua abspielte. Während des österreichischen Erbfolgekrieges zog Feldzeugmeister Antoniotto Botta Adorno gegen Genua, bemächtigte sich der Stadt, und der Kriegskommissär Graf Chotek hob eine hohe Kontribution ein. Auf Wunsch der Engländer und zum Verdruß Maria Theresias mußte Graf Ulysses Browne mit 20.000 Österreichern und 10.000 Piemontesen gegen Toulon ziehen, ein Unternehmen wiederholen, das vor 40 Jahren gescheitert war. Er überschritt den Var, belagerte Antibes und rückte gegen Cannes vor, um schließlich im Frühjahr 1747 zum Rückzug genötigt zu werden. Inzwischen waren die Österreicher durch einen Aufstand aus Genua vertrieben worden, der sich auch gegen die Patrizier richtete und die Gelegenheit zu Raub und Plünderung bot. Am 5. Dezember 1746 wollte eine Abteilung der Kaiserlichen den Mörser „Santa Catarina”, welcher für die gegen die Provence ziehende Armee bestimmt war, aus der Vorstadt Portoria über die schlammbedeckte und viele Schlaglöcher aufweisende Gasse ziehen. Die Soldaten wurden von einem Steinhagel des vorstädtischen Gesindels empfangen, wobei der erste Stein von einem halbwüchsigen Knaben geschleudert worden sein soll. 99 Jahre nach diesem Vorfall, als bereits das Sturmjahr 1848 seine Schatten vorauswarf, suchte man nach dem vollen Namen des jungen Helden, dessen Andenken im Volk als Balilla fortlebte, und glaubte, ihn als Giambattista Perasso entdeckt zu haben. Aber da es viele gab, die so hießen, und die Taufmatrikeln keine Sicherheit boten, veranlaßten das Unterrichtsministerium und der Stadtrat von Genua neuerliche Forschungen. Die ligurische Gesellschaft für vaterländische Geschichte, mit dieser Aufgabe betraut, fand die einzige Quelle, eine zeitgenössische anonyme Chronik, in welcher der Knabe von Portoria erwähnt wird: Annum qui numerat deeimum, cognomine dictus Mangiamerda fuit primus certaminis auctor. „Dreckfresser” ist ein Gat- tungs-, aber kein Eigenname, und so blieb es bei Giambattista Perasso und dem legendären Balilla, nach dem Mussolini seine Jugendorganisation benannte.

Am Michaelerplatz ist an einer Hausfront eine eherne Tafel angebracht: „Vor dem Burgtor widersetzte sich am 13. März 1848 der Oberfeuerwerker Johann Pollett mit Gefahr seines Lebens dem Befehl, die Kanonen gegen die Volksmenge abzufeuern.” Der Oberfeuerwerker, der seine Laufbahn als Hauptmann beendete, tat nichts anderes, als der Vorschrift gemäß vor dem Abmarsch die Rohrmündung mit der dazu bestimmten Lederkappe zu schließen, um die Verrostung zu verhüten. Die Tafel stammt aus der ersten Zeit der Republik und sieht ihrem 50jährigen Jubiläum entgegen.

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