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Wissenschaftler unter Naturvölkern

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Nahezu allgemein wird von den Angehörigen der europäisch-amerikanischen Zivilisation behauptet, daß Naturvölker kaum irgendwelche wissenschaftliche Kenntnisse ihr eigen nennen oder gar solche praktisch verwerten. Es wird jedoch dabei immer übersehen, daß unsere Altvorderen vor hundert Generationen kulturell in gleichen Verhältnissen gelebt und trotzdem die Grundlagen des neuzeitlichen technischen Zeitalters gelegt haben. Im folgenden soll an zwei Beispielen aufgezeigt werden, daß auch unter den Naturvölkern Männer, deren Namen uns unbekannt sind, wissenschaftliche Erkenntnisse sammelten und dem eigenen Kulturleben praktisch eingefügt haben.

Der schleichende Tod der Australier

Kulturell nnd rassisch nehmen die Ureinwohner Australiens in der heute lebenden Menschheit eine Sonderstellung ein, die wir als besonders altertümlich bezeichnen müssen und die sich dem um ein Erdzeitalter zurückgebliebenen Lebensraum harmonisch einfügt. Die Tier- und Pflanzenwelt Australiens zeigt gegenüber allen Lebenwesen der anderen Kontinente eine Urtümlichkeit, die sonst nirgendwo anzutreffen ist. Erst durch die neuzeitliche Kolonisation und durch die hervorragende Zivilisationstätigkeit des „Commonwealth of Australia“ ist dieser Erdteil zu einem Zentrum sozialer Blüte erhoben worden.

Die in das Landesinnere zurückgedrängten Eingeborenen führen Vielfach noch ein von jeglicher Zivilisation unberührtes Stammeseigenleben, das manch ethnologisches Rätsel beinhaltet. Dennoch treten uns kulturelle Leistungen entgegen, die immer wieder unser Erstaunen erwecken. Ich weise nur auf die „boomerang“ genannte Kehrwiederkeule hin, deren technische Ausgestaltung ein Wunderwerk und deren grundlegendes Prinzip in den Propellerflügeln unserer Flugzeuge wiederzufinden ist. Gleich dem Weißaustralier sind auch die dunkelhäutigen Eingeborenen nur Einwanderer und nicht Autochthone. Dies beweisen uns sprachlich die in australischen Idiomen auftretenden Ausdrücke, welche daran erinnern, daß die Australier einst Hackbau von Pflanzen betrieben haben, die auf australischem Boden unbekannt sind.

Daß der Australier trotz seiner scheinbar ärmlichen Kultur über verblüffendes Wissen verfügt, ist aus den folgenden Tatsachen zu entnehmen. Manchmal findet man auf i dem verkrusteten Sandboden menschliche Figuren eingraviert, die den skelettbedingten Aufbau des Menschen zeigen. Wie Professor Dr. Burkitt, Direktor des Anatomischen Institutes der Universität in Sidney, feststellen konnte, sind diese Darstellungen vollkommen richtig wiedergegeben und legen dafür Zeugnis ab, daß die Eingeborenen mindestens, sehr scharfe Beobachter sind und ein vorzügliches Gedächtnis besitzen. Ein noch größeres Rätsel jedoch bildete für den europäischen Beobachter die mittels des „pointing bone“ geübte Ferntötung unter den Australiern. Es wurde nämlich beobachtet, daß manchmal ein gesunder Australier scheinbar ohne besonderen Anlaß auf einmal körperlichen Verfall zeigte und binnen kürzester Zeit starb. Festgestellt wurde bloß, daß ein anderer Eingeborener in Sehweite seines Opfers auftauchte und aus sicherer Entfernung ein bemaltes Stäbchen seinem Opfer zeigte. Binnen kurzer Zeit verfiel dieses immer stärker, um in absehbarer Frist sein Leben zu beschließen. Da eine unmittelbare Todesursache nicht festzustellen war, so vermutete man, daß eine schwere psychische Erschütterung diesen rätselhaften Tod verursacht hätte. Vielseitige

Beobachtungen ermöglichten die verblüffende Erklärung des Rätsels. Das bemalte Stäbchen ist ein an einem Ende zugespitzter Knochen, der mit seiner Spitze in eine verwesende Leiche getaucht und sodann mit einer Fettschicht überzogen wurde. Der Besitzer des derart präparierten Knochens steht aus irgendwelchen Gründen seinem Opfer feindlich gegenüber. Er umschleicht es — von diesem Vorgang leitet sich auch die Bezeichnung der „schleichende Tod“ her —, zeigt demselben aus der Ferne seine Mordwaffe und verletzt früher oder später seinen Widersacher mit derselben. Wie uns bekannt ist, wirkt einerseits in die Blutbahn direkt eingeführtes Leichengift unbedingt tödlich und andererseits bildet eine Fettschichte ein ausgezeichnetes Konservierungsmittel für Leichengift. Der „sdileichende Tod“ mit dem „pointing bone“ hat seine Erklärung gefunden, die in ihrem zwingend logischen Aufbau uns um so mehr überrascht, als die unheilvolle Wirkung von Leichengift und die Konservierung desselben keineswegs allen Angehörigen unserer Zivilsationsstufe bekannt ist.

Erbbiologen unter Negern

Die Frage „Wer ist der Vater?“ war, ist und wird wohl zu allen Zeiten und bei allen Völkern von soziologisch grundsätzlicher Bedeutung sein. Die ledige Mutter mit ihrem Kinde erscheint allen Naturvölkern als ein innerhalb der menschlichen Gesellschaft unvollständiges Gesellschaftsglied, das einer Ergänzung bedarf. Von der Ausstoßung bis zur gesellschaftsrechtlich verankerten Befürsorgung reichen die Maßnahmen der Menschheit gegenüber derartigen Paaren hin.

In unserem Zivilisationskreis wurden rechtliche Normen geschaffen, die den Mangel der soziologischen Aufbaueinheit von „Mutter-Kind-Vater“ beheben sollen. Während das juridische Paternitätsverfahren bis vor wenigen Jahren sich mit einem außerhalb des genannten Personenkreises liegenden Beweisverfahrens begnügte, hat die neuzeitliche biologische Forschung eine Anwendung von naturwissenschaftlich-konkreten Beweismitteln als wertvollste Ergänzung des erstgenannten Beweisverfahren in die Wege geleitet. Seit kaum zwei Dezennien werden medizinische und erbbiologische Sachverständige in strittigen Vaterschaftsfällen als fachlich geschulte Begutachter herangezogen. Und mit besonderer Genugtuung verzeichnen wir diese Tatsache als einen besonderen Beweis der Höhe unserer europäisch-amerikanischen Zivilisation.

Um so verblüffender sind nun Tatsachenberichte von Forschern, die während eines jahrzehntelangen Aufenthaltes in Afrika feststellen konnten, daß unter Negerstämmen nicht nur bloß ein stammeseigentümliches Rechtsverfahren zur Klärung einer fraglichen Vaterschaft besteht, sondern daß sogar erbbiologische Beweismittel zur endgültigen Lösung derartiger Prozeßverfahren herangezogen werden. Während F. Schapera dies für einen Unterstamm der südafrikanisch-bantuischen Suto-Tschuana-Gruppe fessstellte, konnte P. Crazzolara ein gleichartiges Beweisverfahren bei den nilotischen Nuern beobachten. Beiden Stämmen war seinerzeit die Tötung der ledigen Mutter und ihres Liebhabers eine selbstverständliche, soziologisch gerechtfertigte Maßnahme, die mit der Zeit einer Sühne wich, die der Beschuldigte durch Zahlung in Großvieh leistete, ohne daß jedoch dem letzteren irgendwelche Rechte gegenüber dem Kinde eingeräumt wurden. Der Urteilsspruch erfolgte stets nach langwierigen und meist rhetorisch sehr weitschweifigen Verhandlungen vor dem Stammesältesten auf Grund von Zeugenaussagen. Ordalien und sonstige zauberisch unterbaute Beweismittel fanden bei diesen Völkern kaum Anwendung.

Sowohl die Niloten als auch die meisten der in der Kafferngruppe vereinigten südafrikanischen Bantu sind Großviehzüchter, die selbstverständlich über eine große, in praktischer Betätigung seit vielen Generationen erworbene Erfahrung auf dem Gebiete der Erbbiologie verfügen. Die engere Nacurverbundenheit aller sogenannten Natur-ölker findet in einer schärferen Beobachtungsgabe und einer oftmals zweckbedingteren Auswertung dieser Beobachtungen ihren Ausdruck. So darf es uns keineswegs überraschen, wenn wir bei diesen Völkern eine Übertragung ihrer praktisch gewonnenen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, darunter auch jener erbbiologischer Natur, a“f den Menschen selbst vorfinden. War es den Europäern vorbehalten, erst 1865 durch P. Gregor Mendel die Grundlagen der Vererbungslehre zu veröffentlichen und erst eine Generation später dieselben durch Tschermak, Correns und De Vries wiederaufzufinden und schließlich als auch für die Menschheit geltend zu erkennen, so geht das praktische Erkennen des Erbgeschehens in der Kulturgeschichte der Menschheit viel weiter zurück und es ist keineswegs erstaunlich; daß scheinbar kulturell ärmere Naturvölker im Besitze eines erbbiologischen Wissens sind.

Das moderne indigene Rechtsverfahren dieser Völker im Falle einer bestrittenen Vaterschaft zeigt nun folgenden Verlauf: Die Eltern oder älteren Brüder des Mädchens versuchen zuerst direkt mit dem Kindesvater die Sache zu bereinigen. Versagen diese Versuche, so wird die Angelegenheit den dazu befugten Mitgliedern des Stammes unterbreitet, die wiederum anfänglich eine außergerichtliche Vermittlung anstreben. Scheitert diese, tritt endlich das prozessuale indigene Reditsverfahren mit autoritativer Macht in Kraft. Der mit den Rechtshandlungen betraute Rat der Stammesältesten wird von den Vertretern der ledigen Mutter, die unterdessen entbunden hat, über den Sachverhalt aufgeklärt. Nach Verständigung des für den Beklagten zuständigen Stammesoberhauptes und Anhörung der Zeugen erfolgt die Verhandlung, bei der hervorragende Viehzüchter dem Senate beigezogen werden, die auf Grund ihrer praktisch erworbenen Erbkenntnisse als unparteiische Fachleute im Kreise ihrer Stammesbrüder anerkannt sind und auf Grund des Vergleiches physischer Merkmale der Mutter, des Kindes und des Beklagten ein Gutachten erstatten, das dem Urteil zugrundeliegt. Der Verurteilte muß sich zur Zahlung einiger Stücke Großvieh verpflichten. Diese früher als Sühneleistung an die Angehörigen der ledigen Mutter zu entrichtende Buße bildet heute die Grundlage für den künftigen Viehbesitz des Kindes. Doch lehnen die südafrikanischen Bantu es prinzipiell ab, im Falle eines zweiten unehelichen Kindes abermals ein Verfahren durchzuführen, da sie annehmen, daß in einem solchen Falle die Eltern des Mädchens das lasterhafte Leben ihrer Tochter unterstützen, um zu größerem Reichtum zu gelangen.

Erwähnt zu werden verdient, daß in den letzten Dezennien die einst streng beachteten Sitten — besonders bei engerer Berührung mit Trägern unserer Kulturerrungenschaften — nicht mehr beachtet werden und auch die Abtreibung vorkommt.

Unter den Nuern findet eine Anwendung des geschilderten Verfahrens selbst in Fällen statt, in welchen Sin Ehemann die eheliche Geburt eines Kindes bestreitet. Die Eigenart derartiger Gerichtsverhandlungen findet sich sogar in den vom eigentlichen Stammesgebiet weit entfernten Nuerkolonien vor. Fügt sich der Verurteilte dem Urteilsspruch nicht und verweigert er die Zahlung des Viehs, so darf er von den männlichen Verwandten, besonders den Brüdern der ledigen Mutter, getötet werden, ohne daß diese Tötung eine Blutfehde auslösen würde.

Ein Einfluß der europäischen Form des Rechtsverfahrens ist ausgeschlossen, da in diesen Gebieten Gutachtenserstellungen in Vaterschaftsprozessen unbekannt sind. Jedenfalls zeigen obige Ausführungen deutlich, daß auch unter den Bantuvölkern Zumindestens einzelne Persönlichkeiten leben, die auf naturwissenschaftlichem Gebiete durch persönliche Beobachtungen mannigfaltige Kenntnisse erwarben, die im Laufe der Zeit als hochwertige Kulturgüter mehr oder weniger allgemeines Stammesgut geworden sind und in irgendwelcher Form in die Lebensführung der betreffenden Völker eingebaut werden.

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