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Wo Ulug Beg die Sterne zählte

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FLUGHAFEN TASCHKENT. Von Moskau hieher sind wir mit der berühmten „TU 104” über 3000 Kilometer in 3 Stunden 20 Minuten geflogen. Die Rollfelder und Hallen können sich mit Schwechat messen. Es gibt Paß- und Zollschalter. Wir sind gar nicht am „Ende der Welt”, denn erst in unseren Tagen ist die Kugelgestalt der Erde richtig wirksam geworden, und ist jeder scheinbare Abschluß nur neuer Anfang. Von Taschkent zweigt eine „Lokallinie” nach Kabul, der Hauptstadt von Afghanistan, ab, und seit neuestem landen in Taschkent die riesigen Verkehrsmaschinen der Aero- flot-Linie Paris—Moskau—Taschkent —Delhi: in zehn Stunden von der französischen zur indischen Hauptstadt. Zwischen Moskau und Taschkent haben wir 14 Breitengrade und 32 Meridiane ohne Halt gequert.

Ist also Usbekistan ein Land, das erst in den letzten Jahren sozusagen aus dem Nichts geholt wurde? Es gilt, in der Geschichte zurückzublättern. Im 11. Jahrhundert nach Christus studierten die Ärzte in Wien, Rom und Paris das Werk eines Berufsgenossen aus Buchara, und im 15. Jahrhundert kannte kein Astronom den Sternenhimmel so gut wie in Samarkand der Enkel des Welteroberers Timur.

Die Straße von Samarkand nach Termes, der Grenzstadt gegen Afghanistan, ist ausgezeichnet. In dieser Richtung sind etwa ein Jahrtausend vor Christi Geburt die Aryas nach Indien gewandert. Hier marschierten die Soldaten Alexanders des Großen, hier bewegten sich die Scharen der mongolischen Welteroberer Dschingis Khan und Timur. Timur wurde auf einem Feldzug gegen Indien an Hand und Fuß verletzt und hieß seither „Timur der Lahme”, im deutschen Sprachgebiet verballhornt Timurlenk oder Tamerlan. Es wehten nicht nur die Stürme des Krieges über jene Steppen, die sich heute in Baumwollfelder verwandeln, der Boden der zentralasiatischen Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan hat den Vorzug, zu sämtlichen Kulturkreisen der europäisch-asiatischen Welt gehört zu haben.

IN DER NÄHE DES HEUTIGEN Taschkent gründet Alexander der Große, „Alexander Makedonski”, wie die Russen sagen, seine Alexandria Eschate, sein „fermstes Alexandrien”. Zwei Jahrhunderte später, 126 vor Christus, kommt der chinesische Minister Tschang K’ien mit einer Gesandtschaft seines Kaisers hieher, um ein Bündnis zwischen China und dem „Großen Jüe Tschi” gegen die Hunnen abzuschließen. Der Vertrag kam nicht zustande, doch danken wir Tschang K’ien eine vorzügliche chinesische Beschreibung der mittel- asiatischen Länder. Auch die chinesischen Annalen der späteren Han- Dynastie (2. und 3. Jahrhundert nach Christus) berichten von einem Reiche K’ang Kü, das sich bis zum Schwarzen Meer bemerkbar machte.

Das gegenwärtige Usbekistan gehörte aber auch zum Reiche des indischen Großherrschers Kanishka (120 bis 130 nach Christus), dessen Regierung die Ausbreitung des Buddhismus nach Zentralasien einleitete. Ein Versuch Kanishkas, nach China einzudringen, scheiterte, als der chinesische Feldherr Pan Tsch’au die Inder schlug. Immerhin reichte Kanishkas Reich vom Hochland von Dekkan bis zum Aaralsee. Die geistige Eroberung, welche Indien durch den Buddhismus vollzog, geben sogar die chinesischen Geschichtsschreiber zu, welche melden, daß aus dem Lande des Großen Jüe Tschi eines der wichtigsten der buddhistischen Werke, der Amitabha Sutra, nach China an den Hof des Kaisers Höang Ti (147 bis 167 nach Christus) kam.

Byzantinische Kaufleute, welche auf der Seidenstraße nach China zogen, brachten das Christentum. Wie die eindrucksvolle Inschrift von Si Ngan Fu in der mittelchinesischen Provinz Schensi aus dem Jahre 781 beweist, gab es damals in China Christengemeinden, Angehörige der nestorianischen Sekte. Mit dem neupersischen Reich der Sassaniden kam die Religion Zarathustras. Als das Sassanidenreich im Jahre 642 den Arabern zum Opfer fiel, versuchte Jezdegerd III. auf demselben Wege zu flüchten, den tausend Jahre vorher ein anderer letzter Perserkönig, Darius III., nach dem Norden eingeschlagen hatte. Jezdegerd III. nahm dasselbe tragische Ende wie sein ferner Vorgänger. Sein Sohn Peroz jedoch versuchte einen Aufstand gegen die Araber und fand Hilfe bei den Chinesen, die diesen Raum noch nicht vergessen hatten. Peroz hatte zuerst Glück und eroberte Persien zurück; er wurde der Statthalter des chinesischen Kaisers für das Land P’o Si, worunter man unschwer den Namen „Persien” erkennen kann. Es war China® weitester Vorstoß nach dem Westen, aber nur ein vorübergehender Erfolg. Peroz wurde von dem Kalifen Mua- wija im Jahre 667 endgültig geschlagen und beschloß sein Leben als Gardegeneral in der chinesischen Hauptstadt.

DER LETZTE VERSUCH CHINAS, seine Herrschaft in Zentralasien wiederherzustellen, fällt in die Mitte des 8. Jahrhunderts, doch wurde der chinesische Feldherr Kao Hsien Tschi im Jahre 751 vom Araber Zijad ibn Salih besiegt. Der weiteste Vorstoß de® arabisch-islamischen Kulturkreises in der Richtung nach dem Nordosten war gelungen; die Religion Zarathustras wich der Lehre Mohammeds.

Nach dem Jahre 1200 erwachte plötzlich der Raum, um den bisher Perser, Griechen, Inder, Byzantiner, Araber und Chinesen gerungen hatten: Von hier aus versuchten die Mongolen Europa und Asien zu erobern. Wohl zerbrach das Reich Dschingis Khans (1155—1227) unter seinen Enkeln, aber nach 1370 versuchte Timur, der im Bergdorfe Shahr j Saba (= „Königin von Saba”) südlich von Samarkand als Sohn armer Eltern geboren worden war, auf® neue die Errichtung einer mongolischen Weltmacht. Er eroberte weite Teile von Rußland, kam nach Kleinasien, hatte aber dauerhaftes Kriegsglück nur in Indien, wo einer seiner Nachkommen, Babur, die Mogul-Dynastie gründete, die bis zur Landnahme durch die Engländer Indien beherrschte. So war das heutige Usbekistan nicht nur der einzige Platz der Erde, den eich Europa, Arabien, Indien und China zu holen suchten, sondern zweimal in seiner wechselvollen Geschichte der Ausgangspunkt weltgestaltender Politik.

Der Welteroberer Timur erhielt eines der schönsten Grabmäler der Erde. Am Stadtrand von Samarkand erhebt sich die blaue Kuppel mit den weißen Zeichnungen, die „Gur Emir”, das „Grab des Herrschers”, deckt. Die Kuppel ist birnenförmig; sie weitet sich oberhalb der Trommel und klingt dann in die Höhe aus. Daß aus ihr in der subtropischen Landschaft hohes Gras wächst, ist außerordentlich malerisch, für den Bauzustand aber mehr als gefährlich. Auf anderen herrlichen Bauwerken der Mongolenzeit nisten Störche, was sehr stimmungsvoll wirkt, die Zersetzung des Gesteins aber beschleunigt.

Im Inneren des Grabmals, das mit Nephryt und Onyx reich verkleidet ist, ruhen die Sarkophage von Timur und seinen Nachkommen. Die Gräber befinden sich in der Krypta. Die arabische Inschrift auf dem Sarge Timurs ist mehr ruhmredig als wahrheitsgetreu; schon daß Timur ein unmittelbarer Nachkomme Dschingis Khans gewesen sei, stimmt nicht. Er hatte einen Emir von Buchara im Kriege getötet und dessen Witwe, die eine Nachkommin Dschingis Khans war, geheiratet, woraus er einen Legitimitätsanspruch ableitete.

Am 19. Juni 1941 wurden die Gräber geöffnet. Man fand bei Timur bestätigt, daß eine Hand und ein Fuß steif waren. Die Toten waren in der vollkommen trockenen Luft so gut erhalten, daß Professor Gerassi- mow ihre Porträts rekonstruieren konnte. Er wollte die Leichen nach Leningrad bringen, aber drei Tage nach der Öffnung der Särge rückten Hitlers Truppen in die Sowjetunion ein. Es begann ein Krieg, an dem Timur sein Wohlgefallen gehabt hätte. Wieder sanken Millionen ins Grab. Hatte Professor Gerassimow etwa den Geist Timurs entfesselt?

So kam es, daß die Leichen Timurs, seiner Söhne und Enkel wieder in ihre Särge gelegt wurden. Die Begebenheiten der Schicksalstage vom 19. bis zum 22. Juni 1941 wurden auf Pergament verzeichnet und ih die Särge gelegt. Wenn wieder nach einem halben Jahrtausend ein Forscher den Sarg Timurs öffnet, kann er die Kriege um 1400 und von 1941 gleichzeitig studieren.

SAMARKAND, DAS EBEN aus einem langen Schlaf erwacht, war vor einem halben Jahrtausend der Hauptsatz in der astronomischen Wissenschaft. Bei dem herrlichen klaren Nachthimmel dieses Landes konnte Ulug Beg, der Enkel Timurs, nicht weniger als 1032 Sterne bestimmen. Ulug Beg erbaute in den Jahren 1417 bis 1420 die riesige Medres (Koran-Hochschule) „Registan” (der Name bedeutet „Sandstein”). In arabischer Sprache steht über der Pforte die Devise Ulug Begs: „Nach Wissenschaft zu streben ist Pflicht jedes Muselmanen und jeder muselmanischen Frau.” Gegenwärtig wird im Registan ein Film über Ulug Beg gedreht, den hoffentlich auch wir zu sehen bekommen werden.

Ulug Beg teilte das Lo® der meisten Großen auf Erden, die ihrer Zeit voraus eilten und darum nicht verstanden wurden. Die fanatischen Bekenner des Islams liebten ihn nicht. Ulug Begs ältester Sohn war geistesschwach. Der Vater wollte ihn nicht zum Nachfolger, und eben darum war er den mohammedanischen Fanatikern lieb. Der Sohn erhob sich gegen den Vater. Ulug Beg kam uipis Leben. Als sein Grab, das neben dem seines Großvaters Timur steht, geöffnet wurde, fand man den Kopf vom Leibe getrennt. Sein Werk wurde derart zerstört, daß erst im Jahre 1908 ein russischer Archäologe nach alten Dokumenten die Lage des Observatoriums feststellte, in dem Ulug Beg gearbeitet hatte. Die Grabungen wurden zu Beginn des ersten Weltkrieges eingestellt und erst nach dem zweiten Weltkrieg wiederaufgenommen. Nun fand man den 30 Meter langen Sextanten, mit dessen Hilfe Ulug Beg die Sterne bestimmt hatte. Gegenwärtig ist über diesem historischen Instrument eine Kuppel errichtet. Ulug Beg errech- nete das Stemjahr — die wahre Umlaufszeit der Erde, nach deren Ablauf die Sonne wieder bei demselben Fixstern erscheint; nach gegenwärtigem Stand 365 Tage, 6 Stunden, 9 Minuten, 9’A Sekunden — mit einem Fehler von nur einer Minute und zwei Sekunden; es besteht die Möglichkeit, daß der Fehler noch geringer ist, da die Länge des Sternjahres langsam zunimmt.

VON SAMARKAND SIND ES NUR 40 Flugminuten nach Buchara, das noch auf meinem alten Schulatlas als Sitz eines selbständigen Emirs eingezeichnet ist. In Buchara hat das historische Kamel — man möchte sagen, leider — dem Kraftwagen weichen müssen. Die viel- gliedrigen Kuppeln, in deren Schatten sich immer noch der Handel in orientalischen Formen abspielt, beginnen, was man gleichfalls bedauern muß, modernen „Magazins” Platz zu machen. Von der Teppicherzeugung findet man nichts mehr, dagegen surren in großen Arbeitssälen, wo herrliche Goldstickereien angefertigt werden, elektrische Nähmaschinen. Von einer uralten Karawanserei sieht man den großen Hof, wo die Kamele lagerten, während die Menschen in Einzelzellen um den Hof schliefen. Über dem Ruinenfeld erhebt sich ein Wald von Fernsehantennen.…

EIN PRACHTVOLLER AUSFLUG von Samarkand nach dem Süden führt in eine dem Österreicher merkwürdig vertraute Landschaft. In der Ebene hatte die Pflanzenwelt des Südens vorgeherrscht: Vor allem sind riesige Landstriche mit Baumwolle bepflanzt, für die geradezu ideale Voraussetzungen herrschen. Ein halbes Jahr lang — man sagt: von der Feier des ersten Mai bis zum Tag der Oktoberrevolution — leuchtet die Sonne von einem glasklaren Himmel, und zugleich gibt es reichlich Wasser, da vom Gebirge breite Ströme kommen. Auf unserer Fahrt herrschen Weißpappeln und Akazien vor: wir nähern uns dem Gebirge. Dann aber wird’s ganz vertraut. Der Motor zieht an. Auf steilen Kehren geht’s ins Gebirge. Rechts und links der Straße weiden Kühe, wie bei uns, die Hirten aber sind Usbeken mit breiten Backenknochen oder stämmige Tadschiken, Am Paß wird haltgemacht. Wir blicken ins nächste üppige Tal hinab, und unser Führer erklärt, es gehe nun in diesem Wechsel zwischen Paß und Ebene stundenlang weiter, bis zu den stolzen Siebentausendern von Pamir.

Den berggewohnten Österreicher leidet es nicht auf dem Paß. Er stürmt den Tachta Karatscha (= „Schwarze Tafel”) hinauf. Wohl ist der Gipfel nur 1872 m hoch, von oben aber weitet sich der Blick auf die schneebedeckten Riesen des Pamir. Wir stehen in der Mitte der gewaltigen europäisch-asiatischen Landmasse, zugleich an der Wiege der Völker, in einem Gebiet, das in der Vergangenheit mit uns viel stärker verbunden war als noch vor ein paar Jahren und das eine Zukunft hat.

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