6608612-1954_36_07.jpg
Digital In Arbeit

Zwischen den Fronten

Werbung
Werbung
Werbung

Vor hundert Jahren, am 6. September 1854, wurde Max Vladimier Beck in Wien geboren. Ais 52jähriger, nachdem er bis dahin ein Vierteljahrhundert lang als Staatsbeamter dem Ackerbauministerium angehört und daneben als Lehrer und Berater des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand fungiert hatte, erfolgte seine Ernennung zum österreichischen Ministerpräsidenten. Weder er noch sonst jemand hatte sich diese Berufung erwartet. Vielmehr war sie, da mehrere Persönlichkeiten abgelehnt hatten, aus einer Verlegenheit des Augenblicks heraus erfolgt.

Der Augenblick aber war bedeutsam, und zwar dadurch, daß, so schien es wenigstens, im richtigen Moment der richtige Mann gefunden worden war. Wir wollen hierbei nicht von seinen Verdiensten um die Wahrung der wirtschaftlichen Einheit des Reiches oder über seinen Anteil an der Verstaatlichung der Bahnen reden; das ist ja heute bereits zum größten Teil nur noch Geschichte. Nein, hier soll vielmehr ein Problem herausgegriffen werden, dessen Folgen wir heute noch spüren und daą, das zentrale Problem seiner Amtsperiode von 1906 bis 1908 darstellte, nämlich die soziale Frage. Sozial, nicht etwa im sozialfürsorgerischen Sinne, sondern sozial politisch im eigentlichen Sinne des Wortes. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um den Versuch, die Entwicklung eines halben Jahrhunderts, die offenbar an einem entscheidenden Punkte angelangt war, entweder produktiv in das staatliche Leben einzubauen oder aber einer innenpolitischen Katastrophe entgegenzugehen.

Das halbe Jahrhundert, von dem wir sprachen, begann 1848. Als damals das deutsch-liberale Bürgertum mit dem Ruf „Freiheit und Gleichheit" den Resten des Spätfeudalismus einen frohgemuten Fußtritt versetzte, da ahnte es nicht, daß die zusammenstürzenden Trümmer der alten Gesellschaftsordnung eine Lawine auslösen würden, die es selbst 60 Jahre später politisch begraben sollte. Vielmehr stellte sich das Großbürgertum, nach einem kurzen absolutistischen Interregnum, selbstbewußt an die Spitze des Staates, wobei es dem Hochadel wohl noch gesellschaftlich, aber nicht mehr politisch den Vorrang ließ.

In das auf diese Weise aber nach unten hin entstandene Vakuum drangen neue, bisher wenig beachtete Kräfte ein: das Kleinbürgertum, die industrielle Arbeiterschaft, das Proletariat. Innerhalb weniger Jahrzehnte wuchsen sie zu einem politischen Machtfaktor von gewaltigen Ausmaßen heran, und was den liberalen Bürgern ehedem recht war, war nun den neuen Volksbewegungen billig. Hatten die ersteren seinerzeit die auf Geburt und historischen Verdiensten beruhenden Adelsvorrechte negiert, so taten die Volksbewegungen gegenüber dem satten Bürgertum, das sich auf seine kulturelle Mission und seine Steuerleistungen berufen wollte, ein Gleiches. Gesellschaftlicher Vorrang? Ja, das mochte noch geduldet werden; politischer? Nein!

Die natürliche Reaktion war, daß Adel und Bürgertum, letzteres nunmehr sehr konservativ, vor dem Druck der Massen an die Macht appellierten, die ja offenbar über kurz oder lang durch diese Nivellierungstendenzen ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen werden mußte, nämlich an die Krone. Der Gegensatz, autoritärmonarchisches Prinzip auf der einen und parlamentarisch-demokratisches Prinzip auf der anderen Seite, schien sich als eine unüberbrückbare Kluft aufzutun.

Aber nicht nur innerhalb der sozialen Schichten machte sich dieser Riß bemerkbar. Nein, er ging mitten durch die Nationalitäten der Monarchie. Der Nationalismus im alten Oesterreich war ja in vielem nichts anderes als eine Uebertragung dieser Ideen von Freiheit und Gleichheit aus der Sphäre des menschlichen Individuums in die der Volkseinheit, des Volksindividuums. Es hieße den Nationalitätenstreit innerhalb der Habsburgermonarchie verniedlichen, wollte man ihn etwa im Streit um den Nachtwächter von Leitomischel symbolisiert sehen. Er war auch mehr als ein Hader um die berühmte „Innere Amtssprache" und was es dergleichen Kampfobjekte mehr gab. Er war weitgehend auch ein sozialer Kampf im obigen Sinne. Man lese nur die tschechischen oder ruthenischen Argumente zur Nationalitätenfrage nach, und man wird eine starke Aehnlichkeit mit den Gleichheitsbestrebungen der Volksbewegungen feststellen können. Und ebenso wie Adel und Bürgertum, so verwiesen zum Beispiel die Deutschen und Polen auf ihr kulturelles Niveau und zeigten dementsprechend keine Lust, sich der „Brutalität der Ziffer" zu beugen.

Hier einen Ausgleich herbeizuführen, war Beck berufen und wie kaum jemand auch geeignet.

Von der unabwendbaren Notwendigkeit der Demokratisierung des öffentlichen Lebens voll überzeugt, bekannte er sich dennoch zum monarchischen Prinzip. Die Dynastie war ihm nicht etwa nur eine zufällige, künstlich aufgepfropfte Spitze, sondern ein integrierender Bestandteil des Reiches, das aus dem Zusammenwirken der Habsburger und der Völker erwachsen war. In der Verbindung beider schien ihm das Heil zu liegen. Nicht in der starren Verteidigung des monarchischen gegenüber dem demokratischen Gedanken, wie es die Konservativen verlangten, und nicht in der Auslieferung der Krone an den Volkswillen, wie die Sozialdemokraten es begehrten, sondern in der Versöhnung der beiden Prinzipien ube er die Lösung. Als ein Demokrat um der Monarchie willen betrat er die politische Arena, um hier als erste Tat die vom Kaiser gewünschte Wahlreform und damit die Umwandlung des Kurienparlarpents in eine wirkliche Volksvertretung durchzuführen. Es war nicht einfach, die Gegensätze zu überwinden, aber Beck war ein Meister der Verhandlung, ein Vollblutpolitiker im besten Sinne des Wortes. Opposition schreckte ihn nicht. ,,Opposition gehört zum Parlament wie der Schatten zum Licht", schrieb er einmal, „und Regieren ist eine Kunst, kein Handwerk, deren Jünger verstehen müssen, gegen die Opposition auf zukommen wie der Seefahrer gegen widrigen Wind." Allerdings, mit der Wahlreform, die sowohl ein soziales wie ein nationales Kompromiß ersten Ranges darstellte — man sieht die vorhin angedeutete Einheit der Probleme —, war es allein nicht getan. Das wird heute vielfach übersehen, und die Wahlreform in nationaler Hinsicht als ein Fehlschlag bezeichnet. Das Leben der Völker spielte sich aber nicht nur im Wiener Parlament ab. Sollte der sozial-nationale Ausgleich wirk-

Kch gelingen, so mußte neben die Verfassungsreform als ihre notwendige Ergänzung auch eine Verwaltungsref orm treten, und zwar im Sinne einer Demokratisierung und Autonomisierung der einzelnen Länderverwaltungen. Der Plan dazu war fertig, und Kaiser Franz Joseph, dem man so gerne eine starre Ablehnung jeglicher Reformpläne nachsagt, hatte ohne Zögern seine Zustimmung gegeben. Bei der Durchführung dieses zweiten Reformteiles, der notwendig die Lösung der nationalen Frage mit in sich eingeschlossen hätte, ist Max Vladimier Beck gescheitert: am mangelnden Vertrauen der Konservativen, im Stich gelassen von den Volksbewegungen.

Damit aber war der kostbare Augenblick, von dem -wir eingangs sprachen, versäumt. Man hat es wohl versucht, den Beckschen Kurs ohne ihn weiterzuverfolgen, es ist aber niemandem mehr so recht gelungen. Führerlos und zu wenig unterstützt, verfiel das Parlament nur zu schnell wn'eder in seine alten Krämpfe, bis man es bei Kriegsausbruch als unbrauchbar in den Winkel stellte. Kein Wunder, daß es versagte, als man sich 1917 vor der drohenden Kata strophe seiner auf einmal besann. Die Verwaltungsform aber, die Beck, wenn überhaupt einer, im Jahre 1908 den Tschechen vielleicht noch hätte abringen können, sie löste zehn Jahre später, als sie im Verordnungswege von der Regierung erlassen wurde, nur noch eine Sturzflut von haß- und hohnvollen Verwahrungen aus. Die Zeit w7ar abgelaufen, es war zu spät!

Becks persönliches Schicksal aber war das des Mannes zwischen den Fronten. Denn so ist es in der Politik zumeist und erweist sich immer wieder von neuem: der goldene Mittelweg, die via media aurea, die Beck verfolgte, verläuft im Niemandsland. Eine traurige Erfahrung, die aber trotzdem Beck an der Richtigkeit seiner Grundsätze bis zu seinem Tode im Jahre 1943 nicht hatte irre werden lassen. Vielleicht hat er denjenigen, denen vielleicht im Drange der Ereignisse die Geduld ausgehen mag und die sich dadurch verleiten lassen, mit Radikalmitteln die Völker zu „führen", ins Stammbuch geschrieben: „Die Ultima ratio stellt sich um so rascher ein, je weniger andere ratio zur Anwendung gelangt."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung