Geschichten der Vertreibung

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Dieser Tage jährt sich der Brünner Todesmarsch zum 70. Mal. Der Film "Nemci ven! - Deutsche raus" dokumentiert Erinnerungen und Sichtweisen von beiden Seiten.

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Dieser Tage jährt sich der Brünner Todesmarsch zum 70. Mal. Der Film "Nemci ven! - Deutsche raus" dokumentiert Erinnerungen und Sichtweisen von beiden Seiten.

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Das Kriegsende 1945 war bekanntlich nicht das Ende von Gewalt und Unmenschlichkeit. Für die deutschen Bewohner außerhalb Deutschlands östlich der Oder-Neiße-Linie bzw. Österreichs begann die Zeit der Vertreibungen, die die Landkarte jedenfalls des östlichen Mitteleuropa nachhaltig verändern sollte. Einzelne, brutale Ereignisse sind dem Gedächtnis nicht entschwunden -und bilden bis heute eine Wunde der Geschichte.

Der Brünner Todesmarsch ist solch ein Fanal: Ab dem 30. Mai 1945, wurde die Hälfte der deutschsprachigen Bevölkerung der mährischen Hauptstadt Brünn, oft Frauen, alte Menschen, Kinder, ohne Hab und Gut (oder nur mit dem, was sie tragen konnten) die 50 Kilometer nach Österreich getrieben. Mehr als 20.000 deutschsprachige Mährer wurden so "ausgesiedelt", Tausende kamen bei den Gewalttätigkeiten um.

Ermutigende Zeichen aus Brünn

Obwohl das Thema der Vertreibungen in der Tschechischen Republik längst nicht "aufgearbeitet" ist, gibt es ermutigende Zeichen: Erst vor wenigen Tagen beschloss der Stadtrat von Brünn eine bemerkenswerte Deklaration: "Brünn bedauert aufrichtig die Geschehnisse des 30. Mai 1945 und der darauf folgenden Tage, in welchen Tausende Menschen wegen der Verwirklichung des Prinzips der Kollektivschuld oder der gebrauchten Sprache gezwungen wurden die Stadt zu verlassen. Wir sind uns dessen bewusst, welche menschlichen Tragödien sowie kulturelle und gesellschaftliche Verluste es damals zur Folge hatte " Mit diesen Worten beginnt die von Bürgermeister Petr Vokrál von der liberalen Partei ANO initiierte Erklärung. Am 30. Mai, dem 70. Jahrestag des Todesmarsches wird ein "Marsch des Lebens" von der österreichischen Grenze zurück nach Brünn führen.

Am kommenden Wochenende läuft in den Kinos auch der Dokumentarfilm "Nemci ven! - Deutsche raus" von Simon Wieland und Andreas Kuba in den heimischen Kinos an, der sich mit dem Brünner Todesmarsch auseinandersetzt. Dieser Film ist ein bestechendes Beispiel dafür, wie man an geschichtliche Erinnerung, die noch immer viele Wunden hervorruft, herangehen kann. Wie schon in ihrem gleichfalls eindrücklichen Film "Heil Hitler! Die Russen kommen"(2010) über das Kriegsende im Weinviertel setzen die Filmemacher auch hier auf Oral History -mit ganz wenigen Sequenzen aus alten Wochenschauaufnahmen.

"Nemci ven! - Deutsche raus" begleitet gebürtige Südmährer in ihre einstige Heimat und lässt sie erzählen, wie sie die schrecklichen Tage 1945 erlebt haben. Aber auch Menschen, die die Jahre in Brünn geblieben sind, sozusagen die "Gegenseite", kommen zu Wort, darunter einer, der als Polizist bei den Vertreibungen dabei war.

Hassgefühle und abgeklärte Erinnerung

Die Erinnerungen aus dem Mund der Betroffenen machen den Nachgeborenen fassungslos, etwa die Schilderungen von "Watschengassen", wo die Deutschsprachigen sich im Wortsinn von den Tschechen "Watschen" holen mussten. Oder dass die Deutschen eine weiße Binde mit dem Buchstaben "N" tragen mussten -und wie kurz zuvor den Juden mit dem Gelben Stern nun am eigenen Leib Misshandlungen erfahren mussten. Gar nicht zu reden von der Erzählungen über Vergewaltigungen, Demütigungen und dem tausendfachen Tod, der die gen Österreich Getriebenen begleitete. Dazu offenbaren die mittlerweile sehr betagten Zeitzeugen ihre heutigen Empfindungen in ihre damaligen Heimat. Unterschiedliches ist da zu hören -von immer noch Hass-Empfinden bis zu abgeklärter Erinnerung und der Hoffnung, irgendwann möge man in Tschechien sich zu dem zugefügten Leid bekennen.

Die Filmemacher sind dennoch keineswegs in der Gefahr, nur die eine Seite zu zeigen. Denn die Vertreibungen haben in der Okkupation Böhmens und Mährens durch die Nazis eine Vorgeschichte -auch daran erinnern sich die befragten Vertriebenen wie Tschechen. Es beklemmt, wie schnell sich die Argumentationen von Tätern und Opfern gleichen. Auch die Tatsache, dass aus Tätern über Nacht Opfer wurden -und umgekehrt, ist mit Händen zu greifen.

Die Schilderung einer Vertriebenen, wie das war im 1939er-Jahr, dass sie nichts gewusst habe , spricht ebenso für sich wie die Aussage des damaligen Polizisten, es sei gerecht gewesen, die Deutschen zu vertreiben, und der bestreitet, dass es besondere Gewalt von Tschechen gegen die Deutschen gegeben habe. Und dann das Statement der alten Brünnerin, viele, die im Mai 1945 so "mutig" die Deutschen misshandelt und vertrieben hätten, hätten noch wenige Wochen zuvor in den Rüstungsbetrieben für die Wehrmacht gearbeitet -ohne Widerstand zu leisten

Alles andere als irgendeine Seite verklärend sind diese Erzählungen -die Erkenntnis, dass diesen Zeiten Gut und Böse oft kaum zuordenbar war -auch wenn die Narrative seither anderes versuchen. Ein Vertriebener merkt auch bitter an, dass die vertriebenen Südmährer in Österreich mitnichten willkommen waren und sich auch hierzulande vom Status der Menschen zweiter Klasse hocharbeiten mussten.

"Nemci ven! Deutsche raus": Ein notwendiger Film und ein wirkliches Zeitzeugnis.

Nemci ven! Deutsche raus A 2015. Regie: Simon Wieland in Zusammenarbeit mit Andreas Kuba. Thimfilm. 90 Min.

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