Gesellschaft im Kriegszustand

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Eine dramatische Stunde in einem Supermarkt: Minute für Minute erzählt.

Um mit einer Schadensmeldung zu beginnen: Olga Flors "Kollateralschaden" fehlt auf der "Shortlist" des Deutschen Buchpreises - eine Kritikerin und sechs Kritiker aus Deutschland haben sich auf sechs Bücher deutscher Provenienz geeinigt. Doch dass Flors neuer Roman in der "Longlist" aufschien, dürfte der Grazerin im Nachbarland wohl endlich jene Aufmerksamkeit verschaffen, die ihr spätestens seit ihrer Familiengeschichte "Talschluss" (2006) gebührt.

Fatale Fehlinterpretation

In "Kollateralschaden" befinden wir uns in einem Supermarkt, es ist 16 Uhr 30, und die Dinge nehmen ihren Lauf - am Schluss, genau eine Stunde später, in einem ganz wörtlichen Sinn, denn ein Bursch hat einen Hürdenlauf über die Regale geplant, einen "Sturmlauf durch den Überfluß", der ihm missglückt und von den anwesenden Vertretern des Law-and-Order-Gedankens auf fatale Weise fehlinterpretiert wird. Olga Flor spult das Geschehen exakt Minute für Minute ab, und wir sehen es widergespiegelt in den Köpfen der Protagonisten, deren Einzelstimmen sich mählich zum Chor formen. Die arbeitslose Sprachheilpädagogin, der arbeitsscheue Lehrling, der pensionierte Beamte, die rechtspopulistische Politikerin, der Journalist mit dem Karriereknick, die linienbewusste Jungmanagerin, der Sandler mit Berufsethos - sie alle stehen im Treibsand der Existenz, sie mühen sich um die Aufrechterhaltung einer Ordnung, deren Intaktsein sie sich ständig selbst bestätigen müssen, und sie treiben auf ein Ereignis zu, das ihre Schicksalsfäden dramatisch verknüpft.

Der Supermarkt als der Marktplatz unserer Zeit bietet Flor die Bühne, auf der sie zeigt, wie eine Gesellschaft im Kriegszustand funktioniert - oder eben nicht. Kollateralschäden werden in Kauf genommen. Beschädigt ist auch die Sprache. Flors politische Analyse kommt nicht als Thesenroman daher. Wir sehen den Konsumenten als die Hohlform des Menschen, und uns schaudert. Die Erzählstimme bleibt ganz nahe an den Figuren und klingt zugleich verstörend distanziert, nur bisweilen, etwa beim jugendlichen "Täter", ist die Sympathie unverkennbar.

Es gelingt in der Literatur selten, eine ausgeklügelte Konstruktion so mit Leben zu füllen, dass der Leser auf sie vergisst: Hier ist das Kunststück gelungen.

Kollateralschaden

Roman von Olga Flor

Zsolnay 2008. 206 S., geb., e 18,40

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