Gesellschaftskritik im Operettenkleid

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100 Jahre "Lustige Witwe" - Reflexionen zu den bevorstehenden Inszenierungen in der Wiener Volksoper und in Mörbisch.

Ist die Operette, wie Karl Kraus sarkastisch formuliert hat, nur eine ernsthafte Sinnlosigkeit auf der Bühne oder, um Hermann Broch zu zitieren, ein zur puren Idiotie verflachter Abklatsch der komischen Oper, ein VakuumProdukt? Seit John Eliot Gardiner Franz Lehárs Lustige Witwe mit den Wiener Philharmonikern eingespielt und Nikolaus Harnoncourt sich mit der Fledermaus und dem Zigeunerbaron von Johann Strauß auseinander gesetzt hat, wird über die Qualität mancher Produkte dieser "leichten Muse" und über deren künstlerische Umsetzung wieder offen diskutiert. Die im allgemeinen schon Monate vor Beginn restlos ausverkauften Mörbischer Seefestspiele sind sicher ein Indiz dafür, dass sich für gute Produktionen auch ein großes Publikum begeistern lässt.

Als die Lustige Witwe am 30. Dezember 1905 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde, ahnte noch niemand, dass sie über 500 Ensuite-Vorstellungen erleben würde. 1910 war sie bereits in zehn Sprachen übersetzt und hatte 18.000 Aufführungen hinter sich. Abgesehen davon, dass Unterhaltung in den Städten der Moderne, wie bereits Walter Benjamin festgestellt hat, eine sozialtherapeutische Funktion gegenüber den Verunsicherungen und Identitätskrisen hatte, die sich den immer rascheren wirtschaftlichen und sozial-politischen Veränderungen verdankten, lässt darüber hinaus die große Akzeptanz der Lustigen Witwe auch darauf schließen, dass sie musikalisch und inhaltlich Botschaften zu vermitteln wusste, die die Zuschauer verstanden, mit denen sie sich zu identifizieren vermochten. Es gilt daher, sich dieser Lehár-Operette nicht so sehr von einem musikalisch-ästhetischen als vielmehr von einem sozialen beziehungsweise kulturellen Gesichtspunkt aus anzunähern, nicht nur um die Relevanz, die ihr einstmals zukam, besser zu verstehen, sondern um auch ihre zeitübergreifenden Aktualitätsbezüge zu erkennen. Jede Neueinstudierung wird ohne die Berücksichtigung dieser zwei Faktoren vermutlich wenig Erfolg haben.

Politik aufs Korn genommen

Kritik an realen sozial-politischen Zuständen ist nicht nur ein charakteristisches Merkmal der Offenbach-Operetten, sie ist auch zahlreichen Wiener Operetten eingeschrieben, jedoch verschleiert, domestiziert, ins HeiterHumorvolle verfremdet. In der Lustigen Witwe wird Politik ganz allgemein, pauschal, aufs Korn genommen und ironisiert. Fast ist es Politikverdrossenheit, wenn die reiche Witwe Hanna Glawari ausruft: Verhasst ist mir Politik. Verdirbt sie beim Mann den Charakter, so raubt sie uns Frauen den Schick. Was heißt das konkret?

1905 wurde das im folgenden Jahr eingeführte allgemeine Wahlrecht heftig diskutiert. Viele Bürgerliche, die allabendlich die Theater füllten, standen diesem, und vor allem dem Frauenwahlrecht, das erst nach dem Ersten Weltkrieg zur Geltung kam, also letztlich der Ausweitung von demokratischen Prinzipien, skeptisch gegenüber: Es kämpfen die Damen schon lange, heißt es demnach in der Lustigen Witwe, um das nämliche Recht mit dem Mann. Jetzt haben Madam' hier das Wahlrecht, und fangen damit gar nichts an.

Der Schauplatz der Handlung ist bekanntlich die pontevedrinische Botschaft in Paris. Um der Zensur zu entgehen, war in Zeitungsberichten unter dem fiktiven Pontevedro ein nicht näher zu bezeichnendes Balkanland angesprochen, in dem große politische Misswirtschaft bestand. Hier, in der Operette, wird die Verspottung der heillosen politischen Unordnung in Pontevedro in eine sarkastische Kritik an den Missständen der Wiener Politik umgemünzt. Die Verspottung von Vaterlandsliebe in der berühmten Arie des Danilo (O Vaterland du machst bei Tag, mir schon genügend Müh' und Plag) zielt auf den von den k.u.k. Untertanen eingeforderten Staatspatriotismus und, indirekt, auf die nationalistischen Attitüden der Zeit.

Die Lustige Witwe setzt sich also, zwar indirekt und ironisch, mit aktuellen tagespolitischen Fragen auseinander und verwendet dabei gängige politische Schlagwörter. So ist vom Zweibund, vom Dreibund, vom europäischen Gleichgewicht oder von einer Politik der off'nen Türen die Rede. Freilich werden diese hier auf die "bürgerliche" Ehe bezogen, was ihnen eine unerwartete, doppelbödige, witzige Note verleiht: Die Ehe sollte zwar ein Zweibund sein, doch bald stellt sich ein Dreibund ein, der zählt oft nur nach schwachen Stunden! Vom europäischen Gleichgewicht ... von dem ist bald nichts mehr zu spüren. Der Grund liegt meistens nur darin: Es gibt Madame zu sehr sich hin, der Politik der off'nen Türen.

Ehe als Bild für Politik

Manche Operetten-Librettisten gehörten dem engeren Kreis der Wiener literarischen Moderne, dem "Griensteidlkreis" an, so auch Victor Léon, der mit Leo Stein das Textbuch der Lustigen Witwe verfasste, ein wirklich Nervöser, wie Karl Kraus in der "Demolirten Literatur" sarkastisch vermerkte. Um Erfolg zu haben und Geld zu verdienen, musste sich Léon nach dem Geschmack seines Publikums richten. Es ist daher symptomatisch, dass gerade jene Operetten einen überdurchschnittlich großen Erfolg hatten, die auch Inhalte der Moderne zu vermitteln wussten, so wie zum Beispiel die Lustige Witwe. Die zwei Paare Hanna-Danilo und Valencienne-Camille verkörpern in der Tat den Gegensatz von moderner Ungebundenheit und bürgerlicher Beschränktheit, von Antinormativität und traditionsverbundener Rückständigkeit.

Die antikapitalistische Attitüde des modernen Paares entsprach der Einstellung der jungen Generation um 1900: Man lehnte sowohl die Wertschätzung des Kapitals ab, die der bourgeoisen Vätergeneration zueigen war, als auch die neue Einstellung zu Geld, die Kultur und Kunst zu käuflichen Waren degradierte. Die Botschaft, dass nicht das Geld den Wert eines Menschen bestimme, sondern dessen Persönlichkeit, dessen individuelle Eigenschaften, ist eine der zentralen Aussagen, die die Lustige Witwe übermittelt. Dem entspricht die ironische Kapitalismuskritik der Witwe: Die Herrn sind liebenswürdig sehr, gilt das meiner Person? Ich fürchte, dies gilt mehr meiner vielfachen Million ... Erst wenn wir armen Witwen reich sind, ja, dann erst haben wir doppelten Wert! In unserem Gelde liegt unser Wert, so hab' ich's immer gehört!

Die moderne Antinormativität äußert sich in der Ablehnung von institutionalisierten sozialen Wert-vorstellungen. So bezeichnet Danilo die Ehe als einen Standpunkt, der längst überwunden, er plädiert daher dafür: verlieb' dich oft, verlob' dich selten, heirate nie, Hanna pflichtet ihm bei, indem sie sich offen zur Pariser Art ... wo jeder seine Wege geht bekennt. Im Gegensatz zur Antinormativität des modernen ist die Einstellung des "bürgerlichen" Paares. Valencienne ist zwar verheiratet, fühlt sich aber, weil sie ihr Verhältnis geheim hält, in der Öffentlichkeit als eine anständ'ge Frau. Der verliebte Verführer Camille umwirbt sie immer wieder und gemeinsam preisen sie das Ideal einer beschaulichen, typisch "bürgerlichen" Zweisamkeit in der idyllischen Abgeschiedenheit des eigenen Heims, das sich der Welt, dort, wo das Leben lärmend braust, entzieht. Die musikalische Untermalung des ersten Teils dieses Duetts ist ein Twostepp (Allegretto), ein moderner Tanz also, der im Gegensatz zum langsamen, schwülstigen Grundton des zweiten Teils die Brüchigkeit dieser Situation auch musikalisch hervorragend zu ironisieren versteht.

Die Vielsprachigkeit Wiens

Die Wiener Operette entstand in einem konkreten sozial-kulturellen Milieu, das von einer dichten ethnisch-kulturellen Heterogenität geprägt war. Um 1900 war nicht einmal die Hälfte der Bewohner Wiens in Wien geboren. Diese "Vielsprachigkeit" Wiens im wörtlichen und übertragenen Sinne war nicht nur die Ursache zahlreicher Krisen und Konflikte, sie war auch ein Stimulans für kulturelle Kreativität.

Der aus Ungarn zugewanderte Franz Lehár, der als Militärkapellmeister die ganze Monarchie bereist und die folkloren musikalischen Elemente der Gesamtregion kennen gelernt hatte, verstand es, diese unterschiedlichen musikalischen Vorgaben zu nutzen, in seinen Werken, wie in der Lustigen Witwe, miteinander zu verschränken (z. B. Mazurka mit Walzer im Entrée-Lied der Hanna, Marsch, ungarische Pentatonik) und mit internationalem, kosmopolitischen Flair (z. B. Cancan, Twostepp) anzureichern. Theodor W. Adorno hat darauf hingewiesen, dass Ähnliches auch für Mahler und die Vertreter der Zweiten Wiener Schule charakteristisch wäre. Der überwältigende Erfolg der Lustigen Witwe verdankt sich sicher nicht zuletzt dieser "hybriden" musikalischen Sprache, die die Situation eines konkreten, vermischten urbanen Milieus widerspiegelt. Könnte man darin nicht schon die Antizipation einer Situation erkennen, in der wir uns heute befinden, die sich freilich nicht mehr vornehmlich regionalen, sondern zunehmend globalen kulturellen Vernetzungen verdankt?

Der Autor leitet die Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und veröffentlichte u. a. den kulturgeschichtlichen Essay "Ideologie der Operette und Wiener Moderne".

"Hier, in der Operette, wird die Verspottung der heillosen politischen Unordnung in Pontevedro in eine sarkastische Kritik an den Missständen der Wiener Politik umgemünzt."

moritz csáky

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