"Gespräche jenseits des Small Talks"

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Philosophische Praxis als neues Beratungsangebot: "Berufspionier" Leo Zehender über die Sinnsuche in einer brüchigen Welt.

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Philosophische Praxis als neues Beratungsangebot: "Berufspionier" Leo Zehender über die Sinnsuche in einer brüchigen Welt.

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An der Universität Wien gibt es seit diesem Studienjahr erstmals einen Lehrgang zur Philosophischen Praxis. Leo Zehender zählt zur bislang kleinen Gruppe jener Philosophen, die bereits in freier Praxis tätig sind. Die FURCHE sprach mit ihm über den Versuch, Philosophie ins Leben zu bringen.

DIE FURCHE: Gibt es häufige oder charakteristische Fragen, mit denen Sie als Philosophischer Praktiker von Rat-suchenden Menschen konfrontiert werden?

Leo Zehender: Wir haben nicht diese "typischen" Problemfelder, die unsere Besucher belasten. Eher erhalte ich eine kompensatorischen Funktion, etwa wenn der Partner aus beruflichen, zeitlichen oder intellektuellen Gründen nicht als Gesprächspartner zur Verfügung stehen kann oder ein derartiger Partner überhaupt fehlt, um über persönlich wichtige Themen zu sprechen. Das können zum Beispiel neue Interessen, die Krankheit eines Freundes oder der Schulabbruch eines Enkelkindes sein. Und oft ist es auch nur die Freude am Gespräch jenseits des alltäglichen Small Talks.

DIE FURCHE: Warum gehen diese Menschen ausgerechnet zum Philosophischen Praktiker und nicht zu einem der vielen anderen Beratungsangebote wie Psychotherapie, Lebensberatung, Coaching oder Mediation?

Zehender: Am Beginn eines Gesprächs oder sogar einer Gesprächsserie finden sich oft keine klar ausformulierten Fragen. Oder es gibt nur "scheinbar" ganz konkrete Anliegen und erst nach mehreren Gesprächen, wenn die erforderliche Vertrauensbasis hergestellt ist, wird langsam klar, worum es wirklich geht. Tatsächlich ist es aber auch so, dass viele schon Erfahrungen mit anderen Beratungsangeboten gewonnen haben und auf Grund dessen, was ihnen hierbei gefehlt hat, dann zu mir kommen. So ist es mir wiederholt passiert, dass ich ganz bewusst ausgewählt wurde, weil meiner Homepage zu entnehmen ist, dass ich "nur" Philosophischer Praktiker bin und nicht zugleich auch als Psychotherapeut, Coach, Lebens- oder Sozialberater arbeite.

DIE FURCHE: Wo sehen Sie die Chancen, aber auch Probleme dieses neuen Berufsfelds?

Zehender: Das Potenzial der Philosophischen Praxis liegt wohl darin, dass sie punkto Methodik in keiner Weise gebunden ist. Viele Kollegen - auch ich - orientieren sich am Sokratischen Gespräch. Es gibt aber keine "Meta-Theorie" dieser Praxis. Ich versuche als Philosoph "mitzudenken" und zu diesem Zweck muss ich mich zunächst einmal vorbehaltlos in die Gefühls-und Gedankenwelt meines Gesprächspartners "hineinziehen" lassen. "Der natürliche Ort der Wahrheitssuche ist ja das Miteinander-Reden der Menschen", wie es der deutsche Philosoph Thomas Gutknecht so treffend auf den Punkt bringt. Diese methodologische "Unbestimmtheit" bringt natürlich eine Fülle von Problemen und Herausforderungen mit sich. So können sich etwa am Beratungsmarkt keine stimmigen "Erwartungshaltungen" bezüglich der Philosophischen Praxis entwickeln. Andererseits liegt in dieser "Offenheit" auch ihre große Chance. Die Philosophie ist nun einmal keine paradigmatische Disziplin.

DIE FURCHE: Populärwissenschaftliche Philosophie-Bücher erleben derzeit einen Boom: Es scheint tatsächlich ein wachsendes Bedürfnis nach philosophischem Reflexionswissen zu geben. Worin sehen Sie die Ursachen?

Zehender: Die Philosophie ist wohl immer eine "Krisengewinnerin" gewesen, das zeigt sich schon am Beginn der abendländischen Philosophiegeschichte. Auch heute leben wir wieder in einer echten Umbruchsphase. Die Konjunktur, die das philosophische Denken zuletzt zu verzeichnen hatte, ist Ausdruck des radikalen Wandels, in dem sich unsere Gesellschaft seit geraumer Zeit befindet -man denke an die Tendenzen zur Singularisierung, die es in nahezu allen Altersgruppen gibt, oder an die erhöhte Flexibilität, was den Arbeitsmarkt betrifft. Ein massenhaft zu verzeichnendes "Sinnerfahrungsvakuum" führt heute zu Identitätsproblemen jedweder Art. Persönliche Orientierung und nachhaltige "Identitätsbildung" setzen stets kommunikative Prozesse voraus, die zunehmend weniger realisiert werden können oder, um mit Heidegger zu sprechen, durch bloßes "Gerede" ersetzt werden.

DIE FURCHE: Gerade die Frage nach dem Sinn und nach dem Glück sind heute boomende Themen des Buchmarkts geworden. Was hat für Sie oberste Priorität, Sinn oder Glück?

Zehender: "Sinn" und "Glück" würde ich gar nicht trennen. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Ein Mensch, der sein Leben als vollkommen sinnlos empfindet, kann nicht glücklich sein. Umgekehrt mag sich das anders ausnehmen. Es gibt Menschen, die fürchterliche Schicksalsschläge erleiden und daran nicht verzweifeln, sondern daraus sogar innere Kraft schöpfen und diesen dann auch einen Sinn beimessen können. So etwas ist natürlich zu bewundern.

DIE FURCHE: Wie kann uns denn die Philosophie heute dazu verhelfen, ein "besseres Leben" zu führen?

Zehender: In einer Gesellschaft, in der jeder seines "Glückes Schmied" zu sein scheint, in der permanent Entscheidungen mit weitreichenden beruflichen oder privaten Konsequenzen zu treffen sind, wird philosophisches Reflexionswissen unverzichtbar. Für das Individuum stellt es einen Schutz in einer zunehmend unüberschaubaren Welt dar. Die Philosophie kann heute für viele eine Art Lebensbegleiterin werden. Schließlich werden wir ja "durch die Größe der Welt, die die Philosophie betrachtet, selber zu etwas Größerem gemacht", wie es Bertrand Russell so treffend formulierte. Darin liegt wohl im Kern auch der "Gebrauchswert" des philosophischen Wissens.

Philosophie als Beruf - oder Philosoph(in) sein aus Berufung?

Zum Berufsfeld der Philosophischen Praxis.

Von Leo Zehender. Facultas-Verlag 2014.

214 Seiten, brosch., € 22,90

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