Getäuscht, gefangen vom eigenen Gehirn?

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Der US-amerikanische Autor Edgar Lawrence Doctorow starb am 21. Juli in New York. Am 17. August erscheint sein letzter Roman in deutscher Übersetzung. Darin führt der Schriftsteller in den Kopf eines Neurowissenschafters, der nach Erlösung sucht.

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Der US-amerikanische Autor Edgar Lawrence Doctorow starb am 21. Juli in New York. Am 17. August erscheint sein letzter Roman in deutscher Übersetzung. Darin führt der Schriftsteller in den Kopf eines Neurowissenschafters, der nach Erlösung sucht.

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Über die beiden Collyer-Brüder Homer und Langley, die 1947 umgeben von Tonnen von Zeitungen und Altwaren tot in ihrem New Yorker Haus gefunden wurden, schrieb Edgar Lawrence Doctorow seinen vorletzten Roman ("Homer & Langley", 2009). Ihn interessierte wie meist nicht bloß die historische Geschichte, sondern ihr erzählerisches und metaphorisches Potential. Langley, der meint, alles befände sich im Krieg, versucht sich zu schützen, schließt die Fensterläden und lebt in Dunkelheit. Wie Doctorow diesen paranoiden Pessimismus erzählte, das erinnerte durchaus an jenen der USA nach 9/11.

Weisheit oder Wahnsinn, das floss bei der Darstellung Langleys ineinander: "Wie kannst du ontologisch zwischen draußen und drinnen unterscheiden? Nach dem Kriterium, ob du trocken bleibst, wenn es regnet? Warm bleibst, wenn es kalt ist? Was lässt sich schon philosophisch Bedeutsames darüber sagen, dass man ein Dach über dem Kopf hat? Drinnen ist draußen, und draußen ist drinnen. Nenne es Gottes unentrinnbare Welt."

Unentrinnbar im Kopf

Unentrinnbar in der Welt des Kognitionswissenschaftlers Andrew steckt man als Leser in Doctorows jüngstem Roman, 2014 in den USA erschienen. Ab 17. August ist "In Andrews Kopf" auf Deutsch erhältlich. Andrew, ein "abnorm depressiver neurowissenschaftlicher Tollpatsch", wie er sich selbst bezeichnet, scheint vom Unglück verfolgt. So jedenfalls erzählt er es seinem Gegenüber, das er als "Doc" (wie Doctor oder Doctorow) anspricht, in von Ort und Zeit her unklaren Gesprächssituationen, die manchmal auch Tagebuch oder Telefonanruf sind. Die Grenzen verwischt der Autor, auch die Logik der Chronologie hebt er auf, die Form des (eingebildeten?) Dialogs aber hält er durch.

Andrew passierte so viel in seinem Leben, dass es kaum zu glauben ist - und unglaubwürdig soll es wohl auch sein. Bei einer Schlittenfahrt des Kindes stirbt ein Autofahrer, der ausweichen wollte, der Dackel wird von einem Bussard geholt, das eigene Baby tötet der Erwachsene dann mit dem falschen Medikament, er läuft aus seiner Ehe davon, findet in seiner Studentin Briony die große Liebe, verliert auch diese und übergibt das Baby, das er mit ihr hat, der Exfrau. Mehr geht nicht. So unwahrscheinlich und überzogen ist das alles.

Seltsames Zwiegespräch

Doch spannender als der literaturgespeiste Plot, der am Ende noch irrwitzig gesteigert wird durch Auftritte im Weißen Haus, ist das Setting, diese Psychoanalysesitzung, wenn sie denn eine ist, dieses Zwiegespräch. Wer redet denn da überhaupt mit wem und unter welchen Vorzeichen? Ist das Gegenüber ein von der Regierung bestellter Analytiker? Ist der Raum ein Gefängnis oder das eigene Gehirn? Andrew hat selbst einmal für die Regierung gearbeitet, dubiose Anspielungen wie diese erzeugen Spannung - sie zu einem Thriller auszubauen, ist Doctorows Absicht aber nicht. Ihn interessiert das Gehirn und wozu es imstande ist, nämlich zu täuschen, andere und sich selbst. Dass Andrew schon zu Beginn als Täuscher bezeichnet wird - weil er "nur vortäusche, ein netter Mensch von edler Gesinnung zu sein", dabei sei er ein Betrüger, ein Mörder -, stellt nicht unbedingt Vertrauen her, festigt keine Gewissheiten. "Wir sind alle Täuscher, Doktor, sogar Sie. Besonders Sie." Und über all dem schwebt der Titel des Romans: "In Andrews Kopf."

Doctorows nun wirklich letzter Roman - denn der renommierte Autor von "Ragtime","Billy Bathgate", "City of God" und "Der Marsch" ist am 21. Juli in New York gestorben - wird nicht als sein bester in die amerikanische Literaturgeschichte eingehen. Die Ausführungen zum Thema Gehirnforschung wirken oft banal, stellenweise schwer erträglich sind aber jene Passagen, in denen der Redende von Briony als wahrer Lichtgestalt schwärmt, ständig ihr "reines Wesen" im Mund führt. Selbst wenn man mit der Annahme liest, dass sich hier ein gebrochener Mann seine Wunschgestalt (quasi eine danteske Beatrice) und sein Glück erträumt und erschafft, ist das bald einmal zuviel des Guten, denn es wird kaum durch eine andere Sicht gebrochen. "Für eine Weile hatte die Liebe einen Langweiler aus Ihnen gemacht", sagt denn auch das Gegenüber, das überhaupt oft Leserreaktionen vorwegnehmend redet und fragt.

Strategen im Weißen Haus

Im letzten Drittel gelangt man mit Andrew sogar ins Weiße Haus. Damit beginnt eine Politsatire, die das Zeug für eine eigene Erzählung hätte. In den beiden Strategen Chaingang und Rumbum sind unschwer Cheney and Rumsfeld zu erkennen, und der ebenfalls identifizierbare Präsident entpuppt sich auch als Täuscher.

Am besten ist der Roman dort, wo er mit seiner Bildwucht der amerikanischen Gesellschaft zu Leibe rückt (so kippt ein romantischer Abend am Strand plötzlich zur Erfahrung des Überwachungsstaats), und dort, wo Doctorow poetisch Wunsch-oder Erinnerungsbilder dieses Mannes auf der Suche nach Erlösung beschreibt, etwa ein Farmhaus mit einem Mädchen, das zeichnet, und mit einer kaputten Fliegentür. Die man reparieren könnte, wenn man denn dort wäre.

In Andrews Kopf

Roman von E. L. Doctorow

Übers. von Gertraude Krueger. 208 S., geb., € 19,60

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