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Vor neunzig Jahren begann mit der Machtergreifung Stalins auch eine Architekturepoche, die noch heute viele Städte in den Ländern des ehemaligen Sowjetimperiums prägt.

Obwohl Lenin bei seinem krankheitsbedingten Rückzug aus der Politik am 16. Dezember 1922 vor seinem designierten Nachfolger Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili gewarnt hatte, schlug ebendieser, der ab 1912 als Stalin firmierte, einige Jahre später eine hundert Meter hohe Statue des Staatsgründers vor. Sie sollte den geplanten "Palast der Sowjets“ bekrönen - jenes gewaltige Politik- und Kulturforum von 415 Metern Höhe, das an Stelle der 1932 gesprengten Christus-Erlöser-Kathedrale als neues Zentrum Moskaus, ja der gesamten sozialistischen Welt gedacht war.

Zur Realisierung gelangte jedoch nur das Fundament, denn bei Ausbruch des "Großen Vaterländischen Krieges“ wurde das Projekt stillgelegt - und danach nicht wieder aufgenommen. Die Idee einer städtebaulichen Umgestaltung Moskaus fand dennoch Fortsetzung, basierend auf dem "Generalplan zur Stadterneuerung“ von 1935. Die Motivation für diese auf zehn Jahre ausgelegte nationale Kraftanstrengung bestand zum einen in der Machtdemonstration des stalinistischen Regimes. Zum anderen war eine grundlegende Modernisierung Moskaus, das 1918 nach 200 Jahren wieder Hauptstadt geworden war, in Folge massenhaften Bevölkerungszuzugs dringend erforderlich.

So wurde das Stadtgebiet durch Eingemeindungen mehr als verdoppelt, ein zweiter großzügiger Straßenring angelegt und der Bau des weitläufigen Metro-Netzes in Angriff genommen. Man schuf ausgedehnte Grün- und Erholungsflächen, verbesserte die Wasserversorgung und machte die beiden Flüsse Moskwa und Jauza schiffbar. 200.000 Bauarbeiter - die meisten davon politische Gefangene - wurden für die Umsetzung des Generalplans rekrutiert.

Magistralen quer durch die Altstadt

Weniger technische Notwendigkeiten als die Gigantomanie des Diktators begründeten den brachialen Umgang mit der gewachsenen Struktur Moskaus: Quer durch die Altstadt wurden neue Magistralen geschlagen - und zahlreiche historische Baudenkmäler wichen überdimensionierten Prunkbauten. Nur der Zweite Weltkrieg, im Zuge dessen 1700 sowjetische Städte zerstört wurden, verhinderte paradoxerweise die vollständige Demolierung des alten Moskaus, da die Bauarbeiten ab 1941 eingestellt werden mussten.

1947 wurde beschlossen, Moskau an acht ausgewählten Standorten mit Hochhäusern zu versehen. Denn die Stadt hatte durch den Abriss vieler Kirchen und Kathedralen aber auch infolge der nun allgemein höheren Bebauung nicht nur wichtige Orientierungspunkte, sondern auch ihre einst malerische Silhouette verloren. Die Sowjetmacht, die sich mittlerweile im Wettstreit mit den USA befand, forderte dabei, dass die Hochhäuser keine Kopien ausländischer Wolkenkratzer sein durften, sondern von russischer Architekturtradition geprägt sein mussten.

Größe und Form vor Funktion

Der herausragendste der sieben ab 1949 realisierten Türme war und ist zweifellos der Komplex der Lomonosow-Universität auf den Leninbergen im Südwesten der Stadt. Das mehrgliedrige, 240 Meter hohe Gebäude von Architekt Lew Rudnew wurde zur Dominante des neuen Moskaus. Rudnew hatte jenen "sowjetischen Stil“ kreiert, der heute auch verächtlich als Zuckerbäcker-Architektur bezeichnet wird, und ihn erstmals in den 1930er-Jahren bei einem Regierungsgebäude im kaukasischen Baku angewandt.

Der gebürtige Kaukasier Stalin war derart begeistert von der Monumentalität und dem reichen, plastischen Dekor, dass er Rudnews Architektur zur Maxime für den Ausbau der sowjetischen Großstädte zu modernen Metropolen erhob. So sind auch die sechs anderen Moskauer Hochhäuser - zwei Ministerien, zwei Hotels und zwei Wohnbauten - von jenem wahlweise neogotischen, neo-barocken oder neoklassizistischen Retro-Stil geprägt.

Allgemein dominierten Größe und Form über Zweckmäßigkeit und Funktion: So zeichnet sich die imposante Lomonosow-Universität im Inneren durch immens lange Wege aus. Die neu geschaffenen, überbreiten Moskauer Boulevards blieben jahrzehntelang quasi leer, da ein massenhafter motorisierter Individualverkehr politisch nicht gewollt war. Im Wohnbau wiederum errichtete man relativ großzügige Einfamilienwohnungen mit hohen Räumen, die in der Praxis aber von vier bis fünf Familien belegt wurden. Offenbar sollten die realitätsfremden Bauten vom tristen Alltag ablenken und eine bessere Zukunft verheißen.

Bald wurden die in Moskau erprobten Planungsprinzipien auf die gesamte Sowjetunion übertragen. Bereits in den 1930er-Jahren begann man mit der Gründung zahlreicher Industriestädte wie Donjezk, Kusnjezk, Murmansk oder des Paradebeispiels Magnitogorsk. Nach 1945 standen der Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Städte sowie der Umbau der wichtigsten Zentren des Landes an. Minsk, Nowgorod und Stalingrad, Rostow am Don oder auch Sewastopol wurden nach den Grundsätzen des stalinistischen Urbanismus gestaltet. Die Altstadtbereiche von Leningrad und Kiew erneuerte man ähnlich wie in Moskau durch den Bau einer Metro, die Errichtung repräsentativer Gebäude und die Anlage breiter Straßenzüge.

Stalinistisches Gesamtkunstwerk

Der Gestaltungsdrang der Stalin-Ära beschränkte sich nicht auf Architektur allein: Zeitgenössische Malereien und Mosaike schmückten die palastartigen Stationen der Moskauer Metro. Die stalinistischen Designer entwarfen Möbel ebenso wie Uniformen oder alltägliche Gebrauchsgegenstände - etwa Geschirr, das mit Darstellungen des Sowjetpalasts, von Flugzeugen oder Armeeaufmärschen dekoriert war. Auch die ersten sowjetischen Limousinen der Marke Cajka stammen aus dieser Zeit, sodass man durchaus von einem stalinistischen Gesamtkunstwerk sprechen kann.

Dieser Luxus fand mit dem Tod des Generalissimus und der Offenlegung seiner Schreckensbilanz durch Chruschtschow ein jähes Ende. Schon zu Stalins Lebzeiten gab es viel zu wenig Wohnungen - nun, da Millionen von politischen Opfern aus den Straflagern entlassen wurden, stand das Land vor einer massenhaften Obdachlosigkeit. Chruschtschow wandte sich von jeglicher Baukunst ab und setzte auf die Standardisierung und Industrialisierung des Bauens, um rasch und kostengünstig Versäumtes nachzuholen. Laufende Großprojekte, die er von seinem Vorgänger geerbt hatte, wurden vielfach eingestellt: Die Fundamente des Sowjetpalasts im Zentrum Moskaus etwa dienten fortan als öffentliches Schwimmbad.

Heute steht die stalinistische Architektur durchaus wieder hoch im Kurs. Im Gegensatz zu den uniformen und mangelhaften Plattenbauten der 1960er-, 70er- und 80er-Jahre erfreuen sich die soliden Ziegelbauten der Stalin-Zeit am russischen Immobilienmarkt reger Nachfrage. Von der Geschichte revidiert wurde hingegen das ehrgeizigste Projekt Stalins: Die Fragmente des Palasts der Sowjets ließen die Moskauer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion endgültig abtragen - und die Christus-Erlöser-Kathedrale originalgetreu wieder errichten.

Der Autor ist Raumplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien

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